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Entzweigesperrt

Ein Mann sitzt allein in seiner Wohnung, als das Telefon klingelt und eine Frau am Apparat ist, die er vor vielen Jahren einmal kannte. Ob sie sich treffen könnten, fragt sie, er lehnt ab und legt auf. Plötzlich ist sein Kopf voller Bilder. "Das Thema dieses Romans ist die Liebe, ganz einfach", so Ingo Schramm. "Das war der Grund, weshalb ich diesen Roman geschrieben habe. Ich mal einen Roman über die Liebe schreiben."

Maike Albath | 16.10.1998
    Keine alltägliche Romanze, sondern eine Geschichte über die Unwägbarkeiten der Liebe ist es, die Ingo Schramm in seinem neuen Roman "Entzweigesperrt" erzählt. Ein Mann und eine Frau lernen sich in der DDR der späten siebziger Jahre kennen, sie gefallen einander und beginnen eine Beziehung. Schon fangen die Probleme an: Im Bett klappt es nicht so richtig, denn der Mann ist ein zwanghafter Selbst-Beobachter. Kaum ensteht Intimität, nimmt er die klebrige Haut der Frau wahr, riecht ihren Schweiß, kategorisiert jede Berührung und sieht in seinem Begehren nichts anderes als ein phylogenetisch determiniertes Verhalten. Erst als er begreift, daß seine Freundin ihn um seiner selbst willen liebt, löst sich dieser Mechanismus auf. "Die Quintessenz dieses Liebesgesprächs ist ja dann auch die, daß sämtliche Überlegungen über die Liebe hinfällig werden, weil die einzige Faktizität der Liebe darin besteht, daß man sie macht, daß man sie tut", erklärt Ingo Schramm. "Insofern ist die Frau ja schon von Anfang an auf der richtigen Fährte, während der Mann sich dort offenbar erst hinarbeiten muß, weil er den ganzen ideengeschichtlichen Müll erst beseitigen muß, um in einen Zustand zu kommen, in dem die Liebe als reines Tun, als reines Machen übrig bleibt."

    Ingo Schramm denkt die Etymologie des Begriffes mit: "machen" heißt im Griechischen "poiein" - der Poet, der Dichter, ist eigentlich ein Macher, ein Schöpfer. Und so gestaltet Schramm die Liebesbeziehung seiner beiden Figuren, die er typisierend den ganzen Roman hindurch als "der Mann" und "die Frau" bezeichnet, als einen schöpferischen Prozeß. Zwar erfährt sich jeder als grundsätzlich verschieden von dem anderen; dieses Getrenntsein kann aber in ein neues Stadium überführt werden. "Letztlich gibt es zwei Formen von Subjektivität", so Schramm, "es gibt also das Ich, und es gibt das Du. Das Du, das andere, der andere ist also durchaus auch ein Subjekt, ein Individuum, aber eben anders als das Ich. Und wenn man versucht, diese Andersheit als eine begreifbare anzusehen, dann kann man an den Punkt kommen, wo Gemeinsamkeit möglich ist und wo die Differenz überbrückt wird. Wenn man es jetzt großkotzig philosophisch sagen möchte, dann könnte man sagen, daß man gegen die Postmoderne, wo die Differenz reingedacht wird, eben auch die Einheit der Differenz mitdenkt."

    Die philosophische Dimension ist subtil in das Schicksal des Paares eingearbeitet und erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick scheint der Roman vor allem um ein Phänomen der DDR-Gesellschaft zu kreisen: der Sehnsucht nach einem Leben in der anderen Hälfte der Republik. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten erfahren Schramms Helden so etwas wie Einheit, und das macht für einige Zeit ihr Glück aus. Doch plötzlich schleicht sich das Fremde, das Andere wieder ein, die Differenz gewinnt erneut etwas Trennendes. Als die Frau eines Tages davon spricht, daß sie das Land gerne verließe, versteht der Mann ihre Bedürfnisse nicht. Ohne ihrem Freund etwas davon zu sagen, stellt sie einen Ausreiseantrag. Schramm, 1962 in Leipzig geboren und in der DDR groß geworden, arbeitet mit seinem Buch also auch kollektive Erinnerung auf. An vier Stellen fällt die Erzählinstanz in ein plurales Wir und durchläuft im Eiltempo Standard-Biographien der DDR: von roten Nelken, Grundwehrdienst, häßlichen Kleidern aus dem HO-Kaufhaus bis zu Fernweh und West-Fernsehen, wobei in der vierten Passage typische Ost- und West-Leben ineinandergeblendet sind. Aber Schramm siedelt Entzweigesperrt nicht nur aus autobiographischen Gründen in der DDR an. Dahinter steckt auch ein dramaturgischer Schachzug. Schramm dazu: "Eigentlich müssen sie in dem Moment, wo sie sich trennen, also damals, annehmen, daß sie wirklich nie wieder, bis an ihr Lebensende und bis an ‘Die Mauer wird noch in hundert Jahren stehen’, bis über ihr Lebensende hinaus nie wieder zusammenkommen können. Und dann geschieht aber das Plötzliche, die Geschichte bricht sozusagen ein und alles wird von heute auf morgen ganz anders, und zufälligerweise begegnen sie sich dann ja doch wieder. Und dieses Überraschende ist für mich eigentlich das Interessante."

