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Entstehung der Evangelien
Markion - ein Erfinder des Christentums

Markion lebte am Ende des erste Jahrhunderts an der Südküste des Schwarzen Meeres. Er veröffentlichte eine eigene Bibel, die die Heilige Schrift der Juden ersetzen sollte. Markion gilt als Ketzer, neuere Forschungen sehen in ihm jedoch einen christlichen Kultstifter.

Von Christoph Fleischmann | 16.09.2020
Antikes Manuskript, aufbewahrt in der Bibliothek des Katharinenklosters im Sinai in Ägypten
Welche Texte sind zu bewahren? Diese Frage hat Markion von Sinope schon im 1. Jh. beschäftigt (imago images / Le Pictorium)
"Also Markion ist aus meiner Sicht ein investigativer Mensch gewesen, der dem frühen Christentum so etwas, wenn ich jetzt mal salopp sagen darf, wie einen Stresstest beigebracht hat", sagt Eve Marie Becker. Stress gab es wegen Markion.
Der erste große Ketzer
Allein nichts ist so befremdlich für uns und so traurig für Pontus, als dass dort Markion geboren wurde.
So schrieb es der Jurist und Schriftsteller Tertullian, der heute als "Kirchenvater" bezeichnet wird über den, der als der erste große Ketzer der jungen Christenheit galt: Markion, am Ende des ersten Jahrhunderts geboren in Sinope an der Südküste des Schwarzen Meeres, in der Region Pontus. Tertullian widmete ihm sogar eine Streitschrift. Gegen Markion. Darin heißt es:
Markion ist verwegener als eine Amazone, dunkler als der Nebel, kälter als der Winter, spröder als das Eis, trügerischer als die Donau, gefahrvoller als der Kaukasus.
Tertullian stammte aus dem mediterran-milden Kathargo in Nordafrika.
Bei Markion wird ja der allmächtige Gott wie ein wahrer Prometheus zerfleischt. Markion ist sogar reißender als die wilden Tiere jenes Barbarenlandes. Die pontischen Ratten sind nicht so gefräßig, wie er, der die Evangelien angenagt hat!
Gott zerfleischt und die Evangelien angenagt wie die wilden Ratten: Ein Ketzer, der die ursprüngliche christliche Botschaft verfälscht hat.
"Er ist ein theologisch interessierter Geschäftsmann, Händler, der daran interessiert ist, sozusagen die Jesus-Überlieferung zu sichern, das glaube ich schon, ja."
Kirchenvater Tertullian
Kirchenvater Tertullian war ein erbitterter Gegner Markions (imago images / United Archives International)
Wenn der Kirchenhistoriker Wolfram Kinzig von der Universität Bonn über Markion von Sinope redet, klingt das freundlicher als bei Tertullian.
"Und der gleichzeitig auch feststellt, dass es zwischen dem Alten und dem Neuen Testament Spannungen gibt und er würde die als Widersprüche deuten, und zwar speziell zwischen dem Gott des Alten Testamentes als dem gerechten und auch strafenden Gott und dem Gott des Neuen Testamentes als einem Gott der Liebe."
Überholt und abgetan
Der Geschäftsmann Markion, er war wohl so etwas wie ein Seehändler mit eigenem Schiff, sammelte Paulusbriefe und veröffentlichte sie zusammen mit einem Evangelium, einem Bericht von Jesu Leben. Damit, so die gut abgehangene Meinung der Forscherinnen und Forscher, habe Markion die Christenheit erstmals vor die Frage gestellt, ob es eine eigene heilige Schrift der Christusgläubigen geben müsse: ein Neues Testament.
"Also er hat selektiv gewirkt, indem er in seine Bibel einen bestimmten Ausschnitt an Briefen aufgenommen hat, Paulusbriefe, einen bestimmten Ausschnitt an Evangelien, das Lukas-Evangelium, hat er sehr stark selektiv gewirkt. Und ich sehe in dieser Selektion eigentlich das innovative, dass er versucht hat, eine Kanonisierung anzustoßen, dass die Christen der Zeit über die Kriterien nachdenken müssen, warum und welche Texte sie sammeln und wie sie sie bewahren."
