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"Er war keineswegs in seinem Elfenbeinturm verschlossen"

Kritik muss klar und deutlich sein, nie zu abstrakt, nie zu verschwiemelt - das habe sie von Marcel Reich-Ranicki gelernt, erinnert sich die Literaturkritikerin und "Zeit"-Feuilletonchefin Iris Radisch. Darin sei er für viele junge Kritiker eine Schule gewesen.

Iris Radisch im Gespräch mit Friedbert Meurer | 19.09.2013
    Friedbert Meurer: Ein Literaturkritiker ist tot, ein Literaturpapst: der Großkritiker deutscher Literatur. Marcel Reich-Ranicki war ohne Übertreibung eine Jahrhundertgestalt der Literaturkritik: Jude, Deutsch-Pole, Überlebender des Warschauer Gettos. Diese Biografie ist beeindruckend. Sein Urteil, seine Kritik war sprachgewaltig und gefürchtet zugleich. Freundschaften gingen dabei schon auch einmal in die Brüche. Er war einer breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt, weit über eigentlich an der Literatur interessierte Kreise hinaus. Mit ihm saß im Literarischen Quartett beim ZDF zwei Jahre lang die "Zeit"-Feuilletonchefin Iris Radisch. Guten Morgen, Frau Radisch.

    Iris Radisch: Guten Morgen.

    Meurer: Auf "Zeit online" schreiben Sie: Der letzte Literaturpapst ist gestorben. Wie bleibt Ihnen der Papst der Literatur, Marcel Reich-Ranicki, in Erinnerung?

    Radisch: Er bleibt mir in guter Erinnerung. Ich habe mit Reich-Ranicki gerne zusammengearbeitet und ich habe, bevor ich ihm dann auf diesen legendären schwarzen Sesseln des Literarischen Quartetts gegenübersaß, auch schon gekannt. Er war sehr neugierig. Er hat mich gleich, als ich bei der "Zeit" war, da Literaturchefin wurde, eigentlich ständig angerufen. Er wollte alles wissen, hat sich nach allem erkundigt, hat mich auch häufig zu Hause angerufen, wollte meine Lektüren kennenlernen, wollte wissen, mit wem ich was rede, was auch junge Leute in diesem Beruf interessiert. Also er war keineswegs in seinem Elfenbeinturm verschlossen, sondern nach allen Seiten hin eigentlich offen und konnte auch zuhören, obwohl natürlich seine Redeanteile immer etwas größer waren. Und so kannte ich ihn am Telefon, wie überhaupt das Telefon ja seine Nabelschnur zur Welt war. Ich glaube, Reich-Ranicki hat fast den ganzen Tag mit halb Deutschland telefoniert.

    Meurer: Ein Papst, Frau Radisch, ist nach katholischer Lehre unfehlbar. War das auch schwierig mit ihm?

    Radisch: Na ja, natürlich hielt er seine Urteile für absolut. Aber es war ihm vollkommen klar, wie streitbar er war. Das hat er ja eigentlich auch immer mit sehr viel Genuss ausgestellt. Es war ihm auch vollkommen klar, dass er vereinfacht, dass er Dinge manchmal auch sehr einseitig auf den Punkt bringt. Aber das ist ja seine berühmte Äußerung: Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers. Kritik musste klar sein. Das habe ich auch von ihm gelernt: Man musste klar und deutlich urteilen, klar und deutlich schreiben, sich nie zu abstrakt, zu verschwiemelt ausdrücken. Da war er eigentlich für uns alle, für uns junge Kritiker eine Schule.

    Meurer: War Reich-Ranicki nicht auch verletzend? Über seine Kritiken sind ja auch einige Freundschaften in die Brüche gegangen.

    Radisch: Aber selbstverständlich. Selbstverständlich war er verletzend. Selbstverständlich ist er auch oft über das gegangen, was man als eine rote Linie in der Literaturkritik bezeichnen könnte. Da ist er mit Bravour und Leidenschaft rübergegangen und das kann man ihm ankreiden. Man kann aber auch sagen, so war er. Er war dieses unglaubliche Temperament und wir haben alle sehr profitiert von diesem Temperament, und da, wo es verletzend war, war es aber Teil seiner Lebendigkeit, Teil seiner Radikalität, und diese Radikalität, um das noch zu sagen, mag ja auch ihre Ursprünge haben in dem sehr radikalen, sehr harten Leben, das er hatte, bevor er dieser deutsche Literaturpapst wurde.

