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Erdisek-Rave: Frühes Aufteilen der Schüler ist schädlich

Ute Erdisek-Rave (SPD), Kultusministerin von Schleswig-Holstein, hält den Bericht von UNO-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz in einigen Bereichen für nicht ausreichend fundiert. Recht gebe sie Muñoz allerdings in seiner Kritik des dreigliedrigen Schulsystems. Aus diesem Grund gliedere man in Schleswig-Holstein die Hauptschule in die Realschule ein. Wichtig sei für die Förderung der Kinder, nach Leistungen zu differenzieren, allerdings ohne sie grundsätzlich zu trennen.

Moderation: Sylvia Engels | 22.03.2007
    Silvia Engels: Gestern legte der UN-Beauftragte Vernor Muñoz seinen Bildungsbericht für Deutschland vor. Darin erneuerte er seine Kritik, wonach das dreigliedrige deutsche Schulsystem in Gymnasien sowie Haupt- und Realschulen diskriminierend sei. Das System sei selektiv, es setze behinderte, ausländische und sozial benachteiligte Schüler zurück. Das betonte Muñoz in Genf. Er stütze sich dabei auch auf die Pisa-Studie. Am Telefon ist nun Ute Erdisek-Rave, SPD. Sie ist Kultusministerin von Schleswig-Holstein. Guten Morgen!

    Ute Erdsiek-Rave: Guten Morgen!

    Engels: Hat Herr Muñoz Ihrer Meinung nach Recht?

    Erdsiek-Rave: Er hat gewiss nicht in allem Recht, was er anprangert. Er bezieht sich auf den Pisa-Bericht und auf einige wenige Schulbesuche, und er tritt zum Beispiel ein für Homeschooling und dergleichen, was in unserem Schulsystem nicht geht. Und er kritisiert auch, finde ich, zu scharf die mangelnde Förderung von behinderten Kindern. Da sind wir, glaube ich, in Deutschland weiter, als er das festgestellt hat, mit Integrationsmaßnahmen und mit sehr kleinen Gruppen bei der Förderung behinderter Kinder. Aber er hat meiner Meinung nach Recht mit seiner Kritik am dreigliedrigen Schulsystem, und er ist ja nun wahrlich auch nicht der einzige, der das kritisiert. Wenn Sie den Bereicht des IFO-Instituts von heute sehen, schlägt das genau in dieselbe Kerbe.

    Engels: Die Bundesregierung, die Kultusministerkonferenz und auch UN-Botschafter Steiner haben dagegen den Muñoz-Bericht komplett zurückgewiesen. Eine bewusste bildungspolitische Ungleichbehandlung von Kindern mit Migrationshintergrund sei nirgends in Deutschland erkennbar. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

    Erdsiek-Rave: Also es ist wohl richtig zu sagen, bewusste Diskriminierung, die ist nicht da.

    Engels: Aber eine latente?

    Erdsiek-Rave: Im Gegenteil haben wir seit Vorliegen der Pisa-Studie Maßnahmen ergriffen, und zwar in allen Bundesländern, die den Schwerpunkt legen auf frühes Lernen, auf frühe Sprachförderung, auf das Prinzip, auf den Anfang kommt es an, und das richtet sich besonders auf Kinder aus Migrantenfamilien und Kinder aus, ja sagen wir, benachteiligten Familien. Also das bleibt richtig, und das hat Herr Muñoz, finde ich, auch nicht richtig gewürdigt.

    Aber es ist natürlich wahr, und der Bundespräsident hat es angeprangert, alle, die wirklich das System unvoreingenommen betrachten, müssen sagen, wir haben ein System, was den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg verfestigt hat, und meiner Meinung nach hängt das auch mit dem früheren Aufteilen der Kinder auf Schularten zusammen. Deswegen haben wir in Schleswig-Holstein ja auch daraus die Konsequenzen gezogen, haben gesagt, die Hauptschule ist so nicht mehr überlebensfähig, und das ist ein Trend, der bundesweit zu beobachten ist, also da beißt die Maus keinen Faden ab. Und wer jetzt nach wie vor sagt, das dreigliedrige Schulsystem hat sich bewährt, der ist, finde ich, auf dem Holzweg.

