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Entscheidung in der Krise

Endspurt in Frankreich: Am 22. April findet der erste Wahlgang statt. Auf der letzten Etappe versuchen die Kandidaten, mit den Themen Innere Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und Bildungsnotstand ihre Anhänger zu mobilisieren.

Von Ursula Welter | 18.04.2012
    Vor drei Monaten rief Francois Hollande den Sieg der Linken aus. In Le Bourget, nördlich von Paris. Es war seine erste große Rede als Präsidentschaftskandidat. Gelobt wurden Rhetorik und Ton, Hollande zeigte Kampfeslust. Bis dahin war er der zwar freundliche, aber doch blasse Anwärter auf das Spitzenamt: "Changement", "Redressement", "Justice" – das sind seine zentralen Schlagworte, der Wechsel, eine neue Politik mit einem neuen Präsidenten; er werde das Land wieder aufrichten, für Gerechtigkeit sorgen. "Ich bin bereit", rief er in Le Bourget. Da war Nicolas Sarkozy offiziell noch nicht in den Wahlkampfring gestiegen. Da lag der Kandidat der Sozialisten unangefochten vorne, in den Umfragen für den ersten und für den zweiten Wahlgang. Inzwischen hat der Wind für die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ein wenig gedreht. Einige Forschungsinstitute rechnen den Amtsinhaber für den ersten Wahlgang auf Platz eins. Punkten konnte Nicolas Sarkozy im März, als das Land von Attentaten erschüttert wurde: "Weitermachen wie bisher?"– Nicht möglich nach den "Ereignissen von Toulouse und Montauban". Ein junger Franzose mit algerischen Wurzeln hatte kurz zuvor drei französische Soldaten, drei jüdische Kinder, einen jüdischen Lehrer kaltblütig ermordet - im Namen des "Dschihad".

    Mit den Attentaten erlebte der Wahlkampf in Frankreich eine Wende. Nicolas Sarkozy bekam Gelegenheit, das Gewand des Kandidaten ab- und jenes des Präsidenten anzulegen. Das Thema "Innere Sicherheit" hatte schon im Wahlkampf 2007 zu seinen Erfolgsrezepten gehört.

    Der Täter wurde gestellt, starb im Kugelhagel der Sicherheitskräfte, ihnen und dem Innenminister, Claude Guéant, schulde das Land Dank. Frankreich lasse sich nicht von Terroristen in die Knie zwingen, sagte der Staatspräsident, kaum, dass er in den Wahlkampf zurückgekehrt war.

    Die Ereignisse von Toulouse und Montauban hätten nichts geändert, versuchte Francois Hollande die Kampagne wieder auf seine Spezialthemen zu lenken. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, geringe Kaufkraft, Bildungsnotstand – das seien die Fragen, die sich stellten - die Fragen der Ungerechtigkeit, die fünf Jahre Amtszeit Sarkozy produziert hätten.

    32 Jahre an der Nähmaschine, jetzt arbeitslos. Es sind Tränen wie diese, die die wirtschaftliche Misere Frankreichs allgegenwärtig machen. Kaum eine Nachrichtensendung, die nicht von Firmenschließungen, Arbeitsplatzverlagerung, Absatzproblemen, Kurzarbeit handelt.

    Nicolas Sarkozy habe in seiner Amtszeit vieles versucht, schrieb der Leitartikler einer Zeitung im Elsass. Er habe eine große Anleihe initiiert, um Investitionen in Zukunftstechnologien zu fördern; er habe eine Unternehmenssteuer abgeschafft, die zuvor schwer auf den Betrieben gelastet habe - aber der Erfolg sei ausgeblieben, selbst französische Autokonzerne mit Staatsbeteiligung würden ihre Produktion ins Ausland verlagern.

    "Ich denke, am Härtesten trifft es die Ärmsten, wie immer ...","

    … erzählt dieser Grafiker den Reportern des französischen Rundfunks – er lebe im Elsass und sei es gewohnt, stets einen neuen Job suchen zu müssen. Aber immerhin habe er eine Ausbildung:

    ""Wer in seiner Jugend keine Chancen hatte auf eine gute Ausbildung, der hat auch kaum Möglichkeiten, einen Beruf zu lernen."

