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Erfolgsrezept gegen die Gelbwesten?
Halbzeit beim "Grand débat national"

Ein großer Bürgerdialog ohne jegliche Tabus: Unter diesem Motto tourt Frankreichs Präsident seit genau einem Monat durch die Provinzen Frankreichs. Die Debattentour ist Emmanuel Macrons Antwort auf die nicht abebbenden Proteste der Gelbwesten. Doch die haben sich einem Dialog längst verweigert.

Von Jürgen König | 15.02.2019
    Präsident Emmanuel Macron trifft Jugendliche auf seiner Rundreise durch die Provinz
    Präsident Emmanuel Macron trifft Jugendliche auf seiner Rundreise durch die Provinz (Liewig Christian/dpa)
    Gespräche, Debatten, Diskussionen in kleiner und großer Runde, organisiert von den Bürgermeistern des Landes, von lokalen Organisationen, von Gewerkschaften und politischen Parteien - etwa 6.000 Veranstaltungen sind geplant, zweieinhalbtausend haben bereits stattgefunden: in Rathäusern und Turnhallen, an Marktständen, auf den Vorplätzen der Bahnhöfe. Bis zu zehn Millionen Franzosen wollen sich, Umfragen zufolge, an dieser "Großen nationalen Debatte" beteiligen; auf der dazugehörigen Online-Plattform wurden bereits mehr als 850.000 Vorschläge gemacht - dazu, was sich ändern soll in Frankreich. Entsprechend umfassen die Themen nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Klare Forderungen werden gestellt: "Wir wollen eine Anhebung unserer Renten. Ich bekomme 700 Euro - das reicht nie und nimmer. Doch selbst wenn sie unsere Renten erhöhen, wird sich trotzdem nicht viel ändern."
    Verschwinden der Infrastruktur - verödende Provinzen
    Zu niedrige Renten, zu hohe Steuern und Sozialabgaben, der Abbau öffentlicher Einrichtungen wie Postfilialen, Krankenhäusern und Schulen in den Regionen abseits der Metropolen, die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögensteuer - das sind die thematischen Dauerbrenner der Debatten. Aber auch grundsätzliche Fragen werden aufgeworfen, etwa durch Dominique Lotte, dem Bürgermeister von Gueugnon, einer 7.000-Einwohner-Stadt im Burgund:
    "Was wir heute im ganzen Land dringend brauchen, ist ein neuer Gemeinsinn. Das 'republikanische Versprechen' von früher, wonach jeder, auch wenn er aus kleinen Verhältnissen kam, den Aufstieg schaffen konnte, das besteht nicht mehr. Heute hat ein Großteil der Bevölkerung den Eindruck, dass man sich anstrengen kann, so viel man will, und schafft es trotzdem nicht. Das erneuerte 'republikanische Versprechen' und einen neuen Sozialpakt - das ist bitter nötig, das erwarten wir von Ihnen, Herr Präsident, und von Ihrer Regierung."
    800 Bürgermeister, 1.000 junge Leute
    Staatspräsident Emmanuel Macron steht im Zentrum dieses "Grand débat national", den er als Reaktion auf die "Gelbwesten"-Proteste initiiert hatte. In großen Hallen traf er sich mit bis zu 800 Bürgermeistern, mit bis eintausend jungen Leuten: Die Fragen werden gesammelt, Macron macht sich Notizen und arbeitet dann den Fragenkatalog ab. In Details kompromissbereit, hielt er gleichwohl an seinem Reformprogramm fest, zeigte in klaren Worten Defizite Frankreichs auf, die dringend behoben werden müssten. Etwa beim Thema Landwirtschaft. Emmanuel Macron:
    "Dritter Punkt: Bio-Produkte. Es gibt eine große Nachfrage. Bio - das ist auch die Zukunft unserer Landwirtschaft. Aber darin sind wir schlecht! Rund eine Milliarde Bioprodukte werden jedes Jahr importiert! Das ist verrückt! Verrückt! Wir hatten in der Vergangenheit große Angst vor solchen Importen und haben gleichzeitig wenig getan, selber Entsprechendes anzubieten. Das war ein Fehler! 75 Prozent des Fleisches, das Sie im Restaurant essen, wird importiert! Das ist die Realität!"
    Um einen persönlichen Tonfall bemüht, versucht der Präsident, die Bürger über die Wirklichkeit ihres Landes aufzuklären. Mehrere Fernsehstationen übertragen seine Gespräche in bis zu vierstündiger Länge. Die Einschaltquoten sind hoch. In den Umfragen steigen Emmanuel Macrons Beliebtheitswerte. Auch politische Gegner zollen ihm Respekt, etwa Marie-Guite Dufay, die sozialistische Präsidentin der Region Bourgogne/ Franche-Comté:
    Das Gleichgewicht wiederherstellen
    "Bei allen Auftritten während dieser nationalen Debatte hat er immer wirklich zugehört. Er antwortet jedem, geht dabei in die Tiefe der Themen; ich glaube, er ist wirklich dabei, die Grundlagen einer zukünftigen Politik vorzubereiten. Aber – eines ist sehr, sehr wichtig: dass er dabei ein Gleichgewicht beachtet, oder besser: wiederherstellt, indem er einerseits die Wirtschaft liberalisiert, doch andererseits die Bevölkerung vor den Folgen dieser Liberalisierung schützt."
    Mitte April sollen Ergebnisse der "Großen Debatte" veröffentlicht werden – und die Schlussfolgerungen, die Präsident und Regierung daraus ziehen. Dass die "Gelbwesten"-Bewegung sich davon beeindrucken lässt, ist eher unwahrscheinlich – haben sie doch im Netz bereits ihre eigene, die "wahre Debatte" eröffnet.