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Entschädigung für NS-Zwangsarbeit
Späte Einsicht, wenig Geld

Die Nationalsozialisten verpflichteten vor und vor allem während des Krieges Millionen Menschen zu Zwangsarbeit - allein drei Millionen Polen. Der Kampf für Entschädigung war nach dem Zweiten Weltkrieg lang und zäh. Zufrieden mit den Zahlungen sind viele von ihnen nicht.

Von Jan Pallokat | 22.03.2020
Während der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht mussten Juden - wie hier beim Straßenbau - Zwangsarbeit verrichten (undatierte Aufnahme). Die Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft hat am 22.5.2001 den Weg für die Entschädigungszahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter frei gemacht. Nach der Abweisung der Sammelklagen in den USA sei jetzt die notwendige Rechtssicherheit gegeben. Die Entscheidung sorgte für Erleichterung im In- und Ausland.
Während der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht mussten Juden - wie hier beim Straßenbau - Zwangsarbeit verrichten (undatierte Aufnahme). (picture alliance / dpa / Ullstein)
Das Lager entstand vor aller Augen. Bis heute können es die Mieter aus den anliegenden Wohnhäusern überblicken. Ursprünglich 13 flache Wohnbarracken, kasernenartig aufgereiht, ein Wirtschaftsgebäude in der Mitte, die Wache. Bis auf zwei sind alle Gebäude erhalten geblieben. Heute steht am historischen Ort des Lagers in Berlin-Treptow, Ortsteil Niederschöneweide, das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit.
Die Anlage im Berliner Südosten war eine besonders große ihrer Art, aber keineswegs das einzige Zwangsarbeiterlager. Hitlers Architekt und Rüstungsminister Albert Speer, der kriegsbedingt seine Pläne für die "Welthauptstadt Germani" beiseitelegen musste, gebat nun stattdessen über ein "nationales Barackenbauprogramm" zur Unterbringung von Millionen Zwangsarbeitern im ganzen Reich. Christine Glauning, Leiterin der Berliner Dokumentationsstelle:
"In Berlin gab es ca. 3.000 Sammelunterkünfte, Barackenlager, aber auch umfunktionierte Schulen, Kinos. Für das gesamte Reich geht man von 44.000 Lagern aus, über 30.000 Lager für zivile Zwangsarbeiter."
Allein in Berlin, wo in der Spitze fast eine halbe Million sogenannte "zivile Zwangsarbeiter", aber auch Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Juden im streng separierten "geschlossenen Arbeitseinsatz" zur Arbeit gezwungen wurden, gab es praktisch kein Viertel, keinen Straßenzug ohne dort irgendwo eingesperrte ausländische Zwangsarbeiter.
"Das ist auch eine Rückmeldung unserer Besucher, das Ausmaß der Zwangsarbeit, die Allgegenwart, der millionenfache Einsatz von Menschen, Frauen und Kindern aus ganz Europa im Deutschen Reich, das ist vielen nicht bewusst."
Entschädigung erst nach der Wiedervereinigung
Erst mit der Wiedervereinigung kam das Thema bei den internationalen Verhandlungen wieder auf die Agenda, und zehn Jahre später, im Jahr 2000, steht die Einigung auf Entschädigungszahlungen. Allein die Diskussion darüber macht vielen Deutschen oft jetzt erst klar, welche Schicksale sich hinter dem unspektakulären Begriff "Zwangsarbeit" verbergen. Plötzlich werden Ausstellungen gestaltet, Artikel geschrieben, kommen inzwischen hochbetagte Zeitzeugen doch noch zu Wort. Jadiwiga Mossakowska etwa, die nach dem Warschauer Aufstand mit ihrer ganzen Familie nach Deutschland verschleppt wurde und in einer Munitionsfabrik in Thüringen arbeiten musste.
"Selbstverständlich zwölf Stunden am Tag und auch nachts. Es war hart und wir hatten großen Hunger. Nicht wie während des Aufstandes, denn es gab Essen und sogar Lebensmittelmarken. Aber für einen jungen Menschen viel zu wenig. Ich habe damals davon geträumt, dass ich, wenn der Krieg erst aus ist, einen ganzen Laib Brot auf einmal essen werde."

Bogdan Bartnikowski etwa, der mit zwölf zusammen mit seiner Mutter nach Blankenburg bei Berlin verschleppt wurde. Jeden Tag musste der Junge in den Trümmern der Berliner Innenstadt nach verwertbaren Ziegeln suchen, auch bei Winterkälte, den Luftangriffen der Alliierten schutzlos ausgesetzt.
