Donnerstag, 18. April 2024

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Er oder Ich

Der Ruhm des Erzählers Sten Nadolny und seine Beliebtheit bei den Lesern rühren von seinem zweiten Roman her, von der "Entdeckung der Langsamkeit". Mit einem Auszug daraus gewann er den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, und das vollständige Buch verkaufte sich eine Million Mal, etwas in der ernstzunehmenden deutschen Literatur ganz seltenes. Von da an aber, mit Hildegard Knef zu sprechen, von da an ging's bergab: "Selim oder die Gabe der Rede", der 600-Seiten-Wälzer aus dem Jahre 1989, fand ein zwiespältiges Echo, und mit dem "Gott der Frechheit", einer Transposition antiken Personals in die Gegenwart, konnten die meisten Kritiker und viele Leser gar nichts mehr anfangen. Doch umgibt Nadolny noch immer der Glanz John Franklins, jenes Helden, bei dem er einst Freude und Nutzen der Langsamkeit entdeckt hatte. Jedes neue Buch aus seiner Feder wird mit Spannung erwartet, und die schlägt sich in entsprechend hohen Auflagen nieder: "Er oder ich", gerade erschienen, kommt mit 75.000 Exemplaren auf den Markt.

Martin Ebel | 31.10.1999
    Er oder Ich - damit ist nicht wie in Doris Dörries fast genauso betiteltem Film das konfliktreiche Verhältnis eines Mannes zu seinem wertvollsten Körperteil gemeint. Hier geht es um die Erzählhaltung. Soll der Held von sich in der Ich-Form sprechen oder sich in der dritten Person und wie eine solche von außen betrachten? Der Erzähler ist unschlüssig:

    "ICH macht die Gedanken schneller, ER läßt ihnen, des Abstandes wegen, mehr Erfindungsfreiheit. ICH kann nicht so leicht eine ausgedachte, rundweg märchenhafte Geschichte behaupten wie ER. "Ich bin" und "Er ist" - das sind Gefäße sehr verschiedener Art. ICH und ER sind zweierlei Netze; mit dem einen fängt man viele kleinere, mit dem anderen wenige und größere Fische. Die Ichform produziert Peinlichkeiten. Schreibt jemand: "Ich bin aus dem Tritt gekommen, ich bin gealtert", dann denke wir: Der Arme, es muß ihm schwerfallen, das zu bekennen. Mutig, gewiß, aber was soll man da antworten?" ICH eröffnet ein Gespräch mit einem DU, es will Antwort. Jedes ICH neigt dazu, uns etwas vorzujammern und Mitleid zu erpressen. Lesen wir ER, können wir gelassen bleiben. "Es war einmal ein Mann" - eine Geschichte von einem älteren Herrn in Schwierigkeiten, na und? Wir vergleichen kurz die Eckdaten und fühlen uns in jedem Fall jünger als er."

    Älterer Herr in Schwierigkeiten - das ist hier tatsächlich das Thema. Die Eckdaten allerdings sehen so schlecht gar nicht aus. Alt ist der "Er-oder-Ich"-Erzähler mitnichten:

    "Ole Reuter war nahe Fünfzig, "nahe" von der anderen Seite, also einundfünfzig", wie er immerhin einigermaßen witzig formuliert. Er ist Unternehmensberater, arbeitet für die Europäische Union in Brüssel und hat durch einschlägige Sachbücher und Fernsehauftritte Renommee, ja beinahe Prominenz gewonnen. Seine Spezialität:

    "Entwicklung eines narrativen Managementkonzepts, bei dem der Erfolg dadurch eintreten soll, daß eine Erfolgsgeschichte gut erzählt und dann verwirklicht wird ("Management by telling the story").

    Er ist also, wie viele erfolgreiche Berater unserer Tage, eine Art Medizinmann, der verunsicherten Unternehmern die Hand auflegt und ihnen seine Beschwörungsformeln als Wissenschaft verkauft:

    "Im Grunde bin ich Verkäufer geworden", lächelt Ole Reuter. "Heute verkaufe ich den Ruck, der durch Firmen, Parteien und Institutionen geht. Ich verdiene im übrigen auch, wenn er ausbleibt."