    Die Zahl der Schulabbrecher ist hoch, die Konstruktion des Schulsystems elitär. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich liegt mit zehn Prozent auf Rekordniveau, in manchen Regionen und Altersgruppen liegt die Quote drastisch höher. Die Sozialisten sagen, das sei die Bilanz des Präsidenten Sarkozy; der scheidende Präsident meint, die Finanzkrise habe die Lage verschärft; der rechtspopulistische "Front National" schiebt es auf Europa und den Euro.

    Mittendrin die Wähler, sei es im Elsass oder weiter im Süden wie hier in Marseille: Zwei Frauen sitzen am Rande des Hafenbeckens. Wie viele junge Leute geben sie bereitwillig und freundlich Auskunft über ihre Lage, über das, was sie denken.

    "Die Wahlen geben uns immerhin die Möglichkeit abzustimmen und einen Kandidaten auszusuchen, der sich um unsere Belange kümmert, der uns aus der Krise führt."

    Die Krise – für die jungen Frauen heißt das vor allem zweierlei: Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit – ja vor allem die Arbeitslosigkeit. Es ist schwer, eine Stelle zu finden, sagen beide, selbst Aushilfsjobs sind rar. Die Mieten so hoch, dass viele junge Leute bei ihren Eltern wohnen. Viele Haushalte sind am Rande ihrer Möglichkeiten angelangt. Manche Wohnung blieb in diesem Winter kalt, selbst Familien der Mittelschicht fehlte es an Geld für die Heizung. "Frankreich leidet" – so heißt es in diesem Wahlkampf immer wieder. Ob Amtsinhaber oder Herausforderer, alle geben vor, die Probleme zu sehen, Antworten zu haben. Der Politologe Alfred Grosser über das "leidende Frankreich":

    "Da sind die Millionen, die keine Wohnung haben, sich keine Wohnung leisten können, nicht zu kaufen, nicht zu mieten, das ist alles zu teuer. Ich habe erfahren, mit Erstaunen, vor einigen Monaten, dass einige Angestellte der Stadt Paris unter den Brücken schlafen, weil sonst der Weg zu weit ist – denn man wird weit von Paris weggetrieben, wenn man eine Wohnung finden will, zumal als junges Ehepaar mit Kindern."

    Wohnungsmisere, schwache Wirtschaftskraft, hohe Arbeitslosigkeit – vor allem die "banlieues", die Vorstädte ächzen darunter:

    "Leidend sind natürlich die jungen Leute in den Vororten, die Franzosen sind im Gegensatz zu den meisten jungen Türken in Berlin, die sind Franzosen und fühlen sich um so mehr diskriminiert, als sie Franzosen sind, und sie kommen nicht raus. Wenn zwei Bewerbungen da sind, eine von Jean Martin und eine von Mohammed, bekommt die Stelle immer Jean Martin, auch wenn seine Bewerbung nicht so gut ist wie die andere. Das ist auch ein leidendes Frankreich."

    Die Schule bereite schlecht auf das Arbeitsleben vor, die Bildungsbilanz der Amtszeit Sarkozy sei verheerend.

    Es ist schon ermüdend, in einer Schule wie dieser zu unterrichten, berichtet ein Lehrer in Saint-Denis, nördlich von Paris. Die Zahl der Schulabbrecher, der Schulverweigerer ist hier besonders hoch. Mit Theaterprojekten versucht man, die jungen Leute von der Straße zu holen, Unterrichtsthema: "Vertragt Euch!"

    Am Anfang des Jahres hatte ich noch Probleme mit den anderen, konnte sie nicht leiden, jetzt haben wir uns besser kennengelernt, in dieser Theatergruppe, dieselben Szenen zu spielen, das bringt uns näher, das ist gut, sagt dieser Junge. Initiativen gibt es viele, es wird viel versucht gegen die Perspektivlosigkeit der Vorstädte. Nachdem Frankreichs "banlieues" 2005 gebrannt haben, wurde manches Projekt auf den Weg gebracht, der Erfolg blieb gering, mal fehlte es an Geld, mal an politischem Willen.

    Eine Stadt wie Marseille mit ihren Überwachungskameras, der hohen Zuwanderung, der Alltagskriminalität, den Drogenkriegen, die auf offener Straße ausgetragen werden, eine Stadt wie Marseille zeige das Scheitern des Amtsinhabers in puncto "Innere Sicherheit", schimpft die Präsidentschaftskandidatin des rechtspopulistischen Front National, Marine Le Pen, und ruft: Wo ist denn Sarkozys "Kärcher", der Hochdruckreiniger?

