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"Er pfiff hübsch, er pfiff lang..."

Sein Flötenspiel verführte die Kinder der Stadt, sie folgten ihm und waren nicht mehr gesehen - so die Legende des Rattenfängers von Hameln. Doch was ist vor 725 Jahren wirklich geschehen? Lässt sich der mysteriöse Pfeifer ins Reich der Sagen und Fabeln verbannen? Eins ist sicher: Bis heute erlebt der Rattenfänger - als Verführer der Masse - immer wieder neue Inkarnationen.

Von Ulrike Rückert | 26.06.2009
    Fast jeder weiß, was in Hameln geschah
    vor tausend und einem Jahr.
    Wie die Ratten dort hausten, die alles fraßen,
    was nicht aus Eisen war.


    Ein fahrender Spielmann befreite die Stadt von den Ratten; mit Flötentönen lockte er sie in die Weser, und alle ertranken. Doch die erleichterten Bürger bezahlten den versprochenen Lohn nicht. Zornig verließ der Musikant die Stadt - am 26. Juni 1284 kehrte er zurück.

    Der Rattenfänger von Hameln
    Durch die Stadt ist er gegangen
    Hat mit seinem Pfeifen all die
    Tausend Kindlein eingefangen
    Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
    's war ein wunderbarer Klang.


    Nun weinten die Mütter und suchten ihre Kinder, doch sie wurden nie wieder gesehen. So erzählt es die Sage, und eines ist sicher: So war es nicht. Was wirklich geschah - das weiß niemand. Die Chroniken schweigen. Fast 200 Jahre später erst wurde die Geschichte erzählt:

    "Ein gewisser Jüngling von 30 Jahren, schön und durchaus wohl gekleidet, trat durch die Weserpforte ein. Er hatte eine Silberpfeife von seltsamer Art und begann zu pfeifen durch die ganze Stadt. Und alle Kinder, die jene Pfeife hörten, etwa 130 an der Zahl, folgten ihm aus dem Ostertor."

    Keine Ratten, kein Rattenfänger. Der tauchte erst nach einem weiteren Jahrhundert auf. Von dieser Zeit an zog die Sage weite Kreise. Dabei wurde sie immer wieder anders ausgeschmückt. Die Brüder Grimm schließlich klaubten die Bruchstücke auf und fügten sie zu der Sage zusammen, die heute in aller Welt bekannt ist.

    Der Rattenfänger von Hameln
    Wohin hat er sie verführet?
    Denn die Kleinen waren alle
    Tief im Herzen aufgerühret.


    Wohin? - Das fragt nicht nur Bertolt Brecht. Seit Jahrhunderten wird nach der Lösung des Rätsels gesucht. Bewiesen ist nun, dass auch in akademischen Köpfen eine wilde Fantasie blüht: Wahlweise sind die Verschwundenen der Tanzwut, der Pest oder einem Ritualmord zum Opfer gefallen, wurden von Jesuiten entführt, von einem Bergsturz erschlagen oder von einem Erdbeben verschlungen, sind in einer Schlacht gefallen oder auf einem Kreuzzug verschollen.

    Hinter dem Rattenfänger verbirgt sich der Teufel in Person, der Tod - in allegorischer Gestalt - oder ein Werber für Kolonien im Osten, wobei Siebenbürgen, Mähren, Pommern oder Brandenburg in Betracht kommen. Eine ganz andere Version offeriert der Liedermacher Hannes Wader: Bei ihm verbünden sich die Kinder mit dem betrogenen Spielmann, und die Hamelner vertuschen die eigene Schandtat mit der traurigen Mär.

    So beschloss man die Vertreibung
    einer ganzen Generation.
    In der Nacht desselben Tages begann
    die schmutzige Aktion.
    Gefesselt und geknebelt,
    von den eigenen Vätern bewacht,
    hat man die Kinder von Hameln ganz heimlich
    aus der Stadt gebracht.


    Während die Historiker den Entführten nachspekulierten, wandten sich die Dichter von Goethe bis Grass dem Verführer zu. In vielen Facetten oszilliert der Rattenfänger, leichtfertig oder dämonisch, gegen Unrecht; aufbegehrend oder zynisch manipulierend. Und von den Buchseiten wanderte er auf Theater- und Opernbühnen und auf die Leinwand. Schon 1881 entrang sich einem Kritiker der Seufzer:

    "Die Ratte ist unstreitig das meist componirte und meist dramatisirte Thier der Neuzeit."

    Für die Bürger von Hameln indes hat sich der Geiz ihrer Vorfahren ausgezahlt. 130 sollen einst verschwunden sein, vielleicht in ein fernes Land. Dafür kommen nun Millionen Touristen aus aller Welt nach Hameln, das von einer neuen Rattenseuche heimgesucht ist, überschwemmt von Ratten aus Plüsch und Seife, Kuchenteig, Schokolade und Lakritz. Sonntags wird das Rattenfänger-Freilichtspiel aufgeführt und mittwochs das Rattenfänger-Musical und vom Rattenfängerglockenspiel erklingt das Rattenfängerlied. Im Restaurant wird als Aperitif "Rattenblut" serviert, als Hauptgang "Flambierte Rattenschwänze" und zur Verdauung Rattenkiller-Likör. Doch der Spielmann im bunten Gewand ist nicht gekommen, um die ganze Rattenbrut in die Weser zu schaffen. Er ist der Stadtführer.

    Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
    's war ein wunderbarer Klang.