Eve-Marie Becker ist Professorin für Neues Testament an der Universität Münster. Für die ersten Christengemeinden war die Heilige Schrift die selbe wie die der Juden: Das Alte Testament in griechischer Übersetzung. Aus zehn Paulusbriefen und einer verkürzten Fassung des Lukasevangeliums formte nun Markion eine neue Bibel. Außerdem war ihr eine Einleitung vorangestellt: die Antithesen. Verse aus seiner Bibel – im Gegenüber zu Versen aus der bisherigen Heiligen Schrift. Die Bibel des Markion war also kein Angebot zur Ergänzung, sondern zur Ersetzung der bisherigen Heilige Schrift. Kinzig:
"Er arbeitet sehr stark mit dem Gegensatz zwischen Alt und Neu: In Christus ist alles neu geworden. Das sind für ihn so ganz starke Sätze. da legt er einen großen Wert drauf, also in Christus hat das eine Zeitenwende gegeben geradezu. Und wenn das so ist und wenn wir zwei Götter haben, nämlich einen gerechten Gott und einen liebenden Gott, dann muss man fragen, wie stehen auch diese Schriften-Corpora miteinander, wie verhalten siesich zueinander, und er würde sagen: Das Alte Testament ist überholt und abgetan."
Abweichler oder Kultstifter
Eine Interpretation, die sich nicht durchgesetzt hat unter den Christusgläubigen. Der Fall scheint also klar: Markion reiste vom pontischen Sinope nach Rom, trat der dortigen Christengemeinde bei und spendete ihr die enorme Summe von 200.000 Sesterzen. Im Jahr 144 nach Christus stellt er seine Bibel mit seinen Antithesen vor. Die Ältesten der Gemeinde lehnen die Lehre des Markion ab, er bekommt sein Geld zurück und gilt fortan als Ketzer. Das heißt auch: Seine Schriften haben nicht als eigenständige Handschriften überlebt, sie müssen aus den zahlreichen Anklagen seiner Gegner rekonstruiert werden. Die Fronten aber waren klar – bis in die heutigen Geschichtsdarstellungen – bis vor Kurzem:
"Die Frage ist, welche Rolle spielt dieser spezifische Mann im zweiten Jahrhundert, ist jetzt seit 20 Jahren wieder in die Diskussion gekommen."
Präsentation eines Bibel-Mauskripts im Rahmen einer Ausstellung im Bible Lands Museum in Jerusalem
Neue Technologien - neue Hypothesen für die Frühgeschichte des Christentums? (imago / Xinhua)
Einer, der in dieser Diskussion mit sehr pointierten Thesen mitmischt, ist Markus Vinzent, Professor für Theologiegeschichte am King’s College in London und Fellow am Max-Weber-Kolleg in Erfurt.
"Es gab vom dritten/vierten Jahrhundert vor Christus bis etwa zweites Jahrhundert nach Christus immer wieder Individuen, die nach einem fast ähnlichen Schema einen Kult gestiftet haben. Das begann meistens mit einer wirklichen Stiftung; das heißt, es hat jemand Geld gehabt oder Länder gehabt und hat entsprechend eine Stiftung geschaffen. Ich denke, Markion war einer dieser gar nicht so innovativen, sondern eben relativ konservativen Kultstifter, die innerhalb des existierenden Kultbereiches ein besonderes orthodoxes Feld abgesteckt haben für den eigenen Kult."
Markion also nicht als Abweichler, sondern als neuer Kultstifter und zwar ein Kultstifter, das ist die Pointe bei Markus Vinzent, der zum ersten Mal einen erkennbar christlichen Kult geschaffen habe; denn zuvor seien die Christusanhänger wohl eher eine besondere Spielart der jüdischen Gemeinschaft gewesen und keine davon abgegrenzte, eigenständige Religion. Markus Vinzent:
"Wir dürfen nicht vergessen, Jude zu sein im Römischen Reich war ein Privileg. Es war nicht dasselbe, als wenn man römischer Staatsbürger gewesen wäre, der in Rom gelebt hat. Aber es war eine gewisse Privilegierung: Sie mussten am Sabbat nicht den Gerichtssaal betreten. Ihre Weizen-Sendung, die am Sabbat im Hafen gelandet war, wurde vom Staat beschützt, dass sie den am Sonntag entladen können. Also es gab Privilegien, und es wäre geradezu unverständlich, warum Menschen freiwillig auf die sozialen Privilegien und politischen Privilegien verzichten sollten. Und das hat sich im zweiten jüdischen Krieg geändert. "
Abgrenzung vom Judentum
Als im 18. Jahre der kaiserlichen Regierung der Kampf gegen Beth Thera, eine kleine, stark befestigte, nicht weit von Jerusalem entfernte Stadt, seinen Höhepunkt erreicht, sich die Belagerung immer mehr in die Länge gezogen, Hunger und Durst die Aufständischen in äußerste Not gebracht hatte und der Urheber des Wahnsinnes in verdienter Weise bestraft worden war, wurde durch Gesetzesbestimmung und durch Verordnungen Hadrians dem gesamten Volke verboten, das Gebiet um Jerusalem von nun ab überhaupt noch zu betreten. Nach der Weisung Hadrians sollten die Juden den heimatlichen Boden nicht einmal mehr aus der Ferne sehen.
