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Erfolgsjahr für das Völkerstrafrecht

Die Konferenzen von Kampala und New York in diesem Jahr gelten als Wegmarken für das Völkerstrafrecht. Die Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshof haben sich auf eine Definition des Aggressionsverbrechens geeinigt.

Von Bettina Ambach | 22.12.2010
    New York im Dezember. Die 114 Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs treffen sich eine Woche lang im UN-Hauptquartier am Hudson River. Zum ersten Mal treffen sich die Konferenzteilnehmer wieder, seit sie in Kampala, Monate zuvor, Epochales beschlossen haben, auf der sogenannten Überprüfungskonferenz, zu der sich das Weltgericht mit seiner Gründung vor acht Jahren verpflichtet hatte.

    Hier in New York geht es fast familiär zu - im Vergleich zu der Spannung und dem Verhandlungsfieber von Kampala. 2010 - ein wichtiges, vielleicht sogar historisches Jahr für das Völkerstrafrecht. Aber wer hat eigentlich außerhalb der Fachwelt etwas davon mitbekommen?

    Kampala, Uganda. Mirjam Blaak ist überzeugte und stolze Uganderin. Sie hat hellblonde Haare, ein immerzu fröhliches Gesicht und trägt lange wallende afrikanische Gewänder. Mirjam Blaak war es, die als Botschafterin Ugandas in den Benelux-Ländern vor drei Jahren vorschlug, die erste große Revisionskonferenz des Internationalen Strafgerichthofs in Afrika in Uganda stattfinden zu lassen. Ihre Argumente überzeugten:

    "Ich sagte damals: Wir müssen die Konferenz in Afrika organisieren, so dass wir das Gericht den Afrikanern näher bringen. Hier denken viele Menschen, dass der Internationale Strafgerichtshof ein europäisches Gericht ist, wo Europäer Afrikaner aburteilen. Ein weiterer Grund sind die vielen Opfer, die es in Afrika gibt und die schließlich zu Tausenden nach Kampala kamen. Die Opfer sollen verstehen, dass das Gericht für sie da ist, und um zu vermeiden, dass weitere dieser Verbrechen begangen werden."

    Schließlich trafen sich im Juni dieses Jahres Vertreter der 114 Mitgliedstaaten und Vertreter der Beobachterstaaten zu einer zweiwöchigen Mammutkonferenz in Kampala. Die gesamte Prominenz des Völkerrechts und zwei Staatspräsidenten, etliche Außenminister und zahlreiche Vertreter von Nichtregierungsorganisationen diskutierten auf dem von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon einberufenen Treffen über den Stand der Dinge im Völkerrecht: Funktioniert die Kooperation zwischen Mitgliedstaaten und Gericht? Funktioniert das Prinzip der Komplementarität, also das Einsetzen der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, wenn nationale Gerichtssysteme mit der Verbrechensaufarbeitung versagen? In welchem Verhältnis stehen Frieden und Gerechtigkeit zueinander? Und schließlich: Wie wirken die Ermittlungen des Gerichts auf die Opfer von Völkerrechtsverbrechen?

    Thomas Schneider, Mitglied der deutschen Regierungsdelegation bei der Konferenz in Kampala:

    "Die Unzulänglichkeiten des Gerichts kann man mit dem Mangel an weltweiter Mitgliedschaft, dem Mangel an Staatskooperation und Effizienz beschreiben. Wichtige und bevölkerungsreiche Staaten wie China, Indien, Russland und die USA sind noch keine Mitglieder des Gerichtes. Während nationale Justizsysteme ihre Vollstreckungsinstrumente haben, hat der Internationale Strafgerichtshof keine eigene Polizei und ist bei der Verhaftung seiner Angeklagten vollkommen von der Kooperation der jeweiligen Staaten abhängig. Und was die Effizienz betrifft, so muss man sagen, dass die Ermittlungen und Verfahren viel zu langsam vorankommen."

    Aber Schneider sieht nicht nur Schatten auf der Bilanz des Strafgerichtshofs:

    "Die Erfolge des Gerichtes liegen zuallererst in seiner bloßen Existenz als funktionierende, internationale, juristische Institution, die von einer wachsenden Zahl von Nationen anerkannt wird. Alle Welt soll wissen, dass es für die schlimmsten internationalen Verbrechen keine Straffreiheit mehr gibt. Auch gibt es Anzeichen, dass das Gericht abschreckende Wirkung bei einigen Warlords und Rebellenführern zeigt. Und abschließend ist es eine Errungenschaft des IStGH, dass Opfer eine Stimme bekommen haben und an den Verfahren aktiv teilnehmen können."

