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Entschädigung für die Opfer von Distomo

Die Wehrmacht ermordete 1944 in dem griechischen Dorf Distomo 218 Menschen. Es war eines der brutalsten Massaker des Zweiten Weltkriegs. Der Internationalen Gerichtshof in Den Haag soll nun entscheiden, ob Deutschland Entschädigungszahlungen leisten muss.

Von Simone Böcker | 24.01.2011
    Ein Wiedererkennen nach mehr als 60 Jahren – Loukas Kurumalis und Eleni Athanasiu waren in ihrem Heimatdorf Distomo in der Nähe von Delphi einst Spielkameraden. Beide waren sie noch Kinder, als eine SS-Division 1944 ihre sogenannte Vergeltungsaktion wegen zwei von Partisanen getöteter deutscher Soldaten an der griechischen Zivilbevölkerung verübte. Loukas Kurumalis verlor dabei seine gesamte Familie.

    "Wir saßen zu Hause, als die Deutschen kamen. Unser Nachbar hat ihnen seinen Ausweis gezeigt, und mein Vater ebenfalls. Dann haben sie erst den Nachbarn erschossen und anschließend meinen Vater. Danach meine Mutter und die Frau des Nachbarn. Einer der Deutschen zielte auch auf mich, und die Kugel traf meine Knie. Da wurde ich ohnmächtig."

    Loukas Kurumalis krempelt sein Hosenbein hoch und zeigt die Narben. Eleni Athanasius Familie wurde wie durch ein Wunder von den Deutschen verschont. Heute treffen sich die beiden Überlebenden bei einem Termin mit der Anwältin Hristina Stamouli. Vor 14 Jahren hatte ihr Vater den ersten Prozess in Griechenland um Entschädigungszahlungen gegen Deutschland geführt und dabei eine Summe von 28 Millionen Euro erstritten. Auch Loukas Kurumalis war damals unter den Klägern. Doch Deutschland erkannte das Urteil des griechischen Gerichts nicht an. Das Argument: Deutschland genieße Staatenimmunität, was bedeutet, dass Staaten grundsätzlich nicht der Gerichtsbarkeit anderer Staaten unterliegen. Seit dem Tod des Vaters suchen Hristina Stamouli und ihre Schwester neue Wege, um für Opfer wie Loukas Kurumalis den Kampf um Entschädigungen weiterzuführen.

    "Wir haben nächtelang daran gearbeitet, die juristischen Probleme zu lösen, die zum Beispiel damit zu tun haben, ob eine einzelne Person das Recht hat, eine Entschädigungsklage einzureichen. Vor allem aber geht es um das Thema der Staatenimmunität, das Deutschland immer wieder auf den Tisch bringt."

    Deutschland beharrt darauf, dass Entschädigungszahlungen bereits erfolgt und Einzelklagen zudem nicht zulässig seien. Um diese heikle juristische Frage endgültig zu klären, läuft bereits seit 2008 ein Verfahren zwischen Deutschland und Italien wegen ähnlich gelagerter Fälle vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem sich Griechenland nun anschließt. Stelios Serakis ist Professor für internationales Recht und beschäftigt sich intensiv mit dem Fall.
    "Das ist ein sehr wichtiger politischer Schritt, weil die griechischen Regierungen bis jetzt nie direkte Forderungen gegenüber Deutschland in dieser Sache gestellt haben. Das Urteil von 1995 wurde nicht durchgesetzt, zudem sind alle Gerichtsentscheidungen bislang auf Initiative von Einzelpersonen herbeigeführt worden. Es geht jetzt nicht um ein paar Euro, sondern darum, dass Deutschland seine Schuld eingesteht."

    Bei der anstehenden juristischen Klärung geht es indes um mehr als um Einzelfälle: Ein Urteil hätte auch gravierende Folgen für das internationale Recht.

    "Wenn die Staatenimmunität beseitigt wird, hieße das, Staaten hätten keine Immunität mehr bei Verletzungen des humanitären Rechts. Das würde insgesamt die Situation für alle Länder ändern, die an Kriegen beteiligt sind. Sie würden sehr viel vorsichtiger agieren, weil Opfer von Kriegsverbrechen dann selbstständig Entschädigungen einklagen könnten. Für Deutschland hieße das außerdem, dass jeder, der sich als Opfer des Zweiten Weltkriegs fühlt, einen Antrag auf Entschädigung stellen kann. Das kann insgesamt große Folgen für Europa haben."

    Für die Opfer von Distomo und ihre Angehörigen kommt ein Urteil und damit eine moralische Anerkennung jedoch zu spät. Loukas Kurumalis, der 73-jährige Überlebende, ist verbittert, auch über die bisherige Haltung der griechischen Regierungen.

    "Wir, die auf Entschädigung warten, sind auch nicht zufrieden mit Griechenland. Wir waren schon mal so nah dran an einer endgültigen Entscheidung. Die griechischen Regierungen hätten Hindernisse überwinden können. Aber alles wurde sehr lange verzögert, auch von der griechischen Seite."