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Engelbert Humperdinck
"Hänsel und Gretel" an der Oper Frankfurt

Keith Warner macht aus Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" ein fantasievolles Spektakel, fügt zugleich aber dunkle Bilder und Ideen ein. Bevor am Ende die erlösten Kinder fröhlich Geschenke auspacken, führt die Reise von einem tristen Sanatorium über ein märchenhaftes Intermezzo im Wald bis zur Knusperhexe.

Von Jörn Florian Fuchs | 13.10.2014
    Der Komponist (u.a. "Hänsel und Gretel") in einer zeitgenössischen Aufnahme. Engelbert Humperdinck wurde am 1. September 1854 in Siegburg geboren und ist am 27. September 1921 in Neustrelitz gestorben.
    Der Komponist von "Hänsel und Gretel", Engelbert Humperdinck, in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture alliance / dpa)
    Die Antwort auf die immer im Raum stehende Frage lautet: Ja, man kann sie mitnehmen. Und man soll es auch. Obwohl man den lieben Kleinen sicher einiges erklären muss. Und wenn die Racker gar zu jung sind, werden sicher mehrere nächtliche Alptraumvertreibungssitzungen nötig. Keith Warner macht aus Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" einerseits ein fantasievolles Spektakel, fügt aber zugleich dunkle Bilder und Ideen ein. Bevor am Ende die erlösten Kinder fröhlich Geschenke auspacken und vor einem riesigen Weihnachtsbaum singen, führt die Reise von einem tristen Sanatorium über ein wahrhaft märchenhaftes Intermezzo im Wald bis zur Knusperhexe, die in einem dreistöckigen, durchaus geschmackvollen Häuschen haust und sich ständig umzieht. Peter Marshs Performance ist szenisch und vokal virtuos, erst trägt er schwarzen Lack, dann Omas abgelegtes Sonntagsdress, dann wieder ein Glitzerding. Die Travestie korrespondiert mit dem schrägen Gesang zwischen grimmiger Boshaftigkeit und kakophonem Falsett.
    Verrückt aufs Lesen
    Die Hexe ist bereits zu Beginn anwesend und beobachtet die jungen Patienten, während diese hübsch frisiert vor einem Kasperltheater sitzen, um sich die bald folgende Geschichte schon mal anzusehen. Die "Eltern" der Geschwister sind eine strenge Nonne sowie ein freundlich besorgter Hausmeister und Arzt. Hänsel und Gretel dürften in schon vorgerückter Pubertät sein, was man an ihren teils sehr derben Neckereien merkt. Im mit braunem Holz ausgeschlagenen Schlafsaal vegetieren mehrere junge Menschen dahin, aus zwei Milchglasfenstern schimmert schummriges Licht. Vermutlich nicht allein weil die Premiere am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse stattfindet, sind alle ganz verrückt aufs Lesen, ihre intensive Lektüre führt die Geschwister bald hinaus aus der schnöden Realität mitten hinein ins Märchen. Sie begegnen Tieren, einem gewissen Nussknacker, E.T.A. Hoffmanns Puppe Olympia schaut vorbei, ebenso Richard Wagner mit einem Rudel Kinder-Walküren. Dieser Auftritt ist natürlich eine Anspielung auf Humperdincks Beziehung zum Bayreuther Meister, er schätzte ihn über die Maßen und das hört man seiner Partitur auch reichlich an. Sebastian Weigle gelingt am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters eine weitgehend emphatische Interpretation, kleinere technische Mängel, etwa bei den tiefen Bläsern, stören den Frieden ein bisschen.
    Anspruchsvolles Durcheinanderwirbeln der Erzählebenen
    Mit großem bühnentechnischen Aufwand rumpelt das Hexenhaus herein, wobei sich hier mehrere Ebenen vermischen. Die Hexe ist einerseits irreal überzeichnet, andererseits könnte es sich um einen sehr realen Päderasten handeln. Zum Glück lässt Warner da manches im Dunkeln, umkreist solche Dinge eher vorsichtig. Klar ist in jedem Fall, dass sich kranke Kinder eine Traumwelt imaginieren, die letztlich - fast - zur erlösenden Realität wird. Fast, weil nach all dem Jubel und Trubel die Knusperhexe plötzlich wieder lebendig ist und uns allen per Spruchband erklärt, dass es sich hier nur um ein Märchen handelt. Durchaus anspruchsvoll, wie Warner die Erzählebenen durcheinander wirbelt.
    Nicht durchgehend märchenhaft waren die sängerischen Leistungen, Alejandro Marco-Buhrmester blieb als Geschwisterpapa Peter etwas blass, eine Wucht dagegen seine Gattin Gertrud - von Heidi Melton mit voluminöser Dramatik ausgestattet. Katharina Magieras Hänsel überzeugte durch frischen Schönklang, während Louise Alders Gretel vor allem grob und laut tönte. In den großen Jubel für Sänger und Orchester mischten sich ein paar heftige, ungerechtfertigte Buhs, die der Regie galten.