    Davon läßt sich leben, und zwar üppig. Reuter hat außerdem eine schöne Frau, die ihn ausdauernd und unbeirrbar liebt und über seine gelegentlichen Eskapaden großzügig hinwegsieht. Nur mit der Gesundheit hapert es: Reuter ist zu dick und muß ein Hörgerät tragen - aber das geht manchem so. Er leidet unter allerlei Verschleißerscheinungen: Es schmerzt in den Gelenken, es zieht in den Knien, es zerrt im Rücken, und das Gedächtnis läßt auch nach. Er hat Blähungen und einen Ausschlag an den Fingern. Nachts plagen ihn Alpträume. Insgesamt fühlt er sich ausgebrannt, ideen- und lustlos. Den Ruck, den er verunsicherten Unternehmern teuer verkauft: den bräuchte er dringend selbst. Dazu kommen Schuldgefühle, die heftig an ihm nagen. Seine einzige Tochter Karoline ist an Asthma gestorben - oder vielmehr, wie Reuter glaubt, an "gebrochenem Herzen": Sie hatte sich in einen Rosenverkäufer aus Sri Lanka verliebt, Reuter den Schwiegersohn- Kandidaten vehement abgelehnt und dafür gesorgt, daß er abgeschoben wurde. Den Tod der Tochter, davon ist Reuter überzeugt, könne ihm seine Frau nicht verzeihen, die Trennung sei unausweichlich. Er ist nur nicht in der Lage, sie selbst herbeizuführen. Also geht er erst einmal auf Abstand - und auf Reisen:

    "Ja, ich will es wieder probieren! Die Reise von 1976, verrückt und ratlos wie sie war, hat mir Tag um Tag mehr Vertrauen gegeben. Fahren und alles aufschreiben, per "ich" und auch damals hin und wieder per "er", das half weiter. Aber was damals Geschenk war, muß diesmal Rettung sein."

    Die Reise von 1976, das war eine Eisenbahnfahrt kreuz und quer durch Deutschland, die der junge Ole Reuter nach seinem Lehrerstudium mit einer Netzkarte unternommen hatte. Und Ole Reuter - bei aufmerksamen Hörern ist der Groschen längst gefallen - hieß schon der Held von Sten Nadolnys erstem Roman "Netzkarte", es war sein frisches und freches Entree in die Literatur. Auf dieser Reise fällte der junge Referendar Reuter eine Entscheidung - nämlich die, nicht Lehrer zu werden -, er lernte ein junges Mädchen kennen, das später seine Frau wurde, und vor allem lernte er eine Menge über sich selbst. Daran erinnert sich der alte Reuter mit Wehmut:

    "Er empfand zunächst wie ein Darsteller, der die Eitelkeit als Motor entdeckt: Seine Person schien ihm jetzt möglich, ja interessant. Mit Glück wurde er alles Mögliche. Die Welt begann neu zu riechen und zu schmecken."

    Diesen Zauber will der Fünfzigjährige wieder beschwören. Die Netzkarte als Jungbrunnen. Auch als berufliche Auszeit:

    "Kein Wort über Wirtschaft und Politik!"

    nimmt er sich vor. Als Reanimierungsprogramm eines "burn out", der seine Geistesgegenwart wiedergewinnen und seine Konkurrenten aufs Haupt schlagen will. Außerdem will Ole Reuter ein paar der Orte wiedersehen, die ihn seinerzeit bezauberten, den damals unzugänglichen Osten entdecken, sein Gedächtnis trainieren (dazu hat er einen Packen Bücher mitgenommen) und - ein profanes und peinliches Motiv - das Ergebnis eines Aids-Tests abwarten. Reuter hat ungeschützt mit einem heroinsüchtigen Mädchen geschlafen und jetzt ordentlich Angst, sich angesteckt zu haben. Vor allem aber will er mit sich ins Reine kommen. Viele Pläne, viel zu viele für vier Wochen. Zu viele vor allem für einen Mann wie Reuter.

    Die "Aktion Wiederbelebung" kann nicht glücken, und sie glückt auch nicht. Damals war er auf der Suche - nach der Welt und nach sich; jetzt ist er auf der Flucht - vor der Welt und vor sich selbst. Das hat Folgen für die Reise, und es hat Folgen für die Lektüre. Reuter fährt zwar, kilometerfressend wie einst, von Nord nach Süd, von Ost nach West und zurück, nach Cottbus und Glashütte, nach Hamburg und München, Bebra, Jena und Heidenau, Nürnberg und Magdeburg, aber im Grund fährt er nur in sich selbst herum. Er schaut nicht aus dem Fenster, sondern in sein Notizbuch, das er manisch füllt, Seite um Seite. Manchmal greift er auch zum Laptop.

