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Entscheidung für Berlin

Am 20. Juni 1991 entschied der Bundestag in Bonn über die Hauptstadtfrage. Am Ende einer hochemotionalen Debatte war es äußerst knapp: Mit 337 Ja- gegen 320 Nein-Stimmen bestimmten die Abgeordneten Berlin zur Hauptstadt mit Regierungssitz.

Von Andreas Baum | 20.06.2006
    Als Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth dem Plenum einen guten Morgen wünschte, schlug ihr Heiterkeit entgegen: Die Fraktionen hatten bereits die ganze Nacht getagt. 662 Bundestagsabgeordnete sollten am 20. Juni 1991 darüber entscheiden, ob Bonn oder Berlin fortan Regierungssitz des frisch vereinten Deutschland sein würde. Nun drohte eine Mammutaussprache: Über 600 Minuten Redezeit waren beantragt worden, was mit Pausen eine Debatte von mehr als 12 Stunden Dauer bedeutete. Der Fraktionszwang war aufgehoben worden, und bis zum Schluss wusste niemand, wie die Abstimmung ausgehen würde. Da alle sachlichen Argumente für und wider bekannt waren, wurde die Aussprache recht schnell emotional.

    "Wer wollte, bestreiten, dass es sich am Rhein gut leben, auch angenehm arbeiten lässt."

    Süffisant zog der Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt, die Argumente der Bonn-Befürworter durch den Kakao. Dass Eigenheime nicht abbezahlt und die Kinder der Beamten in Kindergärten und Schulen gut integriert seien, war ihm nur müden Spott wert. Die Bonn-Befürworter seien Krämerseelen, denen Weitblick und Patriotismus fehle.

    "In Frankreich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand."

    Dieser Vergleich der Bonner Republik mit dem französischen Marionettenregime während der deutschen Besatzungszeit empörte viele Abgeordnete, und noch am Nachmittag schien es, als neigte sich die Waage zugunsten der kleinen Stadt am Rhein - bis Wolfgang Thierse ans Mikrophon trat, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten. Berlin als Ort nur für besondere Anlässe, wie dies die Gegner des Regierungsumzuges vorgeschlagen hatten, sei eine Erniedrigung für die Bürger im Osten Deutschlands, sagte er:

    "Frankfurt bleibt Finanzzentrum, Rhein-Ruhr das Wirtschaftszentrum, Hamburg/Bremen Handelszentrum, Stuttgart/München Zentrum technologischer Modernität – was bleibt für den Osten Deutschlands? Das Problemgebiet? Der Sozialfall?"

    Genau diese, die ökonomischen Argumente wollten entschiedene Bonn-Befürworter wie die SPD-Abgeordnete Ingrid Matthäus-Meyer, nicht gelten lassen:

    "Was hilft es der alleinstehenden Mutter in Dresden und dem Automobilarbeiter in Zwickau, wenn der Bundestag nach Berlin umzieht, meine Damen und Herren."

    Überhaupt, es seien nicht nur Akten, die umzögen, sondern Menschen. Arbeitsminister Norbert Blüm war das eine Herzensangelegenheit:

    "Es sind nicht nur Staatssekretäre und Ministerialdirektoren in Bonn beschäftigt. Es sind Menschen, die hier ihre Existenz aufgebaut haben! Man trägt seine Heimat nicht wie ein Schneckenhaus mit sich herum."

    Lasst dem kleinen Bonn, was es hat, bettelte Blüm und malte das Schreckensbild eines Sechs-Millionen-Molochs Berlin an die Wand, so drastisch, dass sein Auftritt zur Farce geriet, zumal viele nicht vergessen hatten, dass Blüm bis 1982 selbst als Senator für Bundesangelegenheiten in Westberlin jeden Zweifel an der Hauptstadtrolle abgeschmettert hatte.

    "Dieses Jahrhundert hat den Menschen viel Entwurzelung angetan. Der Staat sollte nicht der Betreiber einer Kollektivumsiedlung sein."

    Auch diese Gleichsetzung des Regierungsumzuges mit den Vertreibungen des Zweiten Weltkrieges sorgte dafür, dass sich die Stimmung unter den Abgeordneten am späten Nachmittag spürbar änderte. Daran konnte auch ein junger Abgeordneter der CDU, Friedbert Pflüger, nichts ändern:

    "Mein politisches Vaterland ist die Bonner Demokratie. Ich habe unser Parlament lieber im Bundestag als im Reichstag. und unseren Bundeskanzler lieber im schmucklosen Bau hinter der Moore-Plastik, als im Kronprinzenpalais Unter den Linden."

    Friedbert Pflüger hat seine Meinung geändert. In Berlin bewirbt er sich in diesem Jahr um das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Am 20. Juni 1991 dauerte es bis spät in die Nacht, bis endlich abgestimmt wurde und Rita Süßmuth das Ergebnis verkündete:

    "Für den Antrag 'Bundesstaatslösung' - Bonn-Antrag-– 320 Stimmen. Für den Antrag 'Vollendung der Einheit Deutschlands' - Berlin-Antrag - 337 Stimmen, Enthaltungen 2."

    Die Mehrheit für Berlin war hauchdünn. Entschieden haben letztlich die Stimmen der PDS: Sie war die einzige Partei, die von Anfang bis Ende geschlossen für Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz eintrat.