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Enquist: "Buch der Gleichnisse"
Verbotene Liebe

Ein 15-jähriger Junge wird von einer 51-jährigen Frau verführt: In Per Olov Enquists neuem Roman "Buch der Gleichnisse" wird das körperliche Erweckungsszenario des Jungen von religiösen Schuldgefühlen begleitet. Erneut versucht sich der große schwedische Erzähler am Rätsel der Liebe.

Von Antje Rávic Strubel | 02.07.2014
    Der Schatten einer Frau und eines Mannes, die sich küssen.
    Das wichtigste Gleichnis dieses Liebesromans: die irdisch-körperliche und die religiöse Liebe. (dpa / picture alliance / Jan-Philipp Strobel)
    "Buch der Gleichnisse", der neue Roman des großen schwedischen Erzählers Per Olov Enquist trägt im Untertitel die Bezeichnung "Ein Liebesroman". Und tatsächlich versucht sich Enquist erneut am Rätsel der Liebe, dem er bereits 2004 in seinem historischen Roman "Buch von Blanche und Marie" nachgespürt hatte.
    Im "Buch der Gleichnisse" wird ein fünfzehnjähriger Junge von einer einundfünfzigjährigen Frau verführt. Ellen liegt leicht bekleidet auf der Wiese und sonnt sich, als der Junge vorbeikommt. Sie unterhalten sich über Literatur, dann bietet Ellen dem Jungen Limonade an. Sie ist Stockholmerin und zum Urlaubmachen nach Västerbotten, in den schwedischen Norden, gekommen. Sie hat sich auf dem Nachbarhof eingemietet, auf demselben Hof übrigens, auf dem später Stieg Larsson, der Autor der Millenium-Trilogie, aufwachsen sollte.
    Enquist, berühmt für seine historischen Romane, hat auch hier wieder ein Buch vorgelegt, dass Fakt und Imagination vermischt und den Widersprüchlichkeiten in den Rekonstruktionen von Wirklichkeit nachgeht. Nicht nur der Hof, auf dem sich die schwebende Sexszene abspielt, ist verbürgt, sondern auch der Junge. Er trägt Züge des Autors. Dem allzu Biografischen entzieht sich Enquist allerdings, indem er von ihm in der dritten Person erzählt.
    Vermischung aus Fakt und Imagination
    Die Stimme des Erzählers bleibt dem 79-Jährigen vorbehalten, der eines Tages das halb verkohlte Notizbuch seines Vaters in der Post findet. Er hatte es jahrelang für verbrannt gehalten. Beim Öffnen stellt Enquist fest, dass neun Seiten fehlen, jene Seiten, die Liebeslieder seines Vaters an seine Mutter enthalten haben und ihm etwas über die Beziehung seiner Eltern hätten verraten können. Dieses verbrannt geglaubte Buch wird zum Anlass, nicht nur die missglückte Rede am Grab seiner Mutter umschreiben zu wollen, sondern auch in die frühe Jugend zurückzukehren.
    Enquist wuchs in Västerbotten auf, eine Region in Nordschweden, in der die Pfingstbewegung, eine fundamentalreligiöse christliche Gemeinde, ihre meisten Anhänger hatte. Auch seine Mutter war streng gläubig. Literatur, Sexualität und jede Form von Lebensfreude galten als Sünde. Diese puristische Lebenshaltung haben Enquists frühe Jahre ebenso tief geprägt wie der Dialekt.
    Und mit der Rückkehr an den Ort seiner Kindheit verändert sich auch die Sprache, in der Enquist darüber schreibt; immer wieder flicht er dialektale Ausdrücke ein, und es ist eine Leistung des Übersetzers Wolfgang Butt, für die Mundart entsprechende Neuschöpfungen im Deutschen gefunden zu haben. Das körperliche Erweckungsszenario des Fünfzehnjährigen jedenfalls ist umzingelt von religiösem Schuldgefühl.