    "Ich kriege nicht allzuviel mit. Wer zugleich reist und schreibt, nimmt nur alle zwei oder drei Minuten etwas wahr."

    Zwanzig Jahre zuvor, im Roman "Netzkarte", hatte Reuter den gierigen Blick des Stubenhockers, dem endlich die Welt offensteht. Er fraß geradezu Orte und Menschen, Zufallsstationen und Zufallsbegegnungen, mit Vorliebe erotischen Charakters. Der einundfünfzigjährige Reuter in dem neuen Roman "Er oder Ich" hat nicht nur an Sehschärfe eingebüßt, sondern an Aufnahmefähigkeit überhaupt. Die wenigen Begegnungen, die ihm überhaupt in diesen vier Wochen widerfahren, haben allesamt etwas Irreales.

    Und das hat einen ganz einfachen Grund: Abgesehen von Nebenfiguren wie Hotelwirtinnen, Kellnern und Fahrkartenkontrolleuren entspringt das Personal dieses Romans fast ausnahmslos der Phantasie Ole Reuters. So kommt er etwa im Speisewagen zwischen Cottbus und Frankfurt/Oder mit einem Mann ins Gespräch, der ein grünes Jackett trägt:

    "Langnasiges, scharfblickendes Fuchsgesicht über einem dünnen Körper, aber die Hände sind seltsam kräftig, bäurisch, vor allem scheinen sie sehr viel älter als der Rest: Adernreiche, blaßbraune Krallen sind das, voller Pigmentflecken, die Hände eines rüstigen Altbauern, nein, eines ehemaligen - schon fehlt das Wort."

    "Als er sich verabschiedet, ertönt Höllengelächter. Kaum hätte es dieses Signals bedurft, um dem Leser zu bedeuten: Diese Raubtiervisage mit den Krallen ist niemand anders als der Teufel. Und dieser Teufel wiederum ist niemand anders als Ole Reuters Erfindung - auch wenn er später einen Namen erhält - "Griffzich" -, Briefe schreibt, den Reisenden heimlich photographiert, ihm die Uhr stiehlt und eine andere zuspielt, mit der er die Zeit zurückdrehen kann. Griffzich gewinnt eine verwirrende Gewalt im Kopf seines Erfinders - und gewinnt in diesem Roman erklecklichen Raum. In Gestalt eines rollschuhfahrenden Rowdys geht er Reuter in Dresden an die Kehle, und selbst eine Kinokassiererin in Magdeburg, mit der Reuter eine übernatürliche Liebesnacht erlebt - auch die ist nur eine andere Inkarnation Griffzichs. Und wo der Teufel waltet, sind Engel nicht weit: Über Reuters Wohl und Wehe wacht ein Schutzengel mit dem schönen Namen Barampola, der seinem Kollegen (oder Vorgesetzten?) Quardokus regelmäßig Bericht erstattet."

    Die Götter Griechenlands in Nadolnys vorigem Roman fuhren Auto. Auch das himmlische und höllische Personal in "Er oder Ich" ist auf der Höhe der Zeit und bedient sich der avanciertesten Technik. Die Engel schicken sich E- Mails und verkehren ansonsten über ein ein "computerlosen Internet". Das Reich des Bösen wiederum ähnelt einem modernen Unternehmen, wie Reuter sie aus seiner Brüsseler Tätigkeit zu Genüge kennt:

    "Ich bin reales Leben und greife ins reale Leben ein",erklärt der Teufel in einem Abschnitt, der überschrieben ist mit "Ein gewisser Griffzich an den Autor", und fährt fort:

    Ich tue das als Glied und im Auftrag einer Sozietät, nennen wir sie ruhig "Firma", die für die Wende zuständig ist, und zwar die Wende schlechthin. Die Firma hat viele Namen - "Lost & Found " ist die Bezeichnung, die wir intern benutzen. Es gibt einen Chef und zwei Abteilungen, deren jede wichtig ist, die "seelenführende" und die "überzeugende". Wir dienen als Versucher und Prüfer, wissen Bescheid in Sachen Diebstahl, Gewalt, Größenwahn, Lüge und Intrige. Oft bezeichnet man uns als Vollstrecker und Peiniger, was aber nur die halbe Wahrheit ist: Wir sorgen ja auch dafür, daß Vollstreckungen einen Grund haben."