    Um ihr das Feld Sicherheit und Immigration nicht allein zu überlassen, kontert Nicolas Sarkozy auf seine Art: Warum nicht anerkennen, dass Zuwanderung auch ein Problem sein kann, warum lügen?

    Der Kandidat der Sozialisten, Francois Hollande, versucht es mit konkreten Vorschlägen: Junge Lehrer sollten nicht mehr gleich in die schwierigsten Schulen gesteckt werden. Sein Kapitel "Soziales" im Wahlprogramm verspricht einen Pakt der Generationen, 150.000 zukunftsfeste Arbeitsplätze für junge Leute, spezielle Hilfen für Berufseinsteiger, mehr Geld für die bedürftigen Familien gleich zu Beginn des neuen Schuljahres.

    Auch Amtsinhaber Nicolas Sarkozy begibt sich gerne auf das Terrain der Jugend. Wie hier in Montpellier, im Südwesten Frankreichs. Er besucht ein Collège hier, eine Schule dort, verspricht eine "Bank der Jugend", damit Stipendien den Weg ins Berufsleben ebnen. Jedes Kind müsse rechnen, schreiben, lesen können, wenn es die weiterführende Schule besuche – und da das heute in Frankreich nicht selbstverständlich ist, will Sarkozy Zusatzbetreuung für die Problemfälle organisieren, 2000 Euro etwa kalkuliert er pro Kind; Lehrer sollen verpflichtet werden, Zusatzstunden zur Unterstützung der bedürftigen Schüler abzuhalten.

    Der Amtsinhaber könne viel versprechen, sagen die Sozialisten, er müsse sich an seiner Bilanz messen lassen. 80.000 Stellen seien in den Schulen gestrichen worden, klagen im Chor mit der Opposition die mächtigen Lehrergewerkschaften.

    "Es gibt für alles Grenzen. Hier wird traditionell eher rechts gewählt. Aber ich denke, was in den Schulen los ist, wird sich im Wählervotum niederschlagen. So viel ist sicher."

    Die Sozialisten mit Francois Hollande versprechen, 60.000 neue Lehrerstellen schaffen zu wollen. "Unbezahlbar", kontert Amtsinhaber Sarkozy. Damit Arbeitsplätze entstehen könnten, müssten zunächst die Lohnkosten gesenkt werden. Er werde die Jugend nicht belügen, die Jugend Griechenlands sei belogen worden, die Jugend Spaniens, schauen Sie sich an, wohin das geführt hat, sagt Sarkozy auf einer Wahlkampfveranstaltung in Versailles.

    Die Soziologin Anne Muxel von der Elite-Hochschule für Politische Wissenschaften "Science Po" in Paris, nennt die Jugend Frankreichs pragmatisch. Diese Generation, das seien gleichsam "die Kinder der Krise", aufgewachsen mit einer Abfolge schlechter Zeiten. Für wen werden diese "Kinder der Krise" bei den Präsidentschaftswahlen stimmen?

    Ich kenne einige, die nicht wählen gehen wollen, sagt diese junge Frau über ihre Altersgenossen. Mancher werde erst im letzten Moment entscheiden, ob und was er wählen werde, sagen die Meinungsforscher. Viele junge Franzosen zwischen 18 und 24 Jahren zeigen Sympathie für radikale und populistische Gruppierungen. Noch im Herbst war der Zuspruch für die etablierten Parteien, vornehmlich für die Sozialisten, groß. Das hat sich geändert. 26 Prozent der Jungwähler sagen, sie wollten ihre Stimme dem rechtspopulistischen "Front National" und deren Spitzenkandidatin Marine Le Pen geben:

    "Die Kandidatin der Jugend zu sein, das ist für mich ein großes Hoffnungszeichen, denn das bedeutet immerhin, die Kandidatin der Zukunft zu sein …","

    … sagt Marine Le Pen. Euro abschaffen, Einwanderung auf ein Minimum beschränken, das sind Kernforderungen des "Front National". Disziplin in der Schule, mehr Geltung für die klassische Familie, strengere Auswahl auf dem Weg zum Abitur und an die Elitehochschulen – auch das steht im Wahlprogramm, von dem nicht klar ist, ob es die potenziellen Jungwähler des "Front National" gelesen haben. Dass simple Botschaften ihre Wirkung nicht verfehlen, zeigt auch der Zuspruch für das Extrem am anderen Ende des politischen Spektrums. Das linke Sammelbecken "Front de Gauche" schickt, mit Unterstützung der französischen Kommunisten, Jean-Luc Mélenchon ins Rennen.