    Um dem zu entkommen, muss der Junge den Nachmittag, den er mit der Stockholmerin auf dem Holzboden der Küche im Nachbarhof verbringt, mit religiöser Symbolik aufladen. Es ist eine Erfahrung, die er tief in sich verschließt. Erst neun Jahre später sieht er Ellen wieder, auf einem Vorortbahnhof von Stockholm. Schnell wird klar, dass sich dieses erste Mal nicht wiederholen wird. Zu fragil und kostbar ist die Erinnerung, um sie einer Überprüfung in der Wirklichkeit auszusetzen, zu flüchtig das Wesen der Liebe. Nur in der Vorstellung, so das Fazit des Erzählers, kann die Sehnsucht wachsen, die die Liebe zum eigentlichen Sinn des Lebens werden lässt.
    Wo der Fünfzehnjährige mit der Entdeckung der körperlichen Liebe zu kämpfen hat, ringt der Erzähler Enquist mit dem Alter und seinem bevorstehenden Tod. Seine Freunde liegen im Sterben oder sind bereits tot, und mit den übrigen hält er Zwiegespräche in der Vorstellung, seltener am Telefon, über die noch verbleibende Zeit. In Ellipsen taucht das angsterfüllte Denken des Autors in Episoden über einen Jugendfreund ab, der verrückt wurde, oder über eine rebellische krebskranke Tante, die vor versammelter Verwandtschaft von Gott abschwor, bevor sie starb, und wird zu einer Art Selbstbefragung über Glauben, Schreiben und Gott, die unvollendet, fragmenthaft bleibt.
    Und immer wieder geht es um die Macht der Schrift. Enquist zitiert aus einem Arbeitsbuch aus den 80er-Jahren, müht sich mit der Grabrede ab, kehrt zurück zu früheren Romanen, rekurriert auf Glaubenstexte und die Bibel. So ist es kein Zufall, dass die Zahl 9 in diesem Roman eine so vordergründige Rolle spielt. In neun Kapiteln werden über die neun fehlenden Seiten eines Notizbuchs erzählt, vergehen neun Jahre, ehe sich die Liebenden wiedersehen, werden neun Gleichnisse entwickelt.
    Immer wieder geht es um die Macht der Schrift
    Jedes der Kapitel ist mit dem Begriff Gleichnis überschrieben. Die Zahl neun gilt im biblischen Sinne als die Zahl der Vollendung. Außerdem bezeichnet sie die Todesstunde Christi. Enquists neuer Roman ist das Gegenteil einer Vollendung. In ihm ist alles auf Offenheit und Abbrüche angelegt, und darin liegt vielleicht eine versteckte Ironie.
    Das wichtigste Gleichnis dieses Buches ergeben die irdisch-körperliche und die religiöse Liebe. Das religiöse Erweckungserlebnis wird überführt in ein konkretes Bild; das des Jungen, den die Frau Zentimeter für Zentimeter hinein in ungekannte Gefühlsdimensionen verführt. Dort, wo die himmlische Erweckung abstrakt bleiben muss und ein lebenslang ungelöstes Rätsel, wird die irdische Erweckung umso anschaulicher.
    Und an diesen Stellen ergeben sich aus einem Wirrwarr von Notizen und Überlegungen, Rückblenden, Fantasien und Ängsten, mit denen der Autor wie verzweifelt seine Themen umkreist, auf einmal sehr klare, sprachmächtige und berührende Szenen. Hier gewinnt der Text an Intensität. Ellen und der Junge werden in schlichten, klugen und aufs Wesentliche reduzierten Sätzen deutlich, mit denen Enquist unzimperlich und doch einfühlsam von dieser vielleicht nicht so seltenen, aber selten überzeugend literarisch dargestellten Initiation erzählt. Und sie strahlt aus bis zu Ellens Tod, als der Erzähler sie zum letzten Mal auf der Beerdigung besucht.
    Diese verbotene Liebe ist es, die das Buch trägt. Mit dem Rest, und das macht leider den Großteil des Erzählten aus, scheint sich der Autor wie mit einem Schild noch immer gegen die Schrecknisse der Hölle wappnen zu müssen, in die gerät, wer ein sündiges Leben führt. Oder vielleicht ist dieses Wappnen gerade jetzt unabdingbar, da der Autor sich selbst am Rande dieses Flusses stehen sieht, den man nur in eine Richtung überquert.

    Per Olov Enquist: "Buch der Gleichnisse. Ein Liebesroman".
    Hanser Verlag, 222 Seiten, 18,90 Euro.