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Erfolg, Affairen und fatale Fehler

Die Linke in Brandenburg hat mit Enthüllungen neuer Stasi-Fälle zu kämpfen. Im Saarland und in Thüringen ging das Kalkül der Linken, in Regierungsverantwortung zu gelangen, nicht auf. Und innerhalb der Partei droht ein Richtungsstreit.

Von Jacqueline Boysen und Axel Flemming | 11.12.2009
    Seit Montag ziehen wieder Demonstranten durch die Fußgängerzone von Potsdam. Sie protestieren gegen die rot-rote Regierung in Brandenburg und für Neuwahlen. Denn - so der Eindruck in den vergangenen Wochen - nahezu täglich gab es Enthüllungen über neue oder vermeintlich neue Stasi-Fälle. Bei drei Abgeordneten der Linken war die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR allerdings schon lange bekannt.

    Der innenpolitische Sprecher der Fraktion und Diplomstaatswissenschaftler Hans-Jürgen Scharfenberg berichtete in den 70er- und 80er-Jahren als IM "Hans-Jürgen" über Kollegen aus der Potsdamer Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften.

    Der Abgeordnete Axel Henschke war von 1971 bis 1973 beim MfS-Wachregiment "Feliks Dzierzynski" im Stasi-Untersuchungsgefängnis Frankfurt an der Oder. Danach war Henschke für die Stasi als IM "Ingolf Köhler" tätig, was er nach der Wende offen legte.

    Kerstin Kaiser ließ sich kurz vor dem Abitur 1979 anwerben. Sie studierte Slawistik in Leningrad und schrieb als IM "Kathrin" aus der Sowjetunion Spitzel-Berichte über Kommilitonen. Im Wahlkampf 1994 machte sie das bekannt und verzichtete auf das bereits gewonnene Bundestagsmandat. Danach holte sie mehrfach den Direktwahlkreis für den Landtag. Dort sitzt sie jetzt als Fraktionschefin der Linken und plädiert für Vergangenheitsbewältigung.

    "Charakter ist doch nichts Genetisches. Ein Mensch bildet sich doch im Lauf seines Lebens aufgrund seiner Erfahrungen. Und auch ein Charakter bildet sich aus und verändert sich aufgrund von Erfahrungen."

    Auch der Landesvorsitzende der Linken Thomas Nord ließ sich 1983 als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS verpflichten. Er gehört jetzt dem Bundestag an.

    Das allein wären schon auffällig viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter in einer Partei gewesen. Doch bekannt wurden nach der Landtagswahl noch weitere Fälle. Der Druck wächst - und so rief die Brandenburger Linke für morgen kurzfristig einen Kleinen Parteitag ein. Dort solle die aktuelle Lage im Land diskutiert und über Schlussfolgerungen aus der aktuellen Geschichtsdebatte nachgedacht werden, sagte eine Parteisprecherin.

    Die Vergangenheit erst einmal ruhen zu lassen, dafür entschied sich zum Beispiel die Brandenburger Abgeordnete Renate Adolph. Sie hatte als junge Frau mit der für Auslandsspionage zuständigen Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung zusammengearbeitet. Das allerdings offenbarte sie erst, nachdem die rot-rote Koalition gebildet war. Ihr Landtagsmandat gab sie wieder zurück.

    Gerd-Rüdiger Hoffmann unterschrieb 1970 als Schüler eine Verpflichtungserklärung unter dem Decknamen IM "Schwalbe". Der Kulturpolitiker verschwieg seine Stasi-Mitarbeit bis vor wenigen Wochen. Am 4. Dezember trat er dann aus der Linksfraktion aus, ohne allerdings sein Mandat zurückzugeben. Kurz zuvor, auf einer Klausur der Fraktion in der Uckermark hatte er gesagt, an die Vorgänge aus der Jugendzeit könne er sich nicht erinnern - sie lägen schließlich 40 Jahre zurück.