    Engels: Kommen wir auf Ihre Beispiele zu sprechen: Sie haben vor, die Schulformen Hauptschule und Realschule zusammenzulegen. Ab 2010, 2011 sollen daraus Regionalschulen werden. Was versprechen Sie sich denn konkret davon?

    Erdsiek-Rave: Ja, das ist ja noch nicht alles. Wir lösen also die Hauptschulen auf, führen sie mit Realschulen zusammen. Aber es gibt auch die Option, die viele Schulträger bei uns wahrnehmen wollen, nämlich Gemeinschaftsschulen einzurichten, in denen alle Kinder bis Ende der Sekundarstufe I zusammen unterrichtet werden, also eine Weiterentwicklung der Gesamtschule. Und das ist angesichts der demografischen Entwicklung und der Notwendigkeit, mehr Kinder zu besseren Abschlüssen zu führen, auch einer der Wege, die wir gehen wollen, und das ist in einer Großen Koalition möglich geworden, und darüber bin ich sehr froh.

    Engels: Was unterscheidet dann Ihr Modell von den heutigen Gesamtschulen?

    Erdsiek-Rave: Es ist flexibler. Es kann auch kleiner sein als die heutigen Gesamtschulen. Es muss nicht unbedingt eine Oberstufe hoben. Was gemeinsam ist, ist die Anstrengung sozusagen möglichst viele Kinder auch zu gutem Abschluss zu führen, auch wenn sie unterschiedliche Schulartempfehlungen haben. Und der Unterschied besteht darin, dass wir nicht wie in vielen Gesamtschulen nach der Orientierungsstufe streng aufteilen in unterschiedliche Leistungsgruppen, sondern so weit wie möglich mit Binnendifferenzierung und unterschiedlichen Formen der Leistung, der Differenzierung nach Leistung zu arbeiten. Also so wenig wie möglich trennen, sondern das Prinzip verfolgen, Kinder voneinander lernen zu lassen, die Guten und die Schwachen sich wechselseitig anregen zu lassen, also die Starken und die Schwachen gleichermaßen zu fördern. Das ist ein anspruchsvolles Programm, das weiß ich, aber wir unterfüttern das mit Fortbildung und mit der Anstrengung, die Schulen wirklich gut darauf vorzubereiten.

    Engels: Aber die Gymnasien beziehen Sie ja nicht explizit mit ein. Warum?

    Erdsiek-Rave: Die Gymnasien sind bei der Zweigliedrigkeit als eigenständige Schulform erhalten geblieben. Das ist der notwendige Kompromiss, den wir geschlossen haben. Ich glaube auch nicht, dass man Erfolg damit hat, wenn man auf einen Schlag alle Schulformen zusammenführt sozusagen von oben, sondern das ist ein längerer Prozess, der aber mit, wenn Sie so wollen, der Aufweichung des streng dreigegliederten Systems begonnen hat. Und wir haben natürlich auch Bestrebungen in Schleswig-Holstein, wo Gymnasien zusammen mit Hauptschulen und Realschulen eine Gemeinschaftsschule bilden wollen, weil sie erhalten bleiben wollen als Schulangebot und weil sich mehr und mehr übrigens auch bei Eltern eine Einsicht durchsetzt, die heißt, dieses ständige Aussortieren, dieses bedroht Sein von Abstieg, von Sitzenbleiben, Wiederholung, das wollen wir nicht mehr, sondern wir wollen eine optimale Förderung aller Kinder.

    Engels: Wie reagieren denn generell die Eltern, die Schüler und die Lehrer auf Ihre Pläne?

    Erdsiek-Rave: Es gibt natürlich viel Bewegung jetzt und viel Diskussion im Lande. Wie soll das gehen, schaffen die Lehrerinnen und Lehrer das? Es gibt auch die Frage, ist die Regionalschule das Erfolgreichere oder die Gemeinschaftsschule? Wir haben einen Prozess von unten. Wir stülpen nichts über. Wir lassen Zeit, und ich glaube, was Konsens ist, ist, dass die Hauptschule als Schulform längerfristig nicht überleben kann. Die Eltern fragen sie nicht mehr nach, und alle Bildungsforscher, die wir gefragt haben, die sagen uns, das Milieu, wenn ich das mal so nennen darf, das sich bildet an den Hauptschulen, mit Schülern, die frustriert sind, perspektivlos sich fühlen, wo auch immer wieder Absteiger aus anderen Schulformen hineinkommen, das ist nicht lernanregend und das ist nicht lernfördernd, und deswegen ist es besser, sozusagen diese Schulform zu integrieren.

    Engels: Ist denn die Förderung speziell sozial benachteiligter Schüler oder ausländischer Kinder nicht weniger eine Frage der Schulform, sondern vielmehr eine Frage des Geldes?

    Erdsiek-Rave: Wissen Sie, ich glaube nicht, dass man nach dem Motto "Viel hilft viel und mehr Lehrerstellen und mehr Unterrichtsstunden" die Hauptschule ausreichend fördern kann. Natürlich gibt es unglaublich viel gute pädagogische Anstrengung in den Hauptschulen. Wir haben in den letzten Jahren das Unterrichtsvolumen erhöht. Es gibt tolle Projekte an den Hauptschulen, aber das Grundproblem, das wird man dadurch nicht beseitigen. Natürlich braucht man mehr Geld, das werden wir auch zur Verfügung stellen in den nächsten Jahren. Natürlich braucht man auch mehr Zeit, aber so zu tun, als hätten die Strukturen gar nichts zu tun, das, finde ich, greift zu kurz.

    Engels: Sie bauen jetzt die Strukturen um. Was sagt denn die Kultusministerkonferenz dazu, denn man braucht ja einheitliche Standards schon deshalb, wenn Schüler aus anderen Bundesländern wechseln oder umgekehrt?

    Erdsiek-Rave: Wir haben ja in der KMK mehr Gemeinsamkeiten in Bezug auf Standards und Abschlüsse als jemals zuvor. Das hat Herr Muñoz leider auch übersehen. Also die Verabredung auf bestimmte Leitlinien in der Bildungspolitik, die ist ja da, und das gilt auch für unsere neuen Schulformen. Die Orientierung an den Standards, die klare Orientierung an zentralen Abschlussprüfungen, die gilt für alle Schulformen. Uns ist es sehr wichtig, dass die Qualität gesichert bleibt. Es geht nicht nur um neue Strukturen, sondern natürlich auch um Qualität und um Inhalte und um individuelle Förderung. Das ist das Grundprinzip. Das ist die Leitphilosophie unseres Schulgesetzes.

    Engels: Wenn Sie selbst kritisch auf Ihr Modell drauf schauen, wo werden die größten Probleme entstehen?

    Erdsiek-Rave: Die Probleme entstehen da, wo Schulen zusammenwachsen, wo unterschiedliche Kulturen auch in den unterschiedlichen Schulformen aufeinander treffen. Das darf man nicht unterschätzen, und deswegen müssen wir dies auch sehr gut begleiten, die Schulleitungen unterstützen bei diesen Prozessen, wo Kollegen zusammenwachsen müssen, auch Fachcurricula erarbeiten, in der Lehrerausbildung und Fortbildung etwas tun. Aber ich sehe mit Freude, dass die Bewegung, die im Schulsystem ist, bei den Schulträgern und bei den Kollegien sehr viel ausgelöst hat an Überlegungen, wie ist eigentlich unsere Zukunft, wie wollen wir sie gestalten, und das ist an sich ein guter Prozess.

    Engels: Vielen Dank für das Gespräch.