Hinter einem Stacheldraht liegt einer der Baracken des NS Zwangsarbeit-Dokumentationszentrums
Die Anlage in Berlin-Treptow war eine besonders große, aber keineswegs das einzige Zwangsarbeiterlager (picture alliance/imageBROKER/Schoening)
"Man schlug uns nicht, man erniedrigte uns nicht, wir mussten nur hart und sehr lange arbeiten und manchmal die zwölf Kilometer zu Fuß gehen. Nach solchen Märschen war man bei der Arbeit nur halb bei Bewusstsein. Ich bekam täglich Marken als Gegenwert für die Arbeit, aber wenn der Meister mich erwischt hatte, dass ich schlecht arbeitete, bekam ich keine."
Gabriele Turant etwa, die mit 14 anderthalb Jahre Zwangsarbeit bei Telefunken leisten musste; erst in Lodsch, dann in Berlin, schließlich in Ulm. Sie erinnerte sich: "Am schlimmsten waren die erniedrigenden Untersuchungen im Arbeitsamt. Man musste sich nackt ausziehen, die Sachen wurden desinfiziert. Dann wurden wir gebadet, danach mussten wie vier Stunden warten in einem Raum ohne Heizung."
Anwerbung Freiwilliger scheiterte
Es sind Details millionenfach gewaltsam umgeschriebener Lebensläufe. Viele Menschen wurden in einem Alter verschleppt, in dem Gleichaltrige die Schule abschließen, einen Beruf lernen, eine Familie gründen.
Die Nationalsozialisten hatten bereits vor dem Krieg mit der Zwangsverpflichtung von Juden, Sinti und Roma oder sogenannten Asozialen zur Arbeit begonnen. Mit Kriegsbeginn aber wird daraus eine Massenerscheinung. Denn zum einen fehlen Arbeitskräfte, weil Deutschlands Männer an der Front stehen und zu Hause fehlen. Die zurückgebliebenen Frauen aber können oder wollen die Nazis nicht einsetzen. Anfangs werben sie in den besetzten Gebieten für freiwillige Gastarbeit, betont Jakub Deka, Leiter der Stiftung Deutsch-Polnische Versöhnung.
"Die ersten Institutionen die in den besetzten Gebieten entstanden, deutsche Institutionen, das waren die Arbeitsämter. Da mussten sich die Leute registrieren, um zum Beispiel Lebensmittelkarten zu bekommen. Und da hat man gleich gewusst, wer arbeitet für wen? Ist das für die deutsche Wirtschaft nötig oder können sie gleich nach Deutschland geschickt werden?" Doch die freiwillige Anwerbung kommt nie so recht in Schwung. "Und dann musste man schon zu härteren Maßnahmen greifen. Also hat man Straßenrazzias organisiert und hat die Leute auf den Straßen, in den Kirchen, auf den öffentlichen Plätzen geschnappt."
Vor allem in Polen und später in der Sowjetunion werden Menschen alsbald millionenfach verschleppt. Drei Millionen Polen werden bis Kriegsende zur Zwangsarbeit in Deutschland gezwungen, jeder zehnte Bewohner des besetzten Landes. Aus der Sowjetunion wurden ganze Dorfgemeinschaften deportiert. Eigentlich ein Widerspruch in sich, denkt man an die NS-Rassenideologie. "Einerseits waren das die sogenannten Fremdvölkischen. Sie bedeuteten eine Bedrohung für das deutsche Volk. Andererseits hat man Millionen von ihnen nach Deutschland gebracht, denn man sah keinen anderen Ausweg."
Diskriminierende Sonderregeln für Polen und sowjetische "Ostarbeiter" machten aber deutlich, wie tief diese Menschen in der NS-Rassenhierarchie standen. Zwangsarbeiter aus dem Osten wurden zumeist interniert, um Kontakte mit der deutschen Bevölkerung zu vermeiden, und mussten entsprechenden Abzeichen "P" oder "Ost", ähnlich dem Judenstern, auf dem Hemd tragen. Hatten westeuropäische Zwangsarbeiter oft Bewegungsfreiheit und etwas Lohn, blieb Polen und Ostarbeitern meist nichts oder wenig übrig. Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen Deutscher mit Osteuropäern waren streng verboten, aber ganz verhindern ließen sie sich nicht. Für Männer aus dem Osten endeten solche Liebschaften regelmäßig mit dem Strang. Kinder aus solchen Beziehungen wurden in spezielle Ausländerkinder-Heime gebracht, die die wenigsten Säuglinge überlebten.
