Freitag, 19. April 2024

Archiv


Erika Burkart: Ein Radio-Porträt zu ihrem 80. Geburtstag

Am heutigen Tag begeht die Schweizer Schriftstellerin Erika Burkart ihren 80. Geburtstag. Ihr ganzes Leben hat sie, unterbrochen nur von Reisen in die Romania und nach Irland, an einem einzigen Ort zugebracht, im sogenannten Kapf. Es ist dies der ehemalige Sommersitz der Äbte von Muri im Kanton Aargau. Er liegt auf dem Höhenkamm einer Moräne und gewährt einen bis zu den Alpen reichenden Blick über eine sanfte, wellige und einst moorige Landschaft. Das große und verwinkelte Haus gemahnt an ein verwunschenes Märchenschloss, und die Dichterin, die es bewohnt, wird zumal ob ihrer zarten Erscheinung häufig mit einer Elfe verglichen. Indes, der Eindruck täuscht oder erfasst jedenfalls nur ein Äußerliches. Erika Burkart, so ätherisch sie wirken mag, hat hier eine Kindheit und Jugend verbracