Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Erdbeben und radioaktive Verseuchung

In diesem Jahr ist es 25 Jahre her, dass sich im Reaktor von Tschernobyl der Super-Gau ereignete. Trotz dieser Katastrophe mit unübersehbaren Folgen für Menschen, Tiere und Natur, gibt es heute mehr Kernkraftwerke als 1986. Man fragt sich, ob Menschen nicht in der Lage sind, aus erlittenen Katastrophen dazuzulernen.

Von Ursula Storost | 09.06.2011
    Es sind apokalyptische Bilder, die sich eingeprägt haben. Bilder des 21. Jahrhunderts. Wie die der Ölpest im Golf von Mexiko 2010, des Hurrikans Katrina 2005 und des Tsunamis im indischen Ozean von 2004.

    "Zuerst müssen wir mal klären, was unter einer Katastrophe zu verstehen ist. Der große Schriftsteller Max Frisch hat 1978 geschrieben: Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine Katastrophen."

    Christian Pfister ist Professor Emeritus für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Bern. Er beschäftigt sich seit Jahren mit historischer Klimaforschung. Menschen sprechen von Katastrophen, wenn sie durch unerwartete lebensbedrohliche Ereignisse auf Hilfe angewiesen sind, sagt er.

    "Wie sich eine Katastrophe auswirkt, ist abhängig von der Verletzlichkeit einer Gesellschaft und von der Reaktion der Verantwortlichen. Das hat sich bei Hurrikan Katrina im August 2005 beispielsweise gezeigt. Ich war damals in Grindeswald. Eine ganze Menge von US-Klimaforschern waren auch dort. Und die haben schon als sich der Sturm der Küste näherte, haben die vorausgesagt, was geschehen würde. Schritt für Schritt. Aber Präsident George W. Busch ließ viel wertvolle Zeit verstreichen, ehe er Maßnahmen anordnete."

    Natur hat ihre eigene Dynamik. Es fällt den Menschen schwer, das zu akzeptieren. Nicht nur den heutigen, konstatiert Christian Pfister. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert galt Natur als Störung.

    "Die Natur war etwas, was Unordnung in Ordnung hineinbrachte, die alles durcheinander wirbelte und die folglich gezähmt werden musste. Das war das Naturbild des Fortschritts, das im 18. Jahrhundert entstanden ist. Also Natur hat sich dem Menschen zu fügen. Sie muss domestiziert werden. Das heißt, wenn irgendwo eine Überschwemmung eintritt und es sind Dämme da, müssen die erhöht werden."

    Es sei erstaunlich, dass Menschen so wenig dazu lernten. Wenn Hochwasser und Stürme längere Zeit nicht mehr eingetreten, Erdbeben oder Dürre lange ausgeblieben sind, wird schnell wieder zu einer Tagesordnung übergegangen, in der es niemals Katastrophen gab.

    "Dann heißt es, diese Brücke, die muss nicht so stabil gebaut werden. Da könnte ich sparen. Da ist doch schon ewig lang nichts mehr gekommen. 1987 hatten wir ein Riesenhochwasser in der Schweiz und die Leute haben gleich gesagt, ja, das ist die Bodenversiegelung. Das ist die Abholzung. Und die historische Forschung hat dann gezeigt, dass es x solcher Ereignisse früher mal gegeben hatte. Und die hat man einfach vergessen."

    Je häufiger Katastrophen einträten, umso mehr seien die Menschen sensibilisiert. Sie würden die Spielarten der Natur akzeptieren und versuchen, damit zu leben. So hätten die ständig von Erdbeben gebeutelten Japaner im Allgemeinen ein Risikobewusstsein, was bei Erdbeben zu tun sei. Ihre Häuser seien weitgehend sicher gebaut. Hingegen stand man hierzulande bei einigen Hochwasserereignissen, wie der Oderflut 1997, fast hilflos da. Man hätte es besser machen können, glaubt der Klimaforscher.

    Schon 1784 habe es in Deutschland ein schweres Hochwasser gegeben. Eisschollen trieben auf den Flüssen, verwüsteten Brücken, Gebäude und Schiffe. Und rissen Menschen in den Tod. Eine der größten Naturkatastrophen der frühen Neuzeit. Damals, so Christian Pfister, hätten Behörden und Anwohner gelernt, sich zu schützen:

    "Da gab es 1845 eine zweite, eher noch schlimmere Eisflut. Und bei dieser Eisflut hat alles quasi geklappt. Das lief dann alles wie am Schnürchen ab. Aber anschließend hat man wieder vergessen."

    Von Naturvergessenheit der Menschen spricht Martina Heßler. Die Professorin lehrt neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg.

    "Naturvergessenheit meint eine Entwicklung, einen historischen Prozess, in dem die Menschen das Wissen über Natur vergessen haben. Es gibt relativ wenig Wissen über Naturvorgänge und es gibt oft wenig Wissen über Naturereignisse. Und das führt oft zu viel größeren Auswirkungen von Katastrophen, als wenn man das Wissen über Natur hätte."

    Für diese Naturvergessenheit hat Martina Heßler ein eindringliches Beispiel. Ein Hurrikan, der im Jahr 1926 Florida heimsuchte.

    "Dieser Hurrikan kam, die Leute blieben in ihren Wohnungen. Dann gibt es eine Pause in diesem Sturm und die Leute gehen wieder raus, weil sie glauben, der Sturm ist vorbei. Und dann kommt der Sturm aber mit aller Wucht zurück und weht die Menschen von den Brücken, von den Straßen. Und das ist das, was ich mit Naturvergessenheit meine. Das Nichtwissen, dass ein Hurrikan so eine Pause haben kann und dann mit aller Gewalt stärker sogar kommen kann."

    Die Regeln der Natur nicht zu kennen, sei genauso gefährlich, wie die Regeln der Natur zu ignorieren, sagt die Historikerin. Menschen wollten die Natur immer nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten. Dabei wisse man aber: begradigte Flüsse bedeuten Hochwasser, gerodete Wälder Schlammlawinen.

    "Zum einen muss man natürlich schon sagen, dass Menschen aus Katastrophen lernen. Ein Beispiel ist die Holland-Sturmflut 1953, die fast 2000 Todesopfer gefordert hat, unendlich viele Tiere, die gestorben sind, Obdachlosigkeit usw. Und infolge dieser Sturmflut hat zum Beispiel Holland ein ganz neues Deichsicherheitssystem aufgebaut, den sogenannten Deltaplan. Ein gigantisches Technologieprojekt, das versucht hat, kurz gesagt, das Wasser draußen zu halten. Und seitdem ist tatsächlich keine neue Sturmflut über Holland hereingebrochen."

    Lernen aus der Katastrophe bedeute meistens, die Technik zu verbessern. Zum Beispiel die Deiche zu erhöhen, oder Atomkraftwerke mit Schutzhüllen auszustatten, um so die nächste Katastrophe zu verhindern. Es gibt sogar die These, dass Katastrophen der Motor von Fortschritt seien.

    "Darin liegt aber das Problem, dass im Grunde jeder technische Unfall und jede Naturkatastrophe ein Einzelfall ist. Es gibt immer eine ganz individuelle Ursache von Katastrophen, also ne individuelle Konstellation der Unfallursache, die man dann verbessern kann. Aber das heißt nicht, dass im nächsten Fall nicht ne ganz andere Konstellation wieder zum Unfall führen wird. Das heißt die Sicherheitstechnik verhindert die Wiederholung des exakt gleichen Falles. Aber sie öffnet natürlich neue Unfallmöglichkeiten, weil ganz neue Konstellationen, die wir gar nicht vorhersehen können, möglich sind."

    Technik, sagt Martina Heßler, bringe immer Gefahren mit sich. So sei die Erfindung der Eisenbahn auch die Erfindung des Eisenbahnunfalls gewesen. Je weiter entwickelt die Technik, umso höher das Risiko.

    "Also dass ein Zug, der 30 fährt, ne Weichenverschiebung überhaupt nicht wahrnimmt, während wenn sie mit 300 Geschwindigkeit über ne Weichenverschiebung fahren, der Zug entgleißt."

    Ein Risiko, dass jeder Konstrukteur eines Schnellzuges kennen müsste. Gleichwohl wird er nicht das Bewusstsein haben, dass man fortan mit schwersten Unfällen wird leben müssen. Er wird das Bewusstsein des Fortschritts haben. Der Mensch glaubt, Raum und Zeit beherrschen zu können. Deshalb sind Katastrophen im 21. Jahrhundert besonders brisant.

    "Naturkatastrophen führen fast immer zu technischem Unfall, seien es Stromausfälle, seien es Feuer, die dann ausbrechen. Das heißt, Naturkatastrophe führt in einer so hoch zivilisierten Welt fast immer zu technischen Unfällen in der Folge. Und umgekehrt haben wir technische Unfälle wie Deepwater Horizon, die als technische Unfälle unglaubliche Auswirkungen auf die Natur haben. Also mit diesem Öl, das in immensen Mengen ins Meer floss, hat der technische Unfall wiederum ne Naturkatastrophe hervorgebracht."

    Am 8. April 2011 kam es auf der A 19 zu einer Massenkarambolage. Zehn Menschen starben, einhunderteinunddreißig wurden verletzt. Ursache war ein Sturm, der nach langer Trockenheit den Staub von den Äckern in Richtung Autobahn wehte. Von extrem großflächigen Äckern mit humusarmer Bodenstruktur ohne Hecken und Knicks. Dass so heftige Sturmböen Sand aufwirbeln und tödliche Unfälle nach sich zögen, hätte man nicht ahnen können, kommentierte eine Behördensprecherin.

    "Katastrophen sind Ursachenketten. Also man nutzt die Landwirtschaft, aber hier führt auch ne Verkehrsstraße durch. Die Gesellschaften sind verletzlich, verletzbar. Eben dadurch, dass sie diese Multidimensionalität der Abhängigkeit von der Natur, das Zusammenwirken verschiedener Kräfte nicht mitbedenken. Und wenn man ne Autobahn hier durchbaut und wenn man Landwirtschaft so exzessiv nutzt, dann kann es zu solchen Problemen kommen."

    Dr. Christian Kehrt ist Historiker. Er lehrt neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Helmut Schmidt Universität. Sandstürme, die aufgrund exzessiver Landnutzung entstehen, sind keine Seltenheit, sagt er. Bereits in den neunzehnhundertdreißiger Jahren gab es in Nordamerika verheerende Staubstürme, die viele Existenzen vernichteten. Die sogenannte Dust Bowl.

    "Die Dust Bowl ist ein historisches Ereignis, wo man ganz klar den Menschen als Haupt- oder Mitverursacher dieser Katastrophe identifizieren kann. Und hier im Grunde auch diese Problematiken des Bezuges zur Natur, des Umgangs zur Natur, des nicht nachhaltigen Wirtschaftens mit der Ressource Boden kann man an diesem Beispiel sehr schön herauspräparieren."

    Es war der Beginn einer industriellen Landwirtschaft, sagt Christian Kehrt. Die Großfarmer wollten dem Boden größtmöglichen Gewinn abringen.

    "Das war dann auch der Beginn, wo man angefangen hat, nachzufragen, was können wir besser machen? Können wir daraus lernen, auch ganz praktisch. Die Wissenschaftler haben sich diese Fragen gestellt. Sie konnten sich aber im Grunde mit ihren Ideen einer ökologischen Landnutzung nie durchsetzen durch diesen kapitalistischen Geist, diesen Fortschrittsglauben, den man hier am Beispiel der Landwirtschaft verdeutlichen kann."

    Ein Blick in die Antike zeigt, dass Menschen bereits früh versuchten, mittels Technik die Natur zu überlisten, sagt Burkhard Meißner. Er ist Professor für Alte Geschichte an der Helmut Schmidt Universität und beschäftigt sich mit Katastrophen im Altertum. Als im 6. Jahrhundert die Kuppel der Hagia Sophia in Konstantinopel durch ein Erdbeben zerstört wurde, baute man sie wieder auf. Mit neuer, robusterer Technik. Die Menschen hatten gelernt, dass in Erdbebengebieten solider gebaut werden musste.

    "Aber man kann im Prinzip ja auch etwas anderes daraus lernen. Man hätte auch draus lernen können, wir bauen gar keine so große Kirche mehr. Oder man kann lernen, so etwas passiert regelmäßig, wir müssen uns damit abfinden, dass Kirchen gelegentlich zusammenstürzen."

    Eigentlich hat sich am menschlichen Denken und Handeln in den letzten 1500 Jahren nicht viel geändert, konstatiert der Historiker. Und er zieht Parallelen zur heutigen Diskussion um Atomkraftwerke.

    "Aus einem Atomkraftwerksdesaster wie dem von Tschernobyl kann man lernen, dass Atomkraftwerke explodieren können. Also sollte man keine Atomkraftwerke bauen. Man kann aber auch lernen, dass Atomkraftwerke explodieren können, dass die Explosionen fürchterliche Folgen haben, dass man mit diesen Folgen aber bereits seit 25 Jahren leben kann. Also kann man daraus den Schluss ziehen, man kann durchaus Atomkraftwerke bauen. Das ist eine Frage der Werte, aber auch der Interessen. Des ökonomischen Kalküls, der ökonomischen Umstände und am Ende natürlich der politischen Entscheidung."

    Die Historikerin Martina Heßler sieht das ähnlich. Es gebe ein immer gleiches Schema nach Katastrophen: eine eingesetzte Untersuchungskommission ginge auf Fehlersuche und entwerfe neue Konzepte für verbesserte Sicherheit.

    "Und dann ist das Problem im Grunde genommen geregelt. Also das ist der übliche Ablauf nach Katastrophen. Man kann historisch nicht sagen, dass grundsätzlich große Entscheidungen nach Katastrophen getroffen werden. Und wenn wir tatsächlich nun einen Atomausstieg hätten, ich würde vermuten, dass es das erste Mal in der Geschichte wäre, dass nach einer Katastrophe wie Fokushima, die die dritte nukleare Katastrophe seit 1979 ist. Das wäre also dann eine Reihe von Katastrophen, die dann endlich 2011 zu einer grundlegenden Neuentscheidung im Energiebereich geführt hätte."

    Der Klimaforscher Christian Pfister aus Bern ist allerdings skeptisch, ob diese Entscheidung wirklich von Dauer sein wird.

    "Der Härtetest für die neuen Energien wird in dem Moment kommen, wo erstmals eine fühlbare Stromverknappung eintritt. Und dann werden die Vertreter der Technologien immer nicht müde zu betonen, dass bei uns alles anders und viel sicherer sei als in Japan und in Russland. Ich weiß nicht, wie die Menschen dann reagieren, wenn Energiekürzungen erfolgen. Ob sie dann nicht bereit sind, wieder auch zu den verketzterten Energien zurückzukehren. Das Wort unmöglich habe ich aus meinem Wortschatz seit langem gestrichen. Das würde mich nicht verwundern."

    Christian Pfister arbeitet seit Jahren über Risikobewusstsein und Erinnerungskultur. Dabei stieß er auch auf historische Dokumente in denen Menschen ihre eigene Sichtweise auf erlebte Katastrophen schildern. Auf diese lebens- und existenzbedrohenden Ungeheuer.

    "Das Ungeheuer, das war die große Überschwemmung von September 1633 in Grenoble. Da hat ein Krämer ein Gedicht gemacht in Grenobler Dialekt, wie er dann beschreibt, was geschieht. Ist richtig spannend. Und am Schluss heißt es: le monstre t'anglouti. Das heißt zu Deutsch, das Ungeheuer, die Flut, die immer ansteigt, die Leute, die erstarrt sind. Und am Schluss verschluckt dich das Ungeheuer."