Arbeit als Mittel der Vernichtung
Ein Steinbruch in Niederschlesien. Man blickt tief hinein in die Gruppe, unten hat sich durch Sickerwasser ein See gebildet. "Steinerne Hölle" nannten Überlebende das KZ Groß-Rosen, das direkt an einen Granit-Steinbruch herangebaut worden war, erst als Außenlager des KZs Sachsenhausen bei Berlin, dann als eigenständiges KZ-Arbeitslager. Aus Briefwechseln mit der SS-eigenen "Deutsche Erd- und Steinwerke Gesellschaft" geht große Unzufriedenheit über die Qualität der Sklavenarbeiter hervor, die oft aus anderen KZs herbeigeschafft wurden und sommers wie winters in dünner Häftlingskleidung Schwerstarbeit leisteten, schon von Anbeginn erschöpft, unterernährt und von Krankheiten gezeichnet, bei Regen, Wind und Wetter und in Holzschuhen, die im Schnee stecken blieben.

"Den Tagesablauf kennen wir von den Berichten Überlebender, die nicht einheitlich sind. Die einen sagen, sie seien um vier, die anderen, sie seien um fünf aufgestanden. Es gab den Weckruf, schwarzen Kaffee, manchmal gab es drei Mal am Tage Kohlrübensuppe, sonst nichts. Nach dem Morgenappell ging es in den Steinbruch oder zu den anderen Arbeitsstellen. Im Steinbruch kam es häufig zu Unfällen, was kein Wunder war angesichts der Bedingungen und der fehlenden Vorbereitung. Es gab dort auch Priester und Intellektuelle", erzählt Dorota Sula, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gedenkstätte Gross-Rosen.
KZ-Häftlinge hatten unter Millionen Zwangsarbeitern das schwerste Schicksal. Sie sollten so oder so sterben, aber vorher noch bis zur Erschöpfung ausgebeutet werden. Weil die KZ-Akten zu Gross-Rosen vernichtet wurden, sind genaue Zahlen nicht zu ermitteln. Historiker schätzen, dass dort 40.000 Menschen starben: durch Arbeit als Mittel der Vernichtung.
Ein erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung.
Zweiter Weltkrieg: Befreite russische Zwangsarbeiterin (picture-alliance / A0009)
Höchste Entschädigungssumme: 15.000 DM
Stanislaw Zalewski zeigt seine Häftlingskarte, Birkenau steht da, später KZ Mauthausen Gusen. Beruf: Automechaniker. Das hat ihm wohl das Leben gerettet, denn Facharbeiter waren gefragt, und je länger der Krieg dauerte, umso gefragter waren sie. Ein eher kurzer Aufenthalt im Vernichtungslager Auschwitz II Birkenau, danach wird er ins KZ Mauthausen verlegt, wo generell viele polnische Männer interniert werden. Die meisten gelangen weiter in die beiden Mauthausener Außenlager Gusen 1 und 2, auch dort gibt es einen Steinbruch. Zalewski und seine Mitgefangenen müssen die herausgehauenen Rohlinge entlang der Abbruchkante in eine Mühle schleppen, wo das Gestein zerkleinert wird.
"Entlang des Weges standen SS-Männer mit Stöcken. Wenn sie gesehen haben, dass der geschleppte Stein zu klein ist, haben sie so geschlagen, dass der Häftling nach unten stürzte. Da ich nicht so stark war, suchte ich Steine, die große Flächen hatten, aber flach waren, und als ich an den Herren vorbei ging, beugte ich mich bewusst unter der Last. Das war reine Selbstverteidigung."
Später kommt Zalewski in unterirdisch verlegte Produktionsstätten des Flugzeugbauers Messerschmidt, eine kriegswichtige Fertigung. Zwangsarbeiter kamen wie Zalewski vor allem in der Rüstungsindustrie und zuliefernden Betrieben zum Einsatz, aber auch bei kleineren Firmen, in der Landwirtschaft oder in Privathaushalten. Schätzungsweise jeder dritte Arbeitsplatz in der deutschen Wirtschaft war zu Hochzeiten von einem Zwangsarbeiter besetzt, insgesamt waren es etwa 13 Millionen Menschen – Zwangsarbeiter in den besetzten Gebieten nicht mitgezählt.