    "Von dieser Verpflichtungserklärung hatte ich nichts in Erinnerung, andere Dinge schon. Ich habe versucht, sicherlich auf einer Ebene, die nicht immer verstanden wurde, damit umzugehen. Ich hab ein paar Fehler gemacht. Ich bin überhaupt nicht cool. Ich bin auch nicht clever. Das nehme ich alles zur Kenntnis. Ich bedaure es, dass man offensichtlich clever sein muss in dieser Situation."

    Die ehemalige SED-Funktionärin Gerlinde Stobrawa wurde von der Stasi als IM "Marisa" geführt, ohne dass bislang eine Verpflichtungserklärung gefunden wurde. Sie hatte ihre dienstlichen Stasi-Kontakte bereits kurz nach der Wende veröffentlicht. Rot-Rot wählte sie dennoch zur Landtagsvizepräsidentin. Nach Unklarheiten über den vollen Umfang ihrer Stasi-Akte, gab sie ihren Posten als Vizepräsidentin auf, bleibt aber Landtagsmitglied.

    Und so brachte die Vergangenheit, die nur schleppend, Schritt für Schritt, aufgedeckt wurde, die rot-rote Koalition in Erklärungsnot. In einer Regierungserklärung räumte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck einen Fehlstart ein, beharrte aber darauf:

    "Es ist meine tiefe Überzeugung, dass Menschen die Verantwortung in der DDR getragen haben, die systemnah waren, die persönliche Schuld auf sich geladen haben, das selbstverständliche Recht haben müssen, sich unter den Bedingungen der freiheitlichen Demokratie neu zu bewähren und Schuld auch abzutragen."

    Voraussetzung dafür seien Einsicht, Selbsterkenntnis und tätige Reue. Der SPD-Politiker bedauerte, dass Schaden angerichtet worden sei.

    "Es hat aber seit 1990 im Brandenburger Landtag keine systematische Stasi-Überprüfung aller Abgeordneten mehr gegeben. Wir müssen uns eingestehen - und auch ich ganz persönlich muss mir eingestehen: Das war ein Fehler."

    Es sei kein Wunder, dass den Genossen ausgerechnet im Land Brandenburg erst jetzt die dunklen Kapitel aus ihren Lebensläufen vorgehalten würden - so der Seufzer von Dietmar Bartsch. Die "kleine DDR", wie das vom Sozialdemokraten Manfred Stolpe in die Demokratie geführte Brandenburg apostrophiert wurde, pflegte in Bezug auf die zweite deutsche Diktatur lange Geschichtsvergessenheit. Die Linke insgesamt bade das heute aus, so der langjährige Bundesgeschäftsführer der Partei.

    "Also in Brandenburg hat es viele spezifische Ursachen, warum wir die Auseinandersetzung jetzt haben. Ich bin da auch nicht glücklich. Dass Fehler gemacht wurden, ist auch klar. Aber klar ist auch, die Bundesspitze hat nicht die Lösung. Das ist auch so schnell nicht gelöst. Es ist ein ostdeutsches Problem, ein Resultat aus dem Umgang mit der Geschichte seit 1989."

    Dietmar Bartsch hat auch schon die Vorgängerpartei PDS durch aufgewühlte Fahrwasser begleitet. Der 51-jährige Stralsunder, der gewohnt ist, Angriffe auf seine Partei in jeder Talkshow mit floskelhaften Antworten stoisch zurückzuweisen, ist sichtlich genervt. Ständig erschüttern Eruptionen die Partei auf dem Weg in die Normalität.

    "Der Vulkan ist ja jetzt ausgebrochen. Das hat nichts damit zu tun, dass unsere Beschlüsse oder unser Herangehen falsch waren. Es heißt vielmehr, dass diese Frage nicht erledigt ist. Sie wird auch in zehn Jahren nicht beendet sein. Wir müssen erkennen, dass die Vergangenheitsfrage auch in der politischen Auseinandersetzung genutzt wird. Deshalb müssen wir da Konsequenz und Klarheit an den Tag legen."