    Autorin: Warum seine Heldin in den Westen will, ist allerdings nicht ganz klar, so wie die Psychologie dieser Figur insgesamt eher blaß bleibt. Im Zentrum steht die Innenwelt des Mannes, und die begreift man sofort. Schramm bildet den Klassifizierungswahn und die Beobachtungsmanie des Mannes in der Sprache ab. Die manchmal wurmartigen Satzgewinde passen zu seinem komplizierten Wesen, ebenso entspricht ihm die Heterogenität der Stile: Literarische Sprache mischt sich mit trockenem Bürokratendeutsch und Slang, eigentümlich kontrastiert durch archaische Wendungen voller Pathos. Nur an einer Stelle entgleitet Schramm sein unglücklicher Mitvierziger: Aus Eifersucht phantasiert der Mann einen Mord, was völlig überzogen wirkt.

    Ingo Schramms Roman lebt von den großen Schwankungen in der Liebesbeziehung, dem abrupten Wechsel zwischen Distanz, Nähe und endgültiger Trennung. Diese Bewegung spiegelt sich im Titel des Buches: "Entzweigesperrt". Die treffende Wortschöpfung enthält den Begriff des Eingesperrtseins und suggeriert eine passive Haltung - vielleicht eine Anspielung auf die Atmosphäre in der DDR, auf die ausweglose Situation derjenigen, die zurückblieben. Zugleich charakterisiert der Romantitel den seelischen Zustand des Mannes, der sich noch immer von seiner unglücklichen Liebe gefangen fühlt. Er beharrt auf seinen Verletzungen, die ihn so lange lähmen, bis er anfängt, sich zu erinnern. Auslöser für die Erinnerungsarbeit ist der unerwartete Anruf seiner früheren Geliebten. Plötzlich wird dem Mann klar, daß seine Variante von der Vergangenheit nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern Tag für Tag neu in seinem Kopf entsteht. "Man hat sozusagen irgendwelche Spuren, Strukturen im Gehirn, die immer neu zusammengesetzt werden, und die als Gedächtnis fungieren, und die Erinnerung greift dann auf das Gedächtnis zu, so ungefähr stelle ich mir das vor. Auf jeden Fall ist die Erinnerung immer eine aktuelle Sache, das ist nichts, was fest abgespeichert ist, sondern das Gedächtnis wird ständig neu rekonstruiert oder überhaupt konstruiert. Das ist ein ständig fortgesetzter Schöpfungsprozeß, der da stattfindet, und insofern ist Vergangenheit eben auch als irgend so eine Wahrheit überhaupt nicht faßbar, sondern man ist auf Dokumente, auf Spuren angewiesen, die übrig geblieben sind."

    Schramm hat sich mit konstruktivistischer Gedächtnisforschung beschäftigt, und die literarische Verarbeitung dieser Ideen ist bestechend. Wie einen Videorekorder, den er vor- und zurückspulen kann, möchte sein Held die Erinnerung beherrschen, aber die Bilder drängen sich ihm ungefragt auf. Als er das schließlich zuläßt, setzt ein Erkenntnisprozeß ein. "Entzweigesperrt" ist auch formal ein ehrgeiziges Projekt: die Entwicklung des Mannes spiegelt sich in der changierenden Erzählinstanz. Der Wechsel zwischen 3. Person Singular, 1. Person Plural und Ich-Erzähler wirkt aber an manchen Stellen allzu konstruiert. "Da scheint dann so eine Art logisches Skelett diesem Roman zugrunde zu liegen. Auch dieser grammatischen Person, der nämlich einerseits eine Ich-Individualität innewohnt - "Ich bin ich", wovon man jetzt ja immer so redet wie Ulrich Beck von der ‘narzißtische Generation’ -, andererseits das Wir der Vergangenheit, wo die Kollektive, in denen das Individuelle völlig untergeht, also das nationale Kollektiv, das kommunistische Kollektiv oder heute auch das Kollektiv der Konsumenten Dagegen hat man eben einen Plural, der aus Ich und Du zusammengesetzt ist, das erscheint dann an einer Stelle, so ein Ich und Du mit einem ‘Et’-Zeichen zusammengesetzt. Das ist sozusagen die Utopie des Romans, daß man einerseits von dem totalen Singular wegkommt, andererseits von dem totalitären Plural, und statt dessen eine Welt hat, in der die Vereinsamung aufgehoben ist, also der Solipsismus des "Ich bin ich", aber trotzdem das Individuum als solches bestehen bleibt und ein Plural entsteht, wo eben Ich und Du als gleichwertige Subjekte bestehen bleiben können."

    Ingo Schramms Roman "Entzweigesperrt" besitzt theoretische und literarische Dichte, und darin liegt auch sein Reiz, denn man kann ihn auf viele verschiedene Weisen lesen. Als Antwort auf den postmodernen Einsamkeitskult, Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, als Erinnerungsroman oder als Buch über die Liebe.