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England’s Dreaming - Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock

Der stolze Kriegsgewinnler Winston Churchill, der in seinem Armeemantel so massig wie die Klippen von Dover wirkt, wurde mit einer von der Stirn bis in den Nacken reichenden Irokesenfrisur, bestehend aus feinstem englischen Rasen vom Parliament Square, gekrönt. Das ist kein geschmackvoller Haarschnitt, sondern Punk: ein blassgrüner Farbtupfer auf dem Kanonenmetall der Skulptur.

Martina Groß | 07.09.2001
    Jon Savage im Vorwort zur englischen Neuauflage seines Buches England’s Dreaming. Als Punk vor 25 Jahren das Ende der britischen Nachkriegsepoche einleitete, war Jon Savage mit dabei. Abgesehen von kurzen Tagebuchauszügen, hat er vor aber allem Zeitzeugen - Beteiligte befragt und daraus eine spannend zu lesende Geschichte gestrickt. Er führt alle historischen, politisch-sozialen und kulturellen Stränge - die Mitte der 70er Jahre in England den Boden für Punk bereiteten - zusammen. Entstanden ist eine Sozialgeschichte des Punk als Avantgardebewegung.

    Die politische und soziale Ordnung schien auseinanderzubrechen, und nichts symbolisierte dies besser als Punk, der jetzt auf den Straßen der großen urbanen Zentren sichtbar wurde. In einer Mischung aus Beschwörung und existentieller Wahrheit schlich sich Punk in die nationale Psyche und brachte das wahre Gesicht Englands zum Vorschein.

    There is no future in England’s Dreaming.

    Keine Zukunft in Englands Traum" singt Johnny Rotten von den Sex Pistols in "God Save the Queen." Elf Tage vor dem 25 jährigen Thronjubiläum der Queen erscheint im Mai 1977 die Single der Sex Pistols. Eine trotzige Abrechnung mit den Selbstlügen des Landes.

    Diejenigen, deren Alltagserfahrungen sich grundlegend vom Traum des Empires unterscheiden, bekommen mit "God Save the Queen" eine Stimme.

    Es ist der Knall eines zerplatzenden Traumes. In einem Augenblick, in dem die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf England gerichtet ist, tritt die Band, so Savage, "mit der Wucht einer Handgranate auf, die in ein Blumenarrangement geworfen wird."

    Denn die Realität sieht anders aus: Wirtschaft und Landwirtschaft sind hoch subventioniert. Das Land ist in seinem Inneren zerstritten. Die Arbeitslosigkeit hat ihren Höchststand seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Die jugendlichen Schulabgänger trifft es am schlimmsten. Frustration und Langeweile haben sich in den Städten breitgemacht.

    Eine Arena, in der Jugendliche aufregend Neues ausprobieren können, ist ein kleiner merkwürdiger Modeladen in der King’s Road 430 – namens "SEX". Laut Savage, der Geburtsort des englischen Punk. Die Ex-Lehrerin Vivienne Westwood und der Ex-Kunststudent Malcolm McLaren verkaufen selbst entworfene Mode aus Latex und Leder. Ein Spiel mit Zeichen, Symbolen und Codes - Sicherheitsnadeln, Hakenkreuzen, Anarchozeichen und christlichen Symbolen.

    Punk hatte sich selbst mit einer Mehrdeutigkeit von Elementen präsentiert, die aus der Geschichte der Jugendkultur stammten: sexuelle Fetischkleidung, städtischer Zerfall und extremistische Politik als böses Omen. Zusammengenommen haben diese Elemente keine Eindeutigkeit, aber sie drücken vieles aus: den urbanen Primitivismus, den Zusammenbruch des Vertrauens in eine gemeinsame Sprache, die Verfügbarkeit von billiger Secondhand-Kleidung, eine gebrochene Wahrnehmung in einer beschleunigenden, medienübersättigten Gesellschaft, ein Bedürfnis, den Körper dem Chaos von Bedeutungen preiszugeben.

    Vor dem Hintergrund des Modeladens entwickelt sich ein lebendes soziales Experiment: die Sex Pistols. Ihre Musik und Texte sind roh, direkt und voll lebendiger aggressiver, zerstörerischer Energie. Ihre Auftritte sind von Tabubrüchen und Skandalen begleitet.

    Überall in und außerhalb Londons lief es nach dem gleichen Schema ab: Ablehnung durch die meisten Leute und sofortige Identifikation seitens einer winzigen, aber bedeutsamen Minderheit.

    McLaren beginnt als Manager der Sex Pistols ein Spiel mit der Musikindustrie und den Medien:

    In alter situationistischer Manier versuchte McLaren, die Instrumente der Macht gegen ihre Institutionen zu wenden.

    Punk - ein kulturterroristischer Akt, der zeitgleich mit der RAF in Deutschland, aber mit grundsätzlich anderen Mitteln die Grenzen einer liberalen Ordnung aufzeigt. Die Sex Pistols, die der Frustration der Jugendlichen einen Ausdruck geben, werden innerhalb kürzester Zeit zu Volksfeinden Nummer Eins. Aber sie werden auch zum Vorbild für viele neue Bands – über 400 –, die innerhalb von zwei Jahren aus dem Boden schießen.

    1978 sind die kurzen Jahre der Anarchie vorbei. Die Sex Pistols lösen sich auf. Viele der Punkbands werden Teil des Systems, gegen das sie einst angetreten waren. Trotz allem, das Fazit bleibt für Jon Savage ein positives:

    Punk war geschlagen, aber er hatte auch gewonnen. Wenn es das Projekt der Sex Pistols gewesen war, die Musikindustrie zu zerstören, dann waren sie gescheitert; aber so wie sie ihr neues Leben einhauchten, verschafften sie einer Myriade neuer Formen in der Musik Zutritt. Als Punk in die Musik- und Medienindustrie eintrat, wurde seine Vision von Freiheit schließlich von der Machtpolitik und dem sie begleitenden Wertesystem der neuen Rechten hinweggespült, aber seine ursprüngliche, fröhliche Negation bleibt ein Fanal. Die Geschichte wird von denen gemacht, die Nein sagen, und die utopischen Ketzereien von Punk bleiben sein Geschenk an die Welt.