    Offenlegung und Aufarbeitung aus parteistrategischen Gründen. Dieter Bartsch sagt das mit unbeweglicher Miene, doch hat er in den Wochen seit der Wahl ein Wechselbad der Gefühle erleben dürfen. Die Mitglieder der Führungsriege der Linken waren nach dem Erfolg bei der Bundestagswahl auf anderes eingerichtet als auf Krisenmanagement in Sachen Stasi-Vergangenheit. Die Linke fuhr stolze 11,9 Prozent ein und schien mit dem Wahltag eine neue Daseinsstufe erreicht zu haben.

    "Seit 1949 hat es in der Bundesrepublik noch nie ein zweistelliges Wahlergebnis für eine politische Kraft links von der Sozialdemokratie bei einer Bundestagswahl gegeben. Das ist wirklich eine gravierende Veränderung, weil es vor allen Dingen in den alten Bundesländern doch erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit einer Partei links von der Sozialdemokratie gab und wahrscheinlich auch zum Teil noch gibt. Trotzdem ist dort eine Akzeptanz erreicht worden, die erstaunlich ist. Wir haben damit auch Veränderungen eingeleitet."

    Der 61-jährige Politprofi Gregor Gysi jubilierte: Die Linke hatte erstmals auch in den westlichen Landesteilen ein stattliches Wahlergebnis eingefahren. Selten waren die prinzipiell zerstrittenen Genossen so einig wie in ihrer Dankbarkeit: Oskar hatte es vollbracht, die Nachfolgepartei von SED und PDS von ihrem grauen Altkader-Image zu befreien und sie zusammen mit ihrem westdeutschen Anhängsel WASG als linke alternative Kraft im politischen Kräftefeld zu positionieren.

    "Die Analyse zeigt, dass die repräsentative Demokratie bei fallenden Löhnen, sinkenden Renten und steigenden Preisen die Interessen der Mehrheit nicht mehr durchsetzt. Daher müssen wir strukturelle Antworten geben."

    Der Star der Partei und der Wortgewaltigste aller Wahlkämpfer war der Saarländer. Oskar Lafontaine gebührte der Ruhm - das erkannten auch diejenigen an, die bisweilen schon mal mit den Zähnen knirschen ob seines autoritären Führungsstils. Der Wahl-Thüringer Bodo Ramelow schwärmt:

    "Der ist als Mensch und als Charakter und als Politiker ein solcher Vollblutpolitiker, der diese ganze Debatte um Finanzmarktentwicklung, Steuergerechtigkeit im Blut hat."

    Doch nicht nur das. Oskar Lafontaine verkörpert den Protest gegen die etablierte Politikerkaste, aus der er selbst stammt. Der ehemalige saarländische Ministerpräsident und Bundesminister, der vor zehn Jahren mit großer Geste die Regierungsbank und das Willy-Brandt-Haus verließ, den Bettel aus Wut hinschmiss, führte die Linke zu neuen Ufern. Nachdem er sich zusammen mit dem eher zurückhaltenden Lothar Bisky an die Spitze der neuen Linken setzte, verzeichnet diese einen wachsenden Zulauf: Ein Plus von 6500 Mitgliedern ergibt sich in den vergangenen Monaten, und ein positiver Saldo bleibt, obgleich fast 5000 abgängige Genossen in der Statistik auftauchen.

    Oskar Lafontaines wütende Attitüde zieht. Die Linke will zwar nicht allein Protestpartei sein, doch mobilisiert nichts mehr als die Antihaltung des ehemaligen SPD-Chefs, der als ätzender Reformkritiker, Rächer der Hartz IV-Empfänger und tapferer Kämpfer gegen Afghanistan- oder sonstige Bundeswehreinsätze auftrat.

    "Die Linke ist erst vor zwei Jahren gegründet. Wir hatten das Ziel, uns bei der Bundestagswahl noch einmal zu stärken. Wir hatten das Ziel, neben den ostdeutschen Landesparlamenten auch mindestens in drei westdeutschen Landesparlamenten erfolgreich zu sein. Wir haben das Ziel jetzt deutlich übertroffen. Wir sind in sechs westdeutschen Landesparlamenten. Wir haben bei der Bundestagswahl ein zweistelliges Ergebnis nach solch kurzer Zeit erreicht. Man kann also ohne Übertreibung sagen, die Linke hat das deutsche Parteiensystem endgültig verändert. Wir haben jetzt ein Fünf- oder Sechs-Parteiensystem."