Die blutige Niederschlagung des jüdischen Aufstandes im Jahr 135 habe für Juden wie für Christus-Anhänger eine Neu-Formation erzwungen: Dazu gehörte eine Abgrenzung von den nun politisch verdächtigen Juden und eine schriftliche Sicherung der Tradition, so Vinzent:
"Und da denke ich, war er derjenige, der als vermutlich erster - wir haben, zumindest keine Zeugnisse, dass es das vorher gab, als erster Texte zusammenstellt: Die Briefe des Paulus. Er ordnet dann diese Briefe, und zwar nach zwei Kriterien. Er schafft daraus eine Biografie des Paulus; also er fängt mit dem Paulus-Brief an, der der jüngste Brief ist, der Galater-Brief, und endet mit dem Philemon Brief, wo es heißt, Paulus ist da ein alter Mann, der im Gefängnis sitzt. Und er ordnet die Briefe geografisch, also von Galatien über Griechenland bis nach Rom. Ich glaube, so, wie er als Redakteur gearbeitet hat, so hat er eben auch als Redakteur mit den Materialien gearbeitet, die er über Jesus sammeln konnte. Er hat sie biografisch angeordnet, und er hat sie geografisiert, und das nennen wir ein Evangelium."
Galater-Brief aus einer französischen Bibel
Markus Vinzent glaubt, dass Markion der erste war, der die Paulusbriefe chronologisch geordnet hat (imago images / UIG)
Markion hat für Vinzent die Gattung des Evangeliums überhaupt erst erfunden, also das erste Evangelium geschrieben: das Evangelium in seiner Bibel sei keine Kurzfassung des schon bestehenden Lukasevangeliums, sondern das Lukasevangelium sei in Reaktion auf Markions Evangelium verlängert worden. Eine These, mit der sich Vinzent mit fast allen Neutestamentlern anlegt, denn die gehen in der Mehrheit davon aus, dass die Evangelien der Bibel schon in den Jahren zwischen 70 und 90 nach Christus geschrieben worden seien.
"Die Frage des Verhältnisses der synoptischen Evangelien zueinander ist eine lang diskutierte Frage, die mit Griesbach am Ende des 18. Jahrhunderts prinzipiell begonnen hat, weil er das erste Mal in programmatischer Weise auch die drei Evangelien Markus, Matthäus Lukas als synoptischen Evangelien einander gegenübergestellt hat", so Even-Marie Becker.
Synoptisch heißt: Diese drei Evangelien weisen ganz augenfällige Gemeinsamkeiten auf, das heißt, die Autoren müssen in der einen oder anderen Form die Texte der jeweils anderen gekannt und als Vorlage genutzt haben, erklärt Eve-Marie Becker:
"Dann hat sich doch im Laufe des 19. Jahrhunderts sehr stark die Tendenz durchgesetzt von der sogenannten Markus-Priorität auszugehen, also Markus für das älteste Evangelium zu halten. Ein wichtiges Argument ist die Kürze des Markus-Evangeliums. Aber wenn man sich jetzt Matthäus und Lukas vorstellt, als diejenigen späteren Evangelisten, die Markus als Vorlage vorliegen haben, dann ist da natürlich noch nicht hinreichend erklärt, wie Matthäus und Lukas an anderen Stellen übereinstimmen und woher sie das Material haben, bei dem sie übereinstimmen. Also wurde dann die These der von der Logien-Quelle entwickelt, also eine nicht mehr vorhandene Quelle, die wir auf der Basis des Matthäus und Lukas Evangeliums rekonstruieren."