    Griffzich und Barampola, die höllischen und die himmlischen Mächte, ringen um die Seele Ole Reuters, als wäre dieser EU-Consultant der Faust des ausgehenden Jahrtausends, seine Karoline das Gretchen, sein nagendes Schuldgefühl die zeitgemäße Form des faustischen Strebens und Fehlgehens. Aber anders als bei Goethe sind all diese Engeleien und Teufeleien, die manchmal nett und amüsant zu lesen sind, oft aber auch nur albern und läppisch wirken, Teil der Selbstaufblähungsstrategie des Helden. Der führt seine Auseinandersetzung mit sich selbst, indem er sich vervielfältigt und die verschiedenen Teil-Ichs miteinander Krieg führen läßt:

    "Es ist offensichtlich", heißt es in einem "Arztbericht", der den Roman abschließt, ,daß Reuter sämtliche Texte selbst geschrieben hat, auch angebliche Briefe, Berichte und Beobachtungen seiner Person durch "Dritte". Er scheint im öffentlichen und erfolgreichen Teil seines Lebens die Fähigkeit gehabt zu haben, sich in mehrere Ichs aufzuteilen und mit der so rekrutierten Truppe Probleme zu umzingeln."

    Diese Strategie versagt aber, sobald Ole Reuter selbst das Problem ist. Und dies ist hier der Fall. Die ganze höllische Inszenierung soll ihm dabei helfen, sein Schuldgefühl loszuwerden - ein allerdings weder besonders originelles noch psychologisch genügend fundiertes Motiv. Immerhin versucht der Held eine Zeit lang, angeblich verführt von seinem Mephisto, dieses Schuldgefühl einfach über Bord zu werfen. Er gelangt dabei zu einer antimoralischen Kraftkerl-Philosophie, einer epigonalen Schwundform des nietzscheschen Übermenschen. Doch scheitert dieser Versuch der Selbstentlastung. Die geplanten Groß- und Missetaten kommen über die Vorstellung nicht hinaus. Reuter muß einsehen, daß er vielleicht ein schlechter Mensch ist, daß es aber zum Bösewicht schon aus Energiemangel nicht reicht. Auf diesem Holzweg geht der Leser indes eine Strecke gern mit, verdankt er ihm doch einige der rhetorisch und literarisch stärksten Passagen des Buches:

    "Der Teufel ist ein nie nachlassender spinnengleicher Betrachter und Behorcher seines Netzes, er kennt die Obertöne des Lügenden, die Vibrationen der Sexbesessenheit, den flatternden Atem der Raschheit und der Kleptomanie, den Lidschlag des Langsamen, bevor dessen sorgfältig angelegte Fallen zuschnappen, hört die knackenden Halswirbel der Geizigen, den Speichelfluß der Neidischen, den Pulsschlag der Sadisten, die Verdauungsgeräusche von Trunksucht und Völlerei, spürt den Schädeldruck der Selbstüberschätzung."

    Ja, das Böse ist eben literarisch ergiebiger als das sogenannte Gute. Aber diese Passagen sind kurz und schnell vorbei. Selten auch die punktgenau sitzenden Beobachtungen, die verblüffenden Funde und Formulierungen oder ein amüsanter Aphorismen wie dieser:

    "Wir hassen nicht die Dummheit, nur den störenden Unterschied zwischen unserer eigenen und der der anderen."

    Humor und Geist wirken hier meist herbeigezwungen und gequält, der böse Blick ist stechend, aber kaum erhellend. So sieht Reuter auf einer Wirtschaftstagung... "... laute alte Männer, die einander noch einmal richtig weh tun wollen, bevor sie sich davonmachen, Menschen mit Herzen wie Grabplatten. Hier gibt es Leute, die können präzise ihren Kontostand träumen, sonst nichts."