    Meurer: Bevor wir über diese Biografie reden, Warschauer Getto, wie er aufgewachsen und groß geworden ist, vielleicht noch kurz: Martin Walser hat ja diesen berühmten Roman geschrieben, "Tod eines Kritikers", und darin regelrecht mit Marcel Reich-Ranicki abgerechnet. Haben Sie mitbekommen, wie Reich-Ranicki darauf reagiert hat, dünnhäutig?

    Radisch: Na ja, er hat sich zumindest öffentlich nicht groß geäußert. Ich weiß, dass ihn das verletzt hat, ich weiß es, und es gab ja auch viele andere Autoren, die mit ihm abgerechnet haben. Natürlich hat ihn das verletzt. Aber er war auch ein Spieler. Er war auch ein Spieler, der ganz genau wusste, im Spiel machen auch die anderen Tore, im Spiel muss man auch was einstecken. Also er war eigentlich niemand, der sich beleidigt in die Ecke verzog. Er hat das dann auch ad acta gelegt. Und er hätte sich an seinem Lebensende, glaube ich, mit sehr vielen ehemaligen Freunden, die dann zu Feinden geworden sind, gerne wieder versöhnt.

    Meurer: Frau Radisch, Sie sind ein Kind der Nachkriegsgeneration, ganz im Gegenteil natürlich zu Marcel Reich-Ranicki: Deutsch-Pole, Jude, 1938 musste er mit der Familie nach Polen gehen, seine Eltern sind in Treblinka vergast worden, er hat im Warschauer Getto gearbeitet, Widerstand geleistet. Wie haben Sie das gesehen? Ist das etwas, von dem Sie dann damals empfunden haben, das ist eine ganz andere Erfahrung, aus der Reich-Ranicki herauskommt?

    Radisch: Ja ganz sicher, und es ist ja eigentlich auch ein Wunder, dass jemand, der aus dem Warschauer Getto kommt, von seiner Liebe zur deutschen Literatur nicht lassen kann. Dass das kulturelle Deutschland für ihn unbeschädigt geblieben ist und durch den Nationalsozialismus nicht kaputtgemacht wurde, das ist ein Wunder und dafür haben die Deutschen ihn ja auch so geliebt. Das war ja auch in einer gewissen Weise eine deutsch-jüdische Versöhnung, die in der Person von Reich-Ranicki stattgefunden hat, und er hat völlig zurecht ja auch all diese großen Ehren empfangen. Das war wirklich ein Wunder, dass jemand, der ja auch aus Berlin vertrieben wurde, zurückkam und hier leben wollte und so viel für die deutsche Literatur getan hat. Da verneigt man sich selbstverständlich völlig zurecht.

    Meurer: Reich-Ranicki hat einmal gesagt, er denke jeden Tag an seine Eltern und an seinen Bruder, der aus Angst vor der SS Selbstmord begangen hat. Sie sagen, die deutsche Literatur hat er geliebt. Und die Deutschen, Deutschland?

    Radisch: Er war da sehr nüchtern, wie so vieles. Er war sehr nüchtern. Ich habe ihn nie klagen gehört. Es gab keine großen Abrechnungen mit der Vergangenheit. Er hat da in einer gewissen Weise eine Tür zugemacht, die er dann in seiner Autobiografie "Mein Leben" noch mal ein bisschen aufgemacht hat. Aber auch da sind ja die Passagen, die das Getto betreffen, die die Vernichtung betreffen, von einer Sachlichkeit, die einem ganz besonders zu Herzen geht. Er war da nie sentimental. Er war überhaupt kein Mann, der sozusagen sein Innenleben, sein Seelenleben je ausgebreitet hätte. Das war überhaupt nicht seine Sache. Und diese Nüchternheit, mit der hat er das, glaube ich, auch alles sein Leben lang von sich weghalten können, diese Erinnerungen bändigen können, diese Dämonen in sich bändigen können.

    Meurer: Iris Radisch, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Zeit", zum Tod von Marcel Reich-Ranicki. Danke schön.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.