Ein großer Hypothesen-Raum
Eine Quelle mit Jesus-Worten, die man nicht vorliegen hat – deren Existenz man aber rückschließen kann. Im Raum der Antike kein unübliches Verfahren, da bekanntermaßen viele Quellen verloren gegangen sind:
"Wir bewegen uns hier in einem Raum von 200 Jahren, einem großen Hypothesen-Raum, der dadurch hervorgerufen ist, dass es auf der einen Seite sehr wenige Quellen gibt und auf der anderen Seite die Überlieferung der sehr wenigen Quellen hochkomplex ist. Und dann müssen sie daraus sozusagen eine Gesamterzählung rekonstruieren, die in sich homogen und die plausibel sein muss."
Die Quellen sind zwar nur spärlich vorhanden, aber nach Meinung von Markus Vinzent kann man doch ausmachen, worüber viel und worüber nicht geredet wurde:
"Also Kurt Aland, der Herausgeber von Nestle-Aland, dem Neuen Testament, der hat einen sehr interessanten Aufsatz geschrieben, einmal über die Rezeption, also über die Lesegewohnheiten des Paulus im zweiten Jahrhundert, und wundert sich darin, dass Paulus, in so viel unserer Literatur auch im Neuen Testament gekannt wird, diskutiert wird sich darauf bezogen wird, er wird zitiert, er wird auch manchmal abgelehnt: Also im 2. Petrusbrief wird uns berichtet, dass Briefe des Paulus gesammelt werden und gelesen werden. Es gibt Polykarp, es gibt Ignatius. Es gibt viele, viele Leute, die ihn zitieren. Clemens von Rom schreibt über ihn, zitiert ihn. Und dann sagt Kurt Aland: All das gibt es nicht für ein einziges Beispiel aus den Evangelien: Also keine Wundergeschichten werden in keiner dieser Schriften zitiert und genannt; es wird überhaupt nichts zitiert. Das einzige, was zitiert wird, sind Worte des Herrn, und wenn diese zitiert werden, stimmen sie fast nie überein mit unseren Evangelien."
Wenn es die Evangelien ab dem Jahr 70 gegeben hätte, hätten sie als Berichte von Jesus doch unter den Christus-Anhängern zitiert werden müssen, meint Vinzent.
"Man muss aber methodisch immer sehr vorsichtig sein. Das ist ein argumentum e silentio, also ein Argument, weil die Quellen über etwas schweigen. Und nun kann es viele Gründe geben, warum Quellen über etwas schweigen und der Hauptgrund hier ist: Es gibt ganz wenige Quellen."
Die Endzeit ist nah
Was spricht positiv dafür, dass die Evangelien schon früher geschrieben wurden?
"Also das Markus Evangelium ist eine sehr stark eschatologisch geprägte Erzählung also. Sie bringt doch noch sehr stark endzeitliche Erwartung, Naherwartungen zum Ausdruck. "
Eve-Marie Becker verweist darauf, dass die Wiederkunft Christi im Markus-Evangelium als nahe bevorstehend vorgestellt wird. Aber was genau heißt nah in den ersten Jahrzehnten oder Jahrhunderten nach Jesu Tod?
"Es ist nicht nur Naherwartung, sondern Markus nimmt sich ja immerhin die Zeit, ein Evangelium zu schreiben, und geht nicht von einer unmittelbar einbrechenden Parusie, also Wiederkehr Christi, aus. Aber er ist insgesamt doch noch deutlich stärker von dieser Vorstellung etwa beherrscht, als wir sie etwa bei Lukas finden."
Die Suche nach inneren Gründen für die Datierung von Evangelien bleibt hypothetisch. Zumal Vinzent in der Arbeit des Markion die eines ernsthaften Historikers sieht, der nach alten Quellen über Jesus geforscht habe. Eine späte Abfassungszeit bedeute also keineswegs, dass kein altes Material in den Evangelien enthalten sei:
"Wenn wir ihn nicht nur als irgendwie redaktionsbesessenen Maniker sehen, sondern wenn wir ihn sehen als gediegenen Wissenschaftler, der vielleicht in Sinope das Handwerk gelernt hat, wie man mit Texten umgeht, dann hat er uns eine Sammlung von verlässlicher Literatur und Materialien zu dem wahrscheinlich dann auch historischen Jesus gesammelt."