KZ-Häftlinge wie Zalewski, entweder in SS-eigenen Betrieben eingesetzt oder an die Privatwirtschaft gruppenweise vermietet, erhielten 2001 die höchste der gestaffelten Entschädigungssummen, 15.000 DM pauschal. Zalewski, alt und arm, nahm das Geld, aber mit ungutem Gefühl. Heißt Annehmen nicht Verzeihen?
"Es gibt keine Entschädigung, die wieder gut machen könnte, was wir in den Lagern erlebt haben. Deshalb nenne ich das keine Entschädigung, sondern eine Leistung. Und wenn Sie hier schon den Begriff ‚Zwangsarbeit‘ benutzen. Der richtige Begriff lautet ‚Sklavenarbeit‘. Wir wurden inhaftiert, ohne Kontakt mit der Außenwelt. Sie machten mit uns, was sie wollten und ließen uns Arbeiten ausführen, auf die wir nicht vorbereitet waren."
95 Prozent der früheren Zwangsarbeiter leben in Osteuropa
In Monowitz, einem vom Chemiekonzern IG Farben direkt betriebenen Außenlager von Auschwitz, war die statistische Wahrscheinlichkeit zu sterben größer als im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit seinen Gaskammern und Krematorien. Wer dagegen bei weniger grausamen Arbeitgebern landete, hatte bessere Chancen. Und manchmal nutzten Einzelne, etwa der Industrielle Oscar Schindler in Krakau oder der spätere Krupp-Manager Bertold Beitz ihre Möglichkeiten, um Juden als angeblich kriegswichtig Beschäftigte vor dem Gastod zu retten. Aber das blieb die Ausnahme.

"Wir sind uns einig geworden, dass es nun darum geht, ein kooperatives, nicht konfrontatives Konzept zu entwickeln, das schnell und unbürokratisch die noch anstehenden Probleme, die aus der Nazi-Zeit herrühren, humanitären und moralischen Lösungen zuführen soll", so Kanzleramtsminister Bodo Hombach in diesem Radiobericht von Februar 1999.
Hombach erklärte, die Finanzmittel aus dem Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft, müssten die ehemaligen Zwangsarbeiter möglichst schnell und unbürokratisch erreichen. Das Durchschnittsalter der Personengruppe beträgt 80 Jahre. 95 Prozent der früheren Zwangsarbeiter leben in osteuropäischen Staaten. Doch es sollten noch viele weitere Monate vergehen, bis die Einigung perfekt war. Dass es über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende überhaupt noch zu nennenswerten Zahlungen kam, lag daran, dass mit der Wiedervereinigung der internationale Druck auf die Bundesrepublik stieg. Jakub Deka von der "Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" erinnert sich. "Das war internationaler Druck, Boykottdrohungen für deutsche Firmen in Amerika, die Gefahr von Gerichtsurteilen, Sammelklagen in Amerika."
Berthold Beitz, Krupp-Chef, in seinem Büro, 15. Februar 1972. Schwarz-weiß-Fotografie.
Krupp-Chef Berthold Beitz versteckte mit seiner Frau jüdische Zwangsarbeiter und rettete ihnen das Leben (imago / Sven Simon)
Am Ende gaben insbesondere die großen, exportstarken Konzerne die Hälfte der damals 10 Milliarden DM. Nach dem Krieg hatte die Bundesrepublik die Frage von Entschädigungen oder Reparationen auf den Tag einer großen Friedenslösung verschieben lassen; die DDR hielt sich als selbsternannte Republik der Antifaschisten generell für unzuständig. Individuelle Klagen gegen deutsche Großkonzerne trauten sich die wenigstens. Immerhin führten einige davon in den 50er-Jahren zu Vergleichsvereinbarungen mit Firmen wie IG Farben, Krupp, Siemens, AEG oder Rheinmetall.
Bei einem polnischen Opferverband in Danzig; Ewa Zlota ist gekommen, um den Mitgliedsbeitrag ihrer Mutter zu bezahlen. Es ist der 92-Jährigen wichtig, auch wenn es nur eine geringe Summe ist. Zwischen ihrem zwölften und 15. Lebensjahr hütete sie zwangsweise bei einem deutschen Bauern Vieh. Die Verbände der Opfer sind oft ebenso finanzschwach wie die, die sie vertreten, arm. Der Danziger "Verband der Polen, die Repressalien während des Dritten Reiches unterlagen", wie er offiziell heißt, hat noch 1.640 Mitglieder, erzählt der Vorsitzende Jerzy Tarasiewicz. "Unser wichtigstes Ziel ist es, der jungen Generation Wissen zu vermitteln. Denn leider sterben sehr viele unserer Mitglieder, die meisten sind zwischen 85 und 89 Jahre alt. Wir organisieren Treffen, die jungen Leute treffen Zeitzeugen bei ihnen zu Hause oder im Freien. Sie erzählen, zeigen Dokumente, Fotos, und die jungen Leute verarbeiten das in Zeichnungen oder in Filmen."
