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Eric Friedler/Barbara Siebert/ Andreas Kilian: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz

Bei der fabrikmäßigen Tötung in den Konzentrationslagern spannte die SS auch Häftlinge in den Vernichtungsprozess ein. Davon handelt der Band "Zeugen aus der Todeszone - Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz", der jetzt im Lüneburger zu Klampen Verlag erschienen ist.

Willi Jasper | 11.11.2002
    Die SS hat Hundertausende in Auschwitz-Birkenau ermordet – in Gang gehalten wurde die Todesfabrik jedoch von hilflosen Arbeitssklaven – den jüdischen Häftlingen des Sonderkommandos. Zu den wenigen Überlebenden gehörten Morris Kesselman, Shlomo Venezia, Daniel Bennahmias, Henryk Mandelbaum, Elizer Eisenschmidt, Filip Müller, Lemke Pliszko, Jehoshua Rosenblum, Stanislaw Jankowski, Shlomo Dragon, Leon Cohen und Henryk Tauber. Das Buch handelt von ihren Erlebnissen. Sie waren bereit, darüber zu sprechen, wie der Massenmord in Auschwitz-Birkenau wirklich ausgeführt worden ist. Sie waren - außer den Tätern - die einzigen Augenzeugen. Die SS hatte sie gezwungen, die Opfer in den Auskleideräumen zu erwarten, ihnen zu helfen, damit es schnell ging. Sie mussten nach der Vergasung die Leichen zu den Öfen schleppen und verbrennen. In Auschwitz-Birkenau und in anderen Todesfabriken ging es jedoch nicht nur um Massenvernichtung, sondern auch um die Ausbeutung des Menschen bis zum Letzten. Die Sonderkommando-Häftlinge mussten den Leichen die Goldzähne ziehen und die Haare abschneiden. Kleider, Geld, Schmuck, Zahngold, Haar und sogar die Asche der Toten – all dies brachte der SS und dem NS-Staat Gewinn. Die von den anderen Häftlingen isolierten Mitglieder des Sonderkommandos waren mit einer Aura des Schreckens und totaler Verzweiflung umgeben. Verzerrte Einzelwahrnehmungen und im Lager kursierende Gerüchte führten zu einer Dämonisierung dieser Gruppe:

    "Sie waren immer dreckig, ganz verwahrlost, verwildert und ungemein brutal und rücksichtslos" – oder: "Das waren keine menschlichen Anlitze mehr, sondern verzerrte, irre Gesichter."

    Die von Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian dokumentierten Zeugenausssagen aus der Todeszone von Auschwitz bemühen sich um ein anderes, komplexeres Bild. Sie analysieren ein Trauma. Die Häftlinge des Sonderkommandos waren nicht nur Zeugen und hilflos ausgelieferte Werkzeuge der Massenvernichtung, sondern lebten in dem ständigen Bewusstsein, dass auch sie von den Deutschen zur Vernichtung bestimmt waren. Sich selbst empfanden sie daher – wie Henryk Mandelbaum es in einem Interview ausdrückte – als "lebende Tote". Unter dieser ständigen allgemeinen Todesdrohung reichte der persönliche Zeithorizont der Männer zumeist nur wenige Stunden in die Zukunft. Überlebende beschreiben, dass man in dieser extremen Situation nur noch für den Moment lebte. Auf die Frage der Autoren, wie man das aushalten konnte, antwortete ihnen Lemke Pliszko, einer der Betroffenen:

    "Am Anfang war es sehr schlimm, aber wissen Sie, man gewöhnt sich. Wir wussten, dass dies die Arbeit war und dass wir arbeiten werden, bis sie uns töten werden und das wird das Ende sein.(...) Wissen Sie, man gewöhnt sich an alles. Wer das nicht weiß, der muss lernen, dass das Leben so ist. Jeder will noch einen Tag leben."

    Für die Häftlinge des Sonderkommandos gab es – so das Fazit der Autoren- außer Selbstmord – keinen Ausweg aus dem existentiellen Dilemma, in das sie völlig unschuldig und ohne eigenes Zutun geraten waren. Eindringlich bestätigt wird diese Auffassung von dem Chronisten Salmen Lewenthal, der in seinen geheimen Aufzeichnungen versuchte, Rechenschaft darüber abzulegen, warum er selbst und die meisten anderen Sonderkommando-Häftlinge unfähig waren, Selbstmord zu begehen. Es ist eine schonungslose psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebenswillen angesichts der Zwangsverpflichtung in der Todesfabrik:

    "Der Mensch redet sich selber ein, dass es ihm nicht um das eigene Leben gehe, dass es ihm nicht um die eigene Person geht, sondern nur um das Wohl der Allgemeinheit. Er möchte aus der einen oder der anderen Ursache überleben, aus dem einen oder dem anderen Grund, und zu diesem Zweck erfindet er Hunderte von Ausflüchten. Und die Wahrheit ist die, dass man um jeden Preis leben möchte, man zu leben wünscht, weil man lebt, weil die ganze Welt lebt (...) Warum tust du so eine schändliche Arbeit, warum lebst du, zu welchem Zweck lebst du, was begehrst du, was möchtest du durch ein solches Leben erreichen? Und hierin liegt der Kernpunkt unseres Kommandos, das ich gar nicht die Absicht habe im Ganzen zu verteidigen. Ich muss hier die Wahrheit aussprechen, dass einzelne dieser Gruppen sich im Laufe der Zeit dermaßen verloren haben, dass wir uns selbst einfach schämten. Sie haben einfach vergessen, was sie tun (...) Täglich stehen sie und sehen zu, wie Zehntausende Menschen umkommen, und nichts tun sie."

    Eine wichtige Erkenntnis des Buches aber ist, dass das Sonderkommando in Birkenau bereits lange vor dem Aufstand des Jahres 1944 in organisatorischer Verbindung mit der politischen "Kampfgruppe Auschwitz" stand. Das wichtigste Ziel des Widerstands war, eine erfolgreiche Massenflucht möglichst vieler Häftlinge aus der isolierten Todeszone zu realisieren. Die ersten Planungen einer kleinen Gruppe sahen schon im Jahre 1943 vor, sich mit den zur Vergasung bestimmten Menschen zu verbünden. Man hatte die –wie sich herausstellen sollte unrealistische - Hoffnung, dass die Opfer in dem Moment, in dem sie die Wahrheit erführen – sich angesichts der unmittelbaren Todesgefahr mit allen Mittel verteidigen würden. Das Sonderkommando sollte sich, sobald die Todgeweihten rebellierten, sofort dem Kampf anschließen und den Ausbruch aus den Vernichtungslagern vorbereiten. Filip Müller war von Beginn an in diese Überlegungen eingeweiht:

    "So reifte der Plan, bei der Ankunft eines nächtlichen Transports polnischer Juden diesen reinen Wein über ihr Schicksal, das sie erwartete, einzuschenken, um dann mit ihrer Hilfe die Wachen zu überwältigen und auszubrechen. Wir dachten deshalb an polnische Juden, weil sie schon länger im Ghetto gelebt, dort bestimmt vieles gesehen und gehört hatten und uns daher glauben würden, was ihnen bevorstand. Auch ihre Muttersprache und die Kenntnis der Umgebung, in der sie ja aufgewachsen waren, würde vielleicht auch für uns die Flucht in die nahen Berge erleichtern. Wir waren fest entschlossen, diesen Plan zu verwirklichen."

    Aber schon im Sommer 1943 zeigte sich , dass eine spontane Rebellion und anschließende Massenflucht mit Hilfe der zum Tode bestimmten Opfer unmöglich war. Als verzweifelte Angehörige des Sonderkommandos dann im Herbst 1944 nur mit einigen Messern und selbstgebauten Granaten bewaffnet dennoch den Aufstand wagten, wussten sie, dass sie kaum eine Überlebenschance hatten. Es ging ihnen in erster Linie um den Erhalt der Selbstachtung. Die in diesem Buch dokumentierten erschütternden Protokolle Überlebender des Sonderkommandos offenbaren die Möglichkeiten und zugleich Grenzen von Zeugenschaften für die Geschichtswissenschaft. Material sagt von sich aus nichts, sondern wird immer von und durch jemanden zum Sprechen gebracht. Dessen ungeachtet verharren die meisten Historiker in einer merkwürdigen Ehrfurcht vor der Distanz und dem, was Jean Amery gerade aufgrund seiner Erfahrung des Konzentrationslagers als "distinguierte Objektivität" bezeichnet. Heute existiert eine deutliche Abneigung gegen jede Art des Moralisierens sowohl in der Literatur als auch in der Geschichtsschreibung. Der italienische Autor Primo Levi hat früh erkannt, dass es für die Berichte Überlebender keine wahrhafte Rezeption, kaum noch ein menschlich zugewandtes Publikum geben könne. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, die versuchen, den kategorischen Imperativ neu zu definieren. Denn es besteht die Pflicht, ohne Unterlass für jene zu sprechen, die nicht sprechen konnten.

    "Zeugen aus der Todeszone - Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz". Der Band wird von dem Autorentrio Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian im zu Klampen Verlag, Lüneburg herausgegeben. 412 Seiten, 25 Euro.