    Wenn Reuter aggressiv wird, und das wird er nicht selten, wird er schnell plump und erschreckend humorlos.Einmal etwa schimpft er auf Deutschland:

    "Nein, ich habe keine Zärtlichkeit mehr für das Land, zu sehr trägt es die Spuren seiner Bewohner, und die sind mir widerwärtig. Fast jeder hat vor dem Drängeln und Belehren aller anderen Angst, ständig fühlt sich jemand von irgend etwas verletzt, jeder wirft dem anderen Verklemmtheit vor, und die besonders unerfreulichen Exemplare überziehen jeden Fleischer- oder Gemüseladen aus nichtigstem Anlaß mit Eskalation. Höflichkeit halten sie für Lüge und umgekehrt. Lobst du einen Deutschen, erklärt er dir sofort, warum andere besser sind. Schenkst du ihm was Scheußliches, sagt er "Danke, sehr aufmerksam!" Schenkst du ihm was Schönes: "Das wäre nicht nötig gewesen!" Lädst du ihn ein: "Dafür werde ich mich revanchieren!" Und wenn er sich auf besonders häßliche Weise ausdrücken will, sagt er zuvor "auf gut deutsch". Dazu ihre Belehrungssucht, ihr Sicherheitsbedürfnis, Stangenschlösser, Alarmanlagen, "Vorsicht bissig!"-Schilder (mit denen sich hauptsächlich vor sich selbst warnen), Ängstlichkeit, Hausratversicherung, ihre Lust am Denunzieren. Und in ihren Wohnungen können sie sich kaum noch herumdrehen, weil sie die Verpackungen sämtlicher Geräte aufheben für den Garantiefall und fürs Jüngste Gericht."

    Bis auf den letzten Satz mit seiner hübschen Schlußpirouette eine bemerkenswert verbiesterte, in ihrem Hass selbst spießige Passage. Natürlich darf man diese Haltung nicht dem Autor Nadolny anlasten, sondern einzig und allein seinem Helden Reuter, dem ausgebrannten Fünfzigjährigen, den auch die erneute Reise mit der Netzkarte weder die verlorene Jugend noch den Seelenfrieden einbringt. Aber ganz unschuldig ist der Autor wiederum nicht: Denn er hat seinen Reuter ja erfunden, wie dieser den Teufel. Er läßt ihn statt durchs Zugfenster immer nur in sein Inneres blicken, er bevölkert seine Welt mit Ausgeburten seiner Phantasie. Die Ausschließlichkeit, mit der das Innenleben des Helden den Roman ausfüllt, wird für diesen zum Problem. Worunter der Held leidet, muß auch der Leser des Romans leiden. Und so erfolglos die Reisetherapie für Ole Reuter wird, so wenig gelingt auch dem Autor Sten Nadolny, was er wohl mit dem Rückgriff auf sein Debüt und dessen Helden, den Frisch- und Frechling, vorhatte: eine literarische Frischzellenkur. Denn Ole Reuter ist eben nicht mehr frisch, sondern ausgebrannt, und in dieser Asche zu stochern bringt keine sehr ersprießlichen Ergebnisse:

    "Seit Tagen schon gibt es Anzeichen, daß er die Kontrolle über sich ganz verlieren wird,"bemerkt sein Schutzengel Barampola, wir erinnern uns: eine Phantasieproduktion.

    "Schlaflosigkeit, Nahrungsverweigerung und Alkohol wirken zusammen. Seine Intelligenz schwankt."

    Als er auf dem Unternehmertreffen in Frankfurt einen Vortrag halten soll, redet er Unsinn, wie ein Zuhörer konstatiert, der ihn von früher her kennt:

    "Er ist, so vermute ich, im Begriff, verrückt zu werden. Etliche seiner Gedanken waren derart ausgedehnt, daß man im dicken Nebel nur ihre vordersten Partien erkennen konnte."