    In Afrika hört man allerdings zur Zeit auch kritische Stimmen, zum Beispiel was den Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten des Sudan, Umar al-Baschir, betrifft. Ben Kioko ist Rechtsberater der Afrikanischen Union in Addis Abeba. Auf großes Interesse stoßen zur Zeit seine Stellungnahmen, hat doch die Afrikanische Union den afrikanischen Mitgliedstaaten des Weltgerichts geraten, den Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten nicht zu vollstrecken.

    Damit geraten die 31 afrikanischen Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs in ein hochpolitisches Dilemma: Einerseits gibt es diese Erklärung der Afrikanischen Union, andererseits sind sie gemäß der Rechtsgrundlage des Gerichts, dem Rom-Statut, verpflichtet, den per Haftbefehl gesuchten Präsidenten des Sudan bei Betreten ihres Landes zu verhaften. Ben Kioko, der Rechtsberater der Afrikanischen Union, will dennoch nicht von einem Widerspruch reden:

    "Als der Internationale Strafgerichtshof in Rom gegründet wurde, waren viele afrikanische Länder anwesend und große Unterstützer des Gerichts. Senegal war das erste Land, das ratifizierte. Im 'Strategischen Plan' der Afrikanischen Union von 2004 plädieren wir für die universelle Ratifikation des Rom-Statuts. Wir haben das Gericht in seinem Kampf gegen die Straffreiheit immer unterstützt. Unsere Haltung im Falle Bashir hat mit Realpolitik zu tun. Der Haftbefehl gegen Bashir wurde zu einem sehr delikaten Zeitpunkt im sudanesischen Friedensprozess erlassen - um genauer zu sein, zum gleichen Zeitpunkt, als Friedensgespräche zwischen den Rebellen in Darfur und der Regierung stattfanden. Deshalb haben wir als Afrikanische Union den UN-Sicherheitsrat gefragt, das Verfahren gegen Bashir gemäß Artikel 16 des Rom-Statuts um ein Jahr aufzuschieben. Der Sicherheitsrat hat bis heute auf unsere Anfrage nicht geantwortet, nichts getan, nur den Erhalt unserer Anfrage attestiert."
    Ein Deal also: "Straffreiheit gegen Frieden"? Auf der Kampala-Konferenz wurde dieser Ansatz kritisiert, wenn auch nicht direkt behauptet wurde, dass dies die Linie der Afrikanischen Union sei. Frieden und Recht, das war die Lesart in Kampala, sollten Hand in Hand gehen. Hätten doch gerade die mannigfachen, seit Jahrzehnten schwelenden Konflikte in Afrika gezeigt, dass ohne Recht und Gerechtigkeit kein Frieden von Dauer sein könne. Keine faulen Kompromisse also.

    Wie kompliziert die Auslegung des Völkerrechts und erst recht die Umsetzung unter realpolitischen Vorzeichen ist, zeigte sich in Kampala an einem weiteren Punkt: Ein heftiges Tauziehen setzte bei der Deutung des "schwersten internationalen Verbrechens", dem Angriffskrieg, ein. Die Völkerrechtler aus aller Welt wollten den Angriffskrieg rechtlich brauchbar definieren. Eine "Jahrhundertaufgabe" sagten die einen. Ein absolut unrealistisches Unternehmen, sagten die anderen.

    Als historisches Beispiel für dieses Verbrechen halten Hitlers Angriffskriege her, die in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erstmals abgeurteilt wurden. Nur ist die weltweite Lage seit Nürnberg um ein Vielfaches unübersichtlicher geworden. War der Kosovo-Einsatz von 1999 ein Angriffskrieg oder eine humanitäre Intervention? War der Irakkrieg ein Angriffskrieg oder handelte es sich um "präventive Selbstverteidigung"? Ist, so wie es die Bush-Administration damals formuliert hatte, ein vorbeugender Militäreinsatz durch die potentielle Gefährdung durch einen "Schurkenstaat" gerechtfertigt?

    Angesichts der Delikatesse der Fragestellung war es wenig verwunderlich, dass die Weltmacht USA bei der Diskussion über den Angriffskrieg wieder mit am Tisch saß. Obwohl anfänglicher Gegner des Internationalen Strafgerichtshofs und bis heute kein Mitglied, hatten die USA eine der größten Beobachterdelegationen nach Kampala geschickt. Botschafter Stephen Rapp, Obamas Spezialist für Fragestellungen rund um Kriegsverbrechen, erklärte, warum seine Regierung starke Bedenken hatte, den Angriffskrieg als viertes Völkerrechtsverbrechen ins Rom-Statut aufzunehmen:

    "Bemühungen, Menschen vor Terror, Mord und Vergewaltigungen zu schützen, könnten in Zukunft verboten sein. Das könnte auch für Eingriffe gelten, wie es die Nato 1999 in Kosovo getan hat, um ethnische Säuberungen zu stoppen. Sollten wir nicht akzeptieren, dass wir in unserer Welt mit grausamen und brutalen Konflikten manchmal Gewalt anwenden müssen, um diese Kräfte zu stoppen? Der zweite Grund unseres Bedenkens hat mit dem langsamen Start des Gerichts insgesamt zu tun. Von 13 Haftbefehlen sind nur fünf erfolgreich vollzogen worden, es gibt lediglich drei langsam vorankommende Prozesse, es gibt Probleme in der Kooperation mit den Staaten. Wenn nun der Staatsanwalt auch noch komplizierte Aggressionsverfahren beurteilen soll, sich mit Grenzkonflikten und terroristischen Gruppen auseinandersetzen muss, dann könnte das Gericht überfordert sein. Und das, wo es noch nicht einmal effizient genug mit Fällen des Humanitären Rechts zurecht kommt."

    Dass es in Kampala überhaupt zu einer Einigung gekommen ist, gleicht einem kleinen Wunder. Denn zu Beginn der Konferenz war keine Kompromisslösung in Sicht, was die Rolle des UN-Sicherheitsrats betraf. Sollte nur der Sicherheitsrat feststellen können, ob eine Aggressionshandlung vorliegt? Oder sollte das Weltgericht diese Befugnis ebenfalls bekommen, um dann aus eigenem Antrieb eine solche Tat anklagen und ein Verfahren einleiten zu können?

    Damit hätten die fünf permanenten Sicherheitsrats-Mitglieder, die seit Jahrzehnten auf ihrem Entscheidungsmonopol in Sachen Angriffskrieg beharren, einen Teil ihrer Macht an das Weltgericht in Den Haag verloren. Christian Wenaweser, Botschafter von Liechtenstein in New York, Vorsitzender der Staatenversammlung des Internationalen Strafgerichtshofs und Initiator der Konferenz in Kampala bat am letzten Tag der Konferenz, völlig erschöpft, ein letztes Mal um eine Annäherung der Delegierten. Wenaweser präsentiert schließlich um ein Uhr nachts sein letztes Kompromisspapier:

    "Darf ich jetzt davon ausgehen, dass die Revisionskonferenz bereit ist, diesen Text ohne Einwand anzunehmen? Resolution angenommen."

    Die Teilnehmer können es kaum glauben, nur so langsam kommt der Applaus in Gang, dann sieht man einige feuchte Augen, Delegierte umarmen sich. Die Freude, Überraschung und Erleichterung ist spürbar groß. Die Konferenz hat sich auf eine Definition des Aggressionsverbrechens und auf Bedingungen zur Ausübung der Gerichtsbarkeit geeinigt. Demnach sollen nur klar völkerrechtswidrige schwere staatliche Gewaltakte als Verbrechen geahndet werden.

    Grauzonenfälle, wie der Angriff der USA auf den Irak oder der Nato-Angriff auf Serbien im Kosovo-Konflikt, spart die Definition aus. Nicht-Vertragsstaaten werden von der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ausgenommen. Und: Jeder Vertragsstaat kann sich per Option aus der strafrechtlichen Verantwortung lösen. Außerdem soll die Vereinbarung erst 2017 nach einer weiteren Aktivierung in Kraft treten. Ein klassischer Kompromiss, und dennoch: Robert Heinsch, Assistenzprofessor für Völkerrecht an der Universität Leiden, weist darauf hin, dass mit der Aufnahme des Angriffskrieges eine Lücke im Völkerstrafrecht geschlossen worden ist:

    "Trotz aller Wenn´s und Aber´s kann man sagen, dass es sich um einen einzigartigen Erfolg handelt, weil 60 Jahre nach den Nürnberger Verfahren das erste Mal ein internationales Strafgericht wieder auf dem Weg ist, die Aggression operabel im Statut zu haben. Die Mitgliedstaaten haben eindeutig ein Signal gesetzt, dass die Aggression, der Angriffskrieg strafbar ist, ein völkerstrafrechtliches Verbrechen. Das ist ein sehr wichtiges Signal, weil es zeigt, dass der Schutz der Souveränität anderer Staaten und das Verbot von bewaffneter Gewalt zwischen Staaten einen so hohen Stellenwert im Völkerrecht haben, dass man sagt, dafür können auch Präsidenten ins Gefängnis gehen."

