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Entschädigung irischer Missbrauchsopfer
Rettung aus dem Höllenloch

Vor 21 Jahren bat der damalige Regierungschef Bertie Ahern die Opfer von Kindesmissbrauch in katholischen und staatlichen Einrichtungen um Vergebung. Seit 2002 werden - anders als in Deutschland - Entschädigungen an die Opfer gezahlt. Betroffene ziehen eine gemischte Bilanz.

Von Martin Alioth | 28.01.2020
Ein Kind streckt die Hand zur Abwehr nach oben.
Zehntausende von irischen Kindern wurden im 20. Jahrhundert in katholischen Arbeitsheimen, Waisenhäusern und anderen Institutionen ausgebeutet und missbraucht. (imago)
"On behalf of the State and all the citizens of the State, the Government wishes to make a sincere and long overdue apology to the victims of childhood abuse ..."
Im Namen des Staates und seiner Bürger entschuldigte sich der irische Regierungschef Bertie Ahern 1999 formell bei den Opfern von Kindsmissbrauch. Der Staat erkannte damit seine Rolle als stummer und devoter Komplize kirchlich geführter Institutionen an.
Carmel McDonnell Byrne, die insgesamt 17 Jahre in einem Arbeitsheim in Dublin verbracht hatte, weil ihre Mutter ihre acht Kinder im Stich gelassen hatte, war damals dabei. Sie konnte es kaum glauben. Das war weltweit einmalig, dass ein Staat sich für die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern entschuldigte.
"Für uns war das damals sehr wichtig."
Carmel, heute 64 Jahre alt, war eine der Vorkämpferinnen für diese Genugtuung. Sie erinnert sich: In diesen Höllenlöchern seien sie zu Ziffern geworden, sie verloren ihre Identität. Sie selbst sei erst mit zehn Jahren permanent ins Arbeitsheim Goldenbridge gekommen. Sie wusste, wie sie hieß, das wiederholte sie sich jeden Abend vor dem Einschlafen. Das habe ihr das Durchhalten erlaubt. Die Ernährung war ungenügend. Die Angestellten des Heims sammelten ihre Brotkrusten in einem Becken, das wurde dann durch eine Luke geworfen. Die Kinder kämpften um die oftmals schimmligen Abfälle.
"Wir sind außerstande zu lieben"
Carmel McDonnell Byrne war eine der Gründerinnen des Begegnungszentrums für Missbrauchsopfer in der Dubliner Innenstadt. Hier trifft sich eine Theatergruppe, die ihr eigenes Theaterstück schreibt: In einem Schlafsaal denken sich drei Kinder aus, auf welche grausame Weise sie Nonnen umbringen würden. Susan, die Mitautorin, schildert die dauerhaften Folgen des erlittenen Missbrauchs:
"Wir sind außerstande zu lieben", sagt sie, "weil wir selbst nicht geliebt wurden." Das sei beim Älterwerden schwierig. Alle hätten sie irgendwann Eltern gehabt, aber sie waren niemandes Kind. Persönliche Lebensumstände führten sie alle in die Anstalten.
Tony kommt viermal die Woche aus dem nordirischen Larne, über 150 Kilometer weit entfernt, um sich mit anderen Überlebenden im Begegnungszentrum auszutauschen. Er sei bereit, über seine Vergangenheit zu reden, denn früher hörte ihm niemand zu. Erst jetzt, in reifen Jahren, in dieser Gesellschaft, könne er darüber nachdenken.
Schmerzhafte Entschädigungsprozesse
Ab 2002 war der Apparat für Entschädigungszahlungen an die Opfer gesetzlich verankert und in Betrieb. Hier in der Theatergruppe hagelt es Kritik: Weil er so weit entfernt wohnte, behauptet Tony, habe er nur etwa ein Drittel der normalen Entschädigung erhalten. Das sei diskriminierend, und er sei wütend.
Das sogenannte Redress Board entschied über die Höhe der Entschädigungen. Anwälte und Therapeuten auf beiden Seiten waren involviert. Anstelle der erwarteten 3.000 Gesuche kamen über 16.000, die durchschnittliche Entschädigung betrug rund 63.000 Euro, der Höchstwert lag bei 300.000. Mit allen Nebenkosten wurden anderthalb Milliarden Euro ausgegeben. Hat der irische Staat den Opfern Genugtuung verschafft? Carmell McDonnell Byrne denkt nach:
"Ein Teil von ihr möchte Ja sagen. Außer dem Entschädigungsprozess, der viel zu aggressiv war, furchtbar für die Betroffenen."
Es habe Selbstmorde gegeben, Heilungsprozesse wurden rückläufig.
Susan aus der Theatergruppe pflichtet bei: Die Schiedsrichter hätten eine Tabelle des Missbrauchs erstellt, um die Höhe der Entschädigung zu bestimmen. Man habe Verletzungen nachweisen müssen. Doch niemand berücksichtigte das Trauma im Herzen, für das es keinen Geldwert gebe. Objektive Beobachter erläutern, die Beweislast für die Opfer sei gering gewesen.
Doch James, auch er in der Theatergruppe, sieht das anders: Er wurde in ein Kaphäuschen gebracht und gefragt, ob das wirklich passiert sei. James fragte, ob der Anwalt in der Schule gewesen sei? Er selbst sei da gewesen, rief James und haute dabei auf den Tisch. Das sei doch nur Schweigegeld, damit er Stillschweigen bewahre.
Finanzielle Entschädigungen - das ist zu wenig
Susan lehnte das Entschädigungsangebot ab und ging vor Gericht: Das Geld habe sie nicht gekümmert, sie wollte Gehör finden und Vertrauen.
Susan gesteht, sie habe ihrem ersten, verstorbenen Mann nie gesagt, dass sie in einem Arbeitsheim gewesen war. Sie habe ihr Geheimnis bewahrt, weil sie sich derart über ihre Vergangenheit schämte. Sie habe Irland verlassen müssen, um einen Neubeginn zu finden.
Carmel betont, die Entschädigungen seien nur ein Aspekt. Sie empfiehlt eine ehrliche Untersuchung, kostenlose Beratungs- und Therapiedienste, Hilfe bei der Ahnenforschung, ein Begegnungszentrum und Ausbildungskurse. Das alles sei in Irland erreicht worden. Zusätzlich möchte sie die Senkung des Rentenalters auf 60, privilegierten Zugang zum Gesundheitswesen und Unterstützung bei den Begräbniskosten. Und sie meint, die 18 religiösen Orden, die widerwillig und säumig zu den Entschädigungskosten beitrugen, seien allzu sanft behandelt worden.
Die Orden hätten sich an den Kindern bereichert, die Sklavenarbeit leisten mussten. 60 Rosenkränze pro Tag musste jedes Kind fertigen; die wurden verkauft, zusätzlich zu den staatlichen Prämien, die für die Kinder bezahlt wurden. Ihre Hände hätten geblutet. Sie zeigt ihre zierliche Handfläche: und jetzt kommen da die Knochen raus, sie sind kaputt; erst jetzt.