    Mehrfach versucht er, Selbstmord zu begehen, was durch den Eingriff höherer Mächte jeweils verhindert wird: Der in eine Wespe verwandelte Schutzengel sticht ihn ins Bein, als er von der Brücke springen will, macht seine Pistole unschädlich und manipuliert das tödliche Gift, so daß ihm nur sterbensübel wird. Konfus wie seine Gedanken wird nun auch sein Handeln - und auch der Roman verliert zusehends an Konzentration. Reuter kehrt kurz an sein heimisches Büro zurück, fliegt mal schnell nach Colombo, um den ausgewiesenen Ex-Liebhaber seiner toten Tochter zu besuchen, fliegt nach dem ergebnislosen Gespräch wieder zurück und fährt noch eine Weile ziellos durch die Republik und seinen zunehmend verwirrten Kopf. Schließlich erleidet er einen Zusammenbruch, wird rechtzeitig gefunden - Schutzengel Barampola hat wieder einmal eingegriffen - und landet im Krankenhaus, wo die Ärzte vor einem Rätsel stehen: Solch eine Form von Gedächtnisverlust ist ihnen noch nicht untergekommen. Er gewinnt sein Erinnerungsvermögen dann wieder, wird als geheilt entlassen, kehrt kurz nach Hause zu seiner Frau zurück, um dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden - aus ihren Augen und aus denen des Lesers. Die systematische Vervielfältigung des Ichs, die Aufspaltungs- und Distanzierungstechniken Ole Reuters haben seine geistige Gesundheit zerrüttet, vermutet eine "Autor" genannte Erzählperson im Nachwort:

    "Camouflage kann einen Punkt erreichen, von dem aus es keinen Rückweg gibt, nur noch die Auflösung. Er wird verschollen bleiben - wer sich selbst verloren hat, den kann kein anderer wiederfinden."

    Und die letzten Worte dieses Nachwortes lauten: "Um Reuter ist es schade. Wir haben früher viel mit ihm gelacht."

    "Es fällt schwer, diese Worte nicht gegen den Autor zu verwenden. Daß es wenig zu lachen gibt in diesem Buch, wird viele Leser enttäuschen, wäre zur Not aber noch zu verschmerzen. Die Wiederbelebung des zwanzig Jahre alten Helden selbst ist es, die Unbehagen verursacht. Selten verlaufen solche Remakes, die im Reich der U-Kultur funktionieren mögen, in Hollywood und im deutschen Fernsehen, in der Literatur glücklich. Wohlweislich hat Thomas Mann darauf verzichtet, seinen Hans Castorp aus dem "Zauberberg" noch einmal zu verwenden - was hätte aus dieser an seinen Ort und seine Zeit gebundene Figur werden können? Ein Bohémien im Weimar der Zwanziger Jahre? Ein Nazi? Ein Mann des Widerstands? Einer der Väter des Grundgesetzes? Ebensowenig hat Robert Musil uns einen erwachsenen "Zögling Törleß" zugemutet. Dagegen hatte Günter Grass den unseligen Einfall, für die "Rättin" den Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" als Medienhändler auftreten zu lassen - mit desaströsen Folgen. Daß der Leser auch in diesem Fall des künstlich reanimierten Helden nicht froh wird, liegt nicht nur an dessen deprimierendem Geistes- und Gesamtzustand. Es liegt auch an dem, was Nadolny für eine Hauptsache hält und woraus - darin immerhin einzigartig in der Literaturgeschichte - er sogar den Titel gemacht hat: an der Erzählperspektive. Er oder Ich - das ist dem Leser bald Jacke wie Hose, also ziemlich gleichgültig. Die Chance, aus verschiedenen Blickwinkeln gefangene Bilder aufeinanderprallen zu lassen, aus diesem Aufprall Funken zu schlagen und der Figur Tiefe und Relief zu geben, nutzt Nadolny nicht. Auch dafür kann er nichts: Hinter allen Kameras, die hier auf Ole Reuter gerichtet sind, steht ja nur eine einzige Person: Reuter selbst. Nabelschau bleibt Nabelschau, aus welch verwinkelten Positionen heraus und in welch prismatischer Gebrochenheit sie auch betrieben wird: Es bleibt immer derselbe Nabel. Auf unseren Fall bezogen: Es bleibt dieselbe Sprache. Je mehr Nadolny seinen Helden aufsplittert und vervielfältigt, desto monotoner wird das Ergebnis. Ob Ich oder Er, Engel oder Teufel: Die sich zusehends verwirrende Hauptfigur infiziert auch die ausgeklügelte Erzählperspektive.

    "ER oder ICH? Klares Unentschieden", sagt Ole Reuter noch ziemlich am Anfang seines Unternehmens. Ein Null-zu-Null ist dieses Unentschieden zwar nicht, dazu blitzt dann und wann doch die Erzählkunst Nadolnys auf. Aber viele Tore sind beim Schlußpfiff nicht gefallen.