    Auch Konferenzleiter Christian Wenaweser hält Kampala für einen großen Erfolg. Durch den Druck der internationalen Gemeinschaft sei dem UN-Sicherheitsrat ein Stückchen Macht weggenommen und dem Weltgericht gegeben worden:

    " Laut der UN-Charta, Artikel 39, bestimmt der Sicherheitsrat, wann eine Aggressionshandlung von einem Staat gegen einen anderen Staat begangen worden ist. Mit der neuen Kampala-Resolution ist der Sicherheitsrat primär, aber nicht mehr exklusiv, für solche Fragen zuständig. Das ist eine bedeutende Konzession, weil sie von den Staaten gemacht wurde, die vorher auf der exklusiven Kompetenz des Sicherheitsrates beharrt hatten. Für andere Staaten, die nicht permanente Mitglieder des Sicherheitsrates sind, ging der Kompromiss nicht weit genug, aber das haben Verhandlungen so an sich: Niemand bekommt alles."

    Sechs Monate nach der epochalen Konferenz von Kampala treffen sich die gleichen Akteure in New York wieder. Es tagt die Versammlung der Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs. Auch die Amerikaner sind wieder mit hohen Vertretern der Obama-Administration vertreten. Stephen Rapp, der Botschafter für Kriegsverbrechen des amerikanischen Außenministeriums, bezeichnet den Kompromiss von Kampala als ein vorsichtiges, gutes Ergebnis - deshalb seien die Amerikaner auch weiterhin auf einem Weg der "positiven Annäherung":

    "Wir wollen mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeiten, wir wollen, dass das Gericht in der Verfolgung von schweren Menschenrechtsverbrechen erfolgreich ist, wir wollen, dass das Gericht auch in Kenia in seiner neuen Ermittlung voran kommt. Wir entwickeln gerade unterschiedliche Modelle, wie wir dem Gericht bei den noch nicht vollzogenen Haftbefehlen und dem Zeugenschutz helfen können. Außerdem überlegen wir, wie wir diplomatische und politische Unterstützung leisten können. Kurz gesagt, wir wollen helfen, diese Institution im Kampf gegen die schwersten internationalen Verbrechen effizienter zu machen."

    Tatsächlich passiert fernab von der Öffentlichkeit schon einiges, was auf eine inoffizielle Zusammenarbeit hinweist. In Uganda hat das amerikanische Militär bei Verhaftungsversuchen der per Haftbefehl gesuchten Führer der mörderischen "Lord's Resistance Army" mitgeholfen. Auch in Kenia wurden Informationen ausgetauscht. Die immer wieder an den US-Vertreter Rapp gestellte Frage ist: Wenn ihr das Gericht so positiv unterstützt, warum tretet ihr dann dem Rom-Statut nicht bei?

    "Wir haben hier in den USA große Schwierigkeiten, Verträge ratifiziert zu bekommen, weil man eine zwei Drittel Mehrheit im Senat braucht und alles sehr politisiert ist. Es hat 40 Jahre gedauert, das Völkermord-Abkommen zu ratifizieren. Bei uns sind immer noch Gesetze wie das sogenannte 'Schutzgesetz für amerikanische Soldaten' in Kraft, das 2002 unter Präsident Bush vom Kongress beschlossen wurde und das uns in vielerlei Hinsicht die Kooperation mit dem Gericht verbietet - glücklicherweise beinhaltet das Gesetz auch Bestimmungen, die uns wiederum einige Arten der Zusammenarbeit erlauben. Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Hinzu kommt, dass Präsident Obama noch keine Entscheidung bezüglich einer möglichen Ratifizierung des Rom-Statuts getroffen hat. Es herrscht eine abwartende Haltung. Aber wir können anfangen, über eine sehr, sehr lange Verlobung zu reden, bevor wir irgendwann mal eine Hochzeit in Betracht ziehen."

    Nach Abschluss der Versammlung in New York zieht der Vorsitzende der Staatenversammlung Christian Wenaweser Bilanz: Die Staaten seien sich einig, dass sie eine stärkere Kontrolle über das Gericht ausüben wollten, ohne in dessen Unabhängigkeit einzugreifen. Auch müssten die Prozesse schneller laufen, und die Staaten müssten beim Vollziehen der Haftbefehle besser zusammenarbeiten. Was den Angriffskrieg betreffe, so Wenaweser, hätten schon jetzt einige Staaten, darunter Deutschland, deutlich gemacht, dass sie möglichst schnell ratifizieren wollten. So gelten die Konferenzen von Kampala und New York als Wegmarken für das Völkerstrafrecht.