    Im Nachhinein glaubt man, es heraushören zu können: Der übermächtige Vorsitzende klang nach der Wahl matt - da aber war noch nicht öffentlich, dass er sich - von einem Krebsleiden befallen - würde zurückziehen müssen. In drei Etappen machte der stets unter Strom stehende Physiker Partei und Öffentlichkeit mit seinem krankheitsbedingten Rückzug vertraut: Zunächst verzichtete er auf einer Fraktionsklausur auf seinen Platz neben Gregor Gysi an der Fraktionsspitze, zog sich ins Saarland zurück und legte schließlich eine Erklärung zu seinem Gesundheitszustand nach. Ohne dass der in dritter Ehe verheiratete Lafontaine noch einmal seinen Fluch aus den 90er-Jahren über den Zitat "Schweinejournalismus" hätte wiederholen müssen, setzte die Ankündigung eines operativen Eingriffs auch Gerüchten über eine angebliche Affaire mit der Ikone der postmodernen Marxisten Sahra Wagenknecht ein Ende.

    "Alle anderen Diskussionen sind in dieser Situation nicht zeitgemäß","

    ... kann Dietmar Bartsch derzeit unliebsame Fragen abwehren. Alle drei genannten Schritte jedenfalls kamen - wie bei Lafontaine üblich - überraschend, selbst für Parteikollegen. Der Mann mit dem gewaltigen Ego hatte intern keine Vorkehrungen getroffen. Und er hatte sich gravierend verkalkuliert. Im Saarland stand er mit seiner Linken, die hier von Gewerkschaftern dominiert wird, kurz vor der Regierungsbeteiligung. Die örtlichen Grünen aber entschieden sich am Ende für eine Jamaikakoalition und durchkreuzten den Plan.

    Damit ging mehr kaputt, als eine Rückkehr Lafontaines in die Regierung des Saarlands. Die Strategen der Linken hatten ihre Partei in der Euphorie nach den Wahlen bereits auf zwei weiteren Regierungsbänken gesehen und sich auf die Einflussnahme im Bundesrat kapriziert. Dann platzte nicht nur der Traum von der Regierungsbeteiligung in Lafontaines Heimatland, sondern auch in Thüringen ging ein Kalkül nicht auf: Spitzenkandidat Bodo Ramelow hatte gleichfalls geglaubt, die Zeit für einen Politikwechsel sei gekommen. Der quirlige Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten hielt seine Partei für koalitionsreif. Ramelow irrte. Und Dietmar Bartsch übt sich in Dialektik.

    ""In Thüringen und im Saarland ist aus Sicht der Linken nichts schiefgegangen. Die SPD in Thüringen hat nie mit der Linken gewollt. Aber die Thüringer SPD wird die Quittung einfahren. Und im Saarland haben die Grünen den Wählerwillen missachtet. Sie wollten den Politikwechsel, jetzt sind sie bei Müller. Es lag in beiden Fällen nicht an der Linken. Wir stehen für einen Politikwechsel. Wir haben riesige Wahlerfolge erzielt. Das ist nicht strategisch für uns schiefgelaufen. Wir haben eine klare Linie, die haben wir verfolgt, die ist durchgehalten worden."

    Wenn Dietmar Bartsch von einer "klaren Linie" spricht, klingt das wie eine Selbstbeschwörung. Denn nicht nur, dass in ihren Reihen nach wie vor auch Fundamental-Oppositionelle vermutet werden, die sich grundsätzlich gegen jegliche Regierungsbeteiligung sträuben. Vor allem fehlt der Sammlungsbewegung, die unter dem anmaßenden Namen Die Linke Unzufriedene, Kapitalismuskritiker, Sozialisten, Marxisten und Reformern aller Schattierungen eine politische Heimat bietet, ein Grundsatzprogramm. Bisher wurde die Debatte darum lieber vermieden. Lothar Bisky, noch Ko-Vorsitzender der Linken, sah sich zuletzt nicht einmal mehr in der Pflicht, ein Programm auf den Weg zu bringen.

    "Die Zeit der festen Programme, das war das 20. Jahrhundert. Jetzt muss man sich dynamisch auch gegenüber programmatischen Fragen verhalten. Die Gesellschaft verändert sich und die Programmatik der Parteien wird auch nicht auf ewig da sein. Aber wir arbeiten hart dran."

    Der verdiente Genosse Bisky jedenfalls wird die Qual der Programmdebatten den Genossen der nachfolgenden Generation überlassen; wie auch die zu lösenden Personalfragen. Bodo Ramelow, zwar aus dem Westen, aber seit 1990 in Thüringen zunächst in der Gewerkschaft HBV und schließlich auch in der Partei an vorderster Front aktiv, war schon einmal vorgeprescht. Jetzt gibt er sich auf die Frage nach einer Stellenbeschreibung für die Parteispitze ganz kollegial.

    "Meine Position dazu ist ja ganz klar, dass ich mir eine Doppelspitze wünsche. Im Moment haben wir ja Lothar Bisky und Oskar Lafontaine als Bundesvorsitzende und die Debatte um diese Doppelspitze. Die müssen wir führen. Also, bevor wir die nicht geführt haben, kann ich Ihnen mit der Stellenausschreibung im Moment nicht helfen, weil: Ich würde zwei Stellenausschreibungen formulieren. Dazu muss ich aber viele Menschen in meinen Landesparteien in den neuen Bundesländern erst überzeugen, weil die aus einem anderen soziokulturellen Umfeld kommen und mit der Doppelspitze quotentechnisch relativ wenig anfangen können. Und deswegen würde ich mir wünschen, dass man West-Ost, Mann-Frau, als Problemstellung sieht und damit ein Angebot hat."

    Will er die Richtung seiner Partei bestimmen, so muss er den ostdeutsch-reformerischen Flügel der demokratischen Sozialisten für sich gewinnen, ohne die radikaleren West-Linken oder die orthodoxen Marxisten zu verärgern. Nicht leicht für jemanden wie Bodo Ramelow, der seit Jahren schon für eine Annäherung an SPD und Grüne plädiert. Auch mit Blick auf die Programmdebatte und die notwendige Kanalisierung der diversen Strömungen innerhalb der heterogenen Partei gibt sich der 53-jährige Ramelow offen. Wenn er versichert, seine strömungsoffene Partei müsse ihre Unterschiedlichkeit aushalten, so scheint er sich zu wappnen für drohende Debatten mit Freund und Feind.

    "Ich nehme immer das Beispiel: Sahra Wagenknecht und ich haben zwei völlig unterschiedliche Denkwelten, aus denen wir unsere Politik entwickeln. Sahra Wagenknecht ist bekennende Marxistin, was ich sehr achte, und ich bin bekennender Christ. Und ich sage immer, solange Sahra Wagenknecht mich aushält, halte ich auch sie aus, weil wir gemeinsam doch dasselbe wollen, nämlich, dieses Land solidarischer zu entwickeln und mehr für die Begriffe Solidarität und Gerechtigkeit einzutreten. Das kann man von Marx ableiten. Das kann man aus der Bibel ableiten. Beides zusammen führt aber zu selben Effekt und deswegen ist meine Ermunterung immer an alle in der Partei: Lasst uns miteinander über Perspektiven streiten, aber lasst uns nicht übereinander streiten, wer den anderen besiegt. Dann verlieren wir alle."