Vor wenigen Jahren hat der Neutestamentler Matthias Klinghardt das Evangelium des Markion rekonstruiert aus den Schriften seiner Gegner. Sein Ergebnis: Das Evangelium des Markion sei keine Kurzfassung des Lukasevangeliums, wie die Anklage seit Tertullians Zeiten lautete, sondern wahrscheinlicher sei es, dass das Lukasevangelium eine verlängerte Fassung des Evangeliums von Markion sei. Das stützt Vinzents These. Wolfram Kinzig bleibt skeptisch:
"Das Lukas-Evangelium – da sagt Tertullian, Markion habe das Lukas-Evangelium genommen und er habe es zurechtgestutzt, weil er davon ausgegangen sei, dass das Lukas Evangeliums jüdisch verfälscht worden sei. Und Markus Vinzent sagt: Ja, das ist die Behauptung des Tertullian. In Wahrheit ist das aber anders. Markion ist eigentlich das ursprüngliche und das, was wir als das Lukas-Evangelium haben, ist eine spätere Bearbeitung. Ich glaube, da schüttet er aber das Kind mit dem Bad aus. Ja, ich glaube, das sind längere Redaktions-Prozesse: Markion nimmt einen älteren Text und bearbeitet den möglicherweise und in Reaktion darauf ist dieses Lukas Evangeliums tatsächlich dann auch noch einmal antimarkionitisch bearbeitet worden. Das halte ich für plausibel."
Neuer archimedischer Punkt
Markus Vinzent aber geht noch weiter: Die gegenseitige Beeinflussung der Evangelienredaktionen sei am besten zu erklären, wenn man annimmt, dass alle biblischen Evangelien in kurzer Zeit an einem Ort entstanden seien: Nämlich in Rom in den Jahren 140 bis 144 in ständiger Auseinandersetzung mit Markions Projekt:
"Dann kann das nur heißen, dass Markion einen Text geschrieben hatte, den er nicht publiziert hat. Und das ist eigentlich ganz üblich, dass Lehrer ihre Texte zunächst einmal nicht publizieren und auch deshalb ohne Namen herausgegeben hat, weil er ihn überhaupt nicht herausgegeben hat. Aber es hat dazu geführt, nachdem die anderen Texte publiziert wurden, musste er seinen eigenen Text veröffentlichen. Deshalb wurde er nachher veröffentlicht, aber existiert hat er als Grundlage für die anderen schon zuvor. Deshalb kann er auch behaupten, die anderen hätten bei ihm abgeschrieben."
Wenn Markus Vinzent Recht hat und die Evangelien später datiert werden müssen, dann wird der Hypothesen-Raum mit wenigen Quellen, von dem Kinzig spricht, noch leerer: Die Anfänge des Christentums, wie wir es kennen, wird erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts greifbar.
"Also, ich bin beides: Ich bin zunächst einmal ein Enttäuscher und bin aber gleichzeitig auch konstruktiv. Und zwar Enttäuscher, dass ich glaube, dass vor der Paulus-Sammlung, die uns von Markion gegeben wurde und vor dem Evangelium, das uns gegeben wurde, dass wir davor nicht zurückreichen können; das ist diese Enttäuschung. Die Konstruktion besteht aber darin, dass wir, wenn wir unser Neues Testament betrachten, tatsächlich etwas konstruieren können und nicht nur hypothetisieren müssen. Denn zum ersten Mal haben wir einen Redakteur, den wir kennen, und dort gebe es sehr viel zu entdecken, auch an dem, was eventuell vorausliegen kann. Aber wir müssen von einem anderen Grund anfangen."
Ausgerechnet der Erzketzer als der neue archimedische Punkt für die Erforschung des frühen Christentums. Vielleicht nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint: Denn nur was strittig war, wurde vehement und schriftlich ausgetragen und hat demzufolge überlebt. Und auch, wenn man Markus Vinzent nicht folgen mag: Das Feld der frühen Christentumsgeschichte ist wieder spannender geworden, denn der bisherige Forschungskonsens ist keineswegs in Stein gehauen, sondern ebenfalls als hypothetische Rekonstruktion sichtbar geworden.