    Mélenchon hat gut Lachen. Seine Sympathiewerte in der Altersgruppe bis 24 steigen ebenfalls markant. Er beklagt das liberale Wirtschaftsmodell in Europa, verspricht kostenfreien und gleichberechtigten Zugang zur Bildung, er sei gegen Ungerechtigkeit, schreibt Mélenchon in seinem Programm. Aufstockung der Mindestlöhne, Enteignung der Wohlhabenden, Revolution.

    Der Präsidentschaftskandidat des linken Sammelbeckens spielt die Rolle des Volkstribuns mit Erfolg und fordert nicht zuletzt seine früheren Parteifreunde, die Sozialisten, heraus.

    Am Ende ist es besser, nicht wählen zu gehen, als für jemanden zu stimmen, von dem man nicht überzeugt ist, sagt die junge Frau in Marseille, die allerdings bereits weiß, wem sie ihre Stimme geben möchte. Die besten Aussichten, neuer Präsident Frankreichs zu werden, hat der Kandidat der Sozialisten, Francois Hollande. Hollande ist der Kandidat des kleineren Übels. Sein Programm ist es nicht in erster Linie, das überzeugt, es ist der Groll gegenüber Amtsinhaber Sarkozy, der Hollande nach oben gespült hat. Und der Sozialist ist sich dessen durchaus bewusst, wenn er über seine Wahlchancen spricht.

    Es ist beides, auf der einen Seite gibt es diese Ablehnung, und man muss einen anderen Präsidenten finden, um den alten abzulösen zu können. Und dann ist das der Zuspruch zu meinem Programm, meiner Person, macht sich Hollande Mut.

    ""Hollande ist nüchtern und etwas, was man in der Politik selten verzeiht, humorvoll, außerordentlich bodenständig, das heißt, er geht nicht in die Wolken, er ist gut ausgebildet, er ist der Mann des Ausgleichs, ein bisschen zu sehr gewesen innerhalb der Partei, aber er war Generalsekretär der Partei, also musste er ausgleichen."

    Generalsekretär der Partei, Regionalpräsident in der Corrèze im Südwesten Frankreichs - ob Hollandes Erfahrungen ausreichen, um das höchste Staatsamt auszufüllen? Der Politologe Alfred Grosser:

    "Wenn Hollande siegt, wissen die Götter, wie er die Krise meistert."

    Nicolas Sarkozy liegt in den Umfragen für den zweiten Wahlgang am 6. Mai hinten. Und er riskiert mit seinem Wahlprogramm viel. Die Neuverschuldung will er bis 2016 auf Null fahren, 125 Milliarden Euro einsparen, noch im Juli die Schuldenbremse in ein Gesetz gießen - Haushaltssanierung, aber keine Steuererhöhungen, lautet das Versprechen Sarkozys.

    Und damit nicht nur die Sozialisten das Thema Wirtschaftswachstum besetzen, will der Amtsinhaber im Falle der Wiederwahl die Europäische Zentralbank verpflichten, mitzuhelfen.

    Das wurde Zeit, sagt Francois Hollande, denn auch er sieht die EZB in der Pflicht, seit Langem, sie habe viel zu spät Staatsanleihen aufgekauft, sagt Hollande, das sei die Staaten teuer zu stehen gekommen. Auch er will die Neuverschuldung auf Null fahren, ein Jahr später als Sarkozy. Seine Berechnungen stellt er unter den Vorbehalt eines Wirtschaftswachstums von zwei bis zweieinhalb Prozent. Davon ist Frankreich weit entfernt. Für den EU-Gipfel Ende Juni will Francois Hollande, im Falle des Wahlsiegs, einen neuen Fiskalpakt auf den Tisch bringen.

    Der Vertrag für den Europäischen Fiskalpakt ist unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, also gibt es Handlungsspielraum, sagt Hollande. Mit Sparen allein komme Frankreich, Europa nicht auf die Beine. Damit haben die Franzosen die Wahl.

    Ich weiß nicht, wen ich wählen soll, sagt diese Bäuerin. Wie so viele in diesem Wahlkampf schiebt auch sie Europa und Brüssel eine Mitschuld an der Misere zu und glaubt nicht, dass einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das höchste Amt im Staat das Ruder herumreißen kann. Gleich, ob der Neue im Elysée Francois Hollande heißen wird oder ob es Nicolas Sarkozy sein wird, der seine Anhänger bis zuletzt um Hilfe bittet.