    Verlieren wollen sie nichts und niemanden - das kann sich die neue Linke auch nicht erlauben - zu wackelig ist das Fundament, auf dem die Partei insbesondere im Westen noch steht. Die Befürchtung in der Parteizentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus: Je präziser ein Programm, umso weniger Anhänger erkennen sich darin wieder. Schließlich geht es bei der Positionsbestimmung durchaus um grundsätzliche Fragen wie die Haltung zum Eigentum, die bedarfsgerechte Grundsicherung im Unterschied zu Mindestlohn und Mindestrente, staatliche Investitionen in einen öffentlich geförderten Sektor oder die Ausweitung des öffentlichen Dienstes.

    In welche Richtung aber wird es gehen? Fraktionschef Gregor Gysi zuckt mit den Achseln.

    "Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht. Aber ich werde mich damit beschäftigen, damit wir zu Potte kommen."

    Gemach rät Dietmar Bartsch. Der Bundesgeschäftsführer spielt auf Zeit: Je länger die Linke ein großes Sammelbecken für Unzufriedene verschiedener Richtung bleibt, umso größer ihre Chancen bei den nächsten Wahlen. Die stehen schließlich unter einem ungünstigen Stern: Denn nun ist auch die SPD auf Bundesebene in die Opposition gerückt. War sie als Regierungspartei leicht zu attackieren, so ist sie nun Konkurrentin und eventuelle Partnerin in einem. Für die ohnehin undefinierte Linke ist das eine zusätzliche Belastung. Für sie jedenfalls wäre ein Programm erst nach den Wahlen im Jahr 2011 zuträglich.

    "Wir müssen klären, was ist demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert. Da werden wir uns aber weder Zeitplan noch Inhalt von außen vorgeben lassen. Das muss eine offene Debatte sein, sie muss identitätsstiftend sein, werbend für Menschen, die sich für die Linke interessieren. Ich bin da sehr zuversichtlich, dass wir das neue Programm 2011 beschießen."

    Festlegungen programmatischer Art sind das eine, realpolitische Zwänge das andere - auch sie sind riskant für die Linke. So haben beispielsweise die Wahlen im Land Berlin gezeigt, dass Entscheidungen, welche die Linke als Regierungspartei mittragen muss, dem Image schaden. Und auch in Brandenburg drohen Verwerfungen in den Niederungen der Regierungspolitik.

    Denn das Land im Osten steht vor schwierigen finanziellen Herausforderungen. Für das nächste Jahr rechnet Brandenburg mit 140 Millionen Euro weniger Einnahmen als in diesem Jahr - nur aus dem Steueraufkommen. Schon allein aufgrund der Schuldenbremse, die für die Bundesländer ab 2020 greifen soll, führt für Brandenburg kein Weg an einer Konsolidierung vorbei. Linke-Fraktionschefin Kerstin Kaiser widerspricht dem Eindruck. Es gehe nur noch um Stasi in Brandenburg. Sie zählt die Aufgaben des Finanzministers Helmut Markov (Linke) auf:

    "Er ist mit der Haushaltsaufstellung für 2010 befasst, die Eckwerte für 2011 werden erarbeitet. Es geht um die Personalbedarfsplanung im Land und die Landesgesellschaften. Also man beschäftigt sich mit wichtigen Themen."

    Die Anpassung an die Realpolitik führt zu Kritik von rechts wie links. Jörg Schönbohm, der ehemalige Innenminister und langjährige CDU-Vorsitzende, stichelt in seinem neuen Buch:

    "Die Brandenburger rot-rote Koalition plant zu meiner Freude und zum Ärger Oskar Lafontaines erhebliche Einsparungen im öffentlichen Dienst."

    Schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen mit der SPD war die Linke eingeknickt in der Frage der Energiepolitik. Matthias Platzeck triumphierte:

    "Wir haben zum Thema Braunkohle beschlossen: Braunkohlenutzung in Deutschland ist mindestens solange erforderlich, bis der Industriestandort Deutschland seinen Energiebedarf sicher und zu international wettbewerbsfähigen Preisen aus erneuerbaren Energien decken kann."

    Und so steht es denn auch im Koalitionsvertrag. Wieweit Realpolitik und Stasi-Belastung bei der Linken zur Entzauberung beitragen, können die Wähler spätestens bei der Landtagswahl 2014 entscheiden.