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"Er ist künstlerisch qualitativ ein Solitär"

Mit seinem Buch "Wo die wilden Kerle wohnen" habe Maurice Sendak die Fantasien und Träume von Kindern ausgedrückt, sagt die Direktorin des Kinderbuchmuseums in Troisdorf, Maria Linsmann. Die Darstellung einer starken kindlichen Psyche hätte auf die spätere Bilderbuchwelt einen großen Einfluss gehabt.

Maria Linsmann im Gespräch mit Maurice Sendak | 08.05.2012
    Christoph Schmitz: Am Anfang zu einem Schaufensterdekorateur, einem Phasenzeichner für amerikanische Comics, einem Verkäufer von Holzspielzeug. Das ist er alles gewesen. Vor allem aber wurde er zu einem der großen Buchillustratoren, zu einem Kinderbuchmaler, dem Kinderbuchmaler und Zeichner in den USA und weltweit. Den Hans-Christian-Andersen-Preis und den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis hat er bekommen, an über 60 Büchern hat er mitgewirkt, als Romantiker wurde er bezeichnet, als Bildschöpfer kindlicher Nöte, ohne etwas zu verharmlosen. Sein berühmtestes Buch 1964: "Wo die wilden Kerle wohnen" - über einen trotzigen tagträumenden Jungen, der zum Herrscher über eine Horde wilder Monster wird. Von Maurice Sendak ist die Rede, 1928 in New York geboren, Nachfahr polnischer Juden. Im Alter von 83 Jahren ist Maurice Sendak gestorben.

    Maria Linsmann, Leiterin des Bilderbuchmuseums Troisdorf, Sie sind ins Studio gekommen. Wie würden Sie die eigentümliche Handschrift des Sendak als Künstler beschreiben?

    Maria Linsmann: Maurice Sendak war ein Realist, der sehr stark auch realistische Züge ins Bilderbuch eingebracht hat. Künstlerisch ist seine Handschrift gekennzeichnet durch einen sehr feinen Zeichenstil, Schraffuren, mit denen er Räume, Schatten schraffierte, damit Räume bezeichnete, das ganze dann aquarelliert hat. Das ist stilistisch das Wichtige. Ganz entscheidend ist für mich aber, dass er natürlich auch jemand war, der den Fantasien und den Träumen der Kinder Bild gegeben hat, und damit war er eigentlich einer der ersten, der sehr deutlich und sehr realistisch diese Fantasiewelten der Kinder zum Thema seiner Bücher gemacht hat und dafür eben auch sehr eindringliche Bilder gefunden hat.

    Schmitz: "Wo die wilden Kerle wohnen" ist das berühmteste eigentlich. Was zeichnet dieses Buch aus?

    Linsmann: Es ist wirklich ein Kultbuch, was meiner Meinung nach Generationen von Kindern, aber auch von anderen Illustratoren geprägt hat. Das ist genau das, was ich vorher sagte: Sendak räumt hier zum ersten Mal seinem Protagonisten eine eigene Fantasiewelt ein, die dieses ganze Buch ausfüllt. Dort wird ja berichtet, wie das Kind dann aufbricht auf diese Insel, wo die wilden Kerle wohnen, mit ihnen zusammen ein Fest feiert, der Herrscher der wilden Kerle wird. Also er setzt hier zum Beispiel auch kindliche Allmachtsfantasien ins Bild. Das ist ja etwas, was vorher nicht denkbar gewesen wäre. Außerdem sagt der kleine Protagonist eben diesen berühmten Satz zu seiner Mutter: "Ich fress Dich auf." Das war ein Satz, der wäre vorher im Bilderbuch unvorstellbar gewesen, und das sind so Indikatoren dafür, dass dieses Buch wirklich ein neues Selbstbewusstsein, auch eine neue Haltung Kindern gegenüber markiert.

    Schmitz: Welche anderen Titel müsste man nennen?

    Linsmann: Ja natürlich "In the Night Kitchen", ein wunderbares Buch, wo der kleine Mickey durch mehrere Stockwerke in eine Teigschüssel fällt und dort auch Traumfiguren, diesen Bäckern begegnet. Dann gibt es dieses fast textlose Pop-up-Buch "Mami", was ich sehr liebe. Da ist ein Kleinkind, was nachts seine Mutter sucht und auf dem Weg allen möglichen Monstern und Mumien begegnet. Dann wichtig natürlich "Brundibár", diese Oper, die in Theresienstadt aufgeführt wurde, die 2003 dann noch mal erschienen ist von Tony Kushner, der übrigens ein Freund von Sendak war, und die Sendak dann bebildert hat - sicher auch ein ganz wichtiges Buch aus seinem Spätwerk.

    Schmitz: Welche Position nimmt er in der Geschichte der Kinderbuchillustration ein? Hat er etwas bewegt, oder ist er so ein Solitär, der keine Nachfahren gefunden hat?

    Linsmann: Ich glaube, er ist künstlerisch qualitativ ein Solitär, der aber trotzdem natürlich ganz, ganz viel bewirkt hat, weil er eben im Kinderbuch diesen Raum auf eigene Fantasiewelt, auf eine gewisse Autonomie auch der Psyche der Kinder geschaffen hat, und das ist ein Aspekt, der sehr stark nachwirkt bis in das Bilderbuch unserer Tage natürlich.

    Schmitz: Sie haben ihn persönlich gekannt. Wie ist er Ihnen persönlich menschlich begegnet?

    Linsmann: Ja ich habe ihn vor ungefähr zehn Jahren bei der Eröffnung des Eric Carle Museum kennengelernt. Da war er ein unglaublich freundlicher, zugewandter alter Herr. Ich habe gedacht, er muss in seiner Jugend kämpferisch gewesen sein, nach dem was er erzählt hat, aber aufgrund dieser ganzen Erfahrung habe ich ihn als einen sehr freundlichen interessierten älteren Herrn erlebt.

    Schmitz: Maria Linsmann, vielen Dank für das Gespräch über den verstorbenen amerikanischen Illustrator Maurice Sendak.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.