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Entstehung von Riesenviren
Rätselhaftes aus der Kläranlage

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entdeckten Forscher, dass es nicht nur die typischen kleinen Viren gibt, sondern auch Riesenviren. Diese gaben bislang viele Rätsel auf. Unter anderem ist offen, wie sie entstanden sind. Eine Studie soll neue Erkenntnisse liefern.

Von Dagmar Röhrlich | 07.04.2017
    Kläranlage der Stadt Northeim
    Forscher entdeckten das neue Riesenvirus im Abwasser eines Klärwerks. (imago/stock&people/Hubert Jelinek)
    Als die Riesenviren entdeckt wurden, war das Aufsehen groß: Schließlich zerstörten sie ein 150 Jahres alte Dogma, dass Viren winzig und einfach "gestrickt" zu sein hätten - mit gerade genug Erbinformationen, um in ihre Wirtszelle einzudringen und sie in eine Kopiermaschine zu verwandeln. Riesenviren sind da anders:
    "Die Partikel von Riesenviren können so groß sein wie die Zellen von manchen Bakterien. Und ihre Genomgröße kann auch vergleichbar sein mit manchen Bakterien. Und das Interessante daran ist, dass diese recht großen Virengenome Gene oder Baupläne für die Proteinbiosynthese enthalten. Und das kannte man vorher eigentlich nur für zelluläre Organismen," beschreibt Tanja Woyke vom Joint Genome Institute des U.S. Department of Energy bei Berkeley. Gemeinsam mit Kollegen hat sie ein neues Riesenvirus entdeckt, und zwar im Abwasser des Klärwerks im österreichischen Klosterneuburg. Sein Name: Klosneuvirus.
    "Wir haben Metagenomik benutzt. Das heißt, man nimmt das gesamte Erbgut von allen Organismen in der Probe – und das schließt auch DNA-Viren ein. Wir haben das Erbgut von dieser Mischung von Organismen entschlüsselt und anschließend durch bioinformatische Methoden ein Riesenvirus gefunden."
    Funktion der meisten dieser Gene noch unbekannt
    Das Genom von Klosneuvirus, das wahrscheinlich ein spezielle Gruppe von Einzellern befällt, sei ungewöhnlich, selbst im Vergleich zu anderen Riesenviren, urteilt Frederik Schulz vom Joint Genome Institute:
    "Klosneuvirus ist von seiner genetischen Ausstattung her zellähnlicher als alle bislang entdeckten Riesenviren. Es besitzt rund 1.500 Gene. Allerdings ist die Funktion der meisten dieser Gene momentan noch unbekannt. Neben den typischen Virengenen, die zur Infizierung des Wirts und zur Vermehrung in diesem benötigt werden, findet man mehr als 700, die Ähnlichkeit zu zellulären Genen aufweisen. Unter diesen Genen wiederum sind auch solche, die Werkzeuge für die Biosynthese von Proteinen codieren."
    Insgesamt 40 dieser speziellen Gensequenzen haben die Forscher entdeckt, viermal mehr als beim bisherigen Rekordhalter unter den Riesenviren. Trotzdem hängt auch Klosneuvirus bei der eigentlichen Proteinproduktion von seinem Wirt ab. Was die Frage aufwirft, warum es so ein komplexes Genom hat:
    "Seit der ersten Entdeckung der Riesenviren haben sich die Virenforscher und Evolutionsbiologen den Kopf zerbrochen über den Ursprung dieser Viren."
    "Die vorgelegten Daten sind nicht aussagekräftig genug"
    Es gibt zwei Hypothesen. Die erste geht davon aus, dass Riesenviren von komplexen, zellähnlichen Organismen abstammen, die sich zu Parasiten - eben zu Viren - entwickelt haben. Dabei verloren sie nach und nach viele der nicht mehr gebrauchten Gene. Das zweite Modell funktioniert genau umgekehrt: Danach stammen Riesenviren von kleinen Viren ab und "klaubten" sich ihr zusätzliches Erbmaterial im Lauf der Zeit von ihren Wirtszellen zusammen. Den Forscher biete die umfangreiche genetische Ausstattung von Klosneuvirus die Chance, beide Modelle zu testen, erklärt Frederik Schulz:
    "Genau das haben wir in dieser Studie gemacht, also Stammbäume für jedes der Gene, die potenziell eine Rolle in der Proteinbiosynthese spielen, rekonstruiert. Unsere Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass die meisten dieser Gene von verschiedenen zellulären Organismen abstammen."
    Sprich: Dass Klosneuvirus von einem kleinen Virus abstammt und sich seine Gene zusammengesammelt hat - und zwar zu verschiedenen Zeitpunkten im Lauf seiner Entwicklung. Ist Hypothese zwei zur Entstehung der Riesenviren damit belegt? Nein, sagt Chantal Abergel vom Laboratoire Information Génomique et Structurale in Marseille. Sie ist weder von den Daten aus Kalifornien überzeugt, noch von deren Interpretation und schreibt in einer E-Mail:
    "Die vorgelegten Daten sind nicht aussagekräftig genug, um entscheiden zu können, ob ihr Genom von einer Urzelle abstammt oder durch viele Gentransfers von Wirtszellen zustande kam."
    Unter anderem sei die eingesetzte Methode zu ungenau für solche Analysen. Klarheit sollen Versuche an der Universität Wien bringen. Dort wird versucht, das Virus in Kultur zu bringen, um es genau zu untersuchen. Der Ursprung der Riesenviren bleibt also weiter umstritten.