Kinder wurden "germanisiert"
Gerade im Alter kommen viele Erinnerungen wieder hoch. Verbandschef Jerzy Tarasiewicz selbst erinnert sich kaum an Lagerdetails, denn: "Ich bin am 7. Mai 1942 bei Magdeburg geboren, im Arbeitslager, in dem meine Eltern waren." Deren Erzählungen nach befand sich das Lager in einer ausgedienten Molkerei. Die Menschen hausten zusammen in der ausgedienten Produktionshalle. Jeden Morgen hätten die Bauern der umliegenden Höfe "ihre" Zwangsarbeiter abgeholt. Der Vater, der sich gut mit Pferden auskannte, arbeitete auf einem Gestüt, die Bäuerin dort habe seine Arbeit als Tierpfleger geschätzt. Deswegen sei es auch gelungen, die Mutter nach Magdeburg nachzuholen, die nach einer Razzia zunächst nach Elbing an der Ostsee verschleppt worden war, erzählt Tarasiewicz. "Mit uns Kindern beschäftigten sich ältere Frauen, Deutsche, die uns vom ersten Tag an auf Deutsch erzogen. Ich unterlag einer vollkommenen Germanisierung. Man brachte uns Patriotismus bei, leider den deutschen."
Seine Familie, die aus Wilna stammte, hat nach dem Krieg ihre Heimat verloren, denn der Ort gehört nun zur litauischen Sowjetrepublik – kein Einzelfall wegen der Westverschiebung Polens. Die Tarasiewiczs ließen sich stattdessen in der Gegend von Posen nieder, aber der kleine Jerzy und sein ebenfalls im Lager geborener Bruder gelten dort als Außenseiter. "Der Vater bekam dort einen Hof, denn er hatte seinen ja im Wilnaer Gebiet gelassen. Ich suchte den Kontakt mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft, denn die anderen Bauernhöfe wurden schon wieder bewirtschaftet. Aber kein Kind wollte mit mir spielen, weder mit mir, noch mit meinen Brüdern, denn sie sagten, wir wären "Deutsche". Und so fand ich Freundinnen, mit denen ich spielte. Alte deutsche Frauen, die nicht mit nach Deutschland ausgesiedelt worden waren, denn sie seien hier geboren und aufgewachsen und wollten hier sterben."
"Man brauchte Glück, um an anständige Menschen zu kommen"
Es gibt nicht das eine Zwangsarbeiter-Schicksal. Nicht alle erlebten die Verschleppung als reines Unglück; für manche, die aus unterentwickelten Regionen kamen, wirkte Deutschland trotz allem wie ein Versprechen. Wieder andere waren zeitlebens voll des Lobes über ihre deutschen Herren. Denn in Zeiten der Willkürherrschaft, in der man leicht im KZ landen oder wegen Nichtigkeiten an die Wand gestellt werden konnte, kann schon der Bauer wie ein guter Mensch erscheinen, der seine Zwangsarbeiter vorschriftswidrig mit am Familien-Tisch essen lässt.
"Manche aber haben sich mit der NS-Ideologie identifiziert und die Menschen als Untermenschen behandelt. Man brauchte Glück, um an anständige Menschen zu kommen. Dann hatte man bessere Chancen zu überleben und bessere Bedingungen bei der Arbeit", sagt Jakub Deka von der Stiftung Deutsch-Polnische Versöhnung. Nach der Einigung 2000 hatte die Stiftung, die zuvor wenig Geld an viele Menschen verteilte, plötzlich Millionen zu verteilen. In den folgenden Jahren war das ein großes Thema in Polen, erinnert sich Deka. "Dieses Programm war wirklich sehr populär. Die Anträge waren in allen polnischen Zeitungen als Beilage."
Viele erlebten das nicht mehr. Die Eltern von Jerzy Tarasiewicz etwa, der im Arbeiterlager bei Magdeburg geboren wurde, starben zu früh, um entschädigt zu werden. Er selbst bekam aus dem deutschen Entschädigungstopf die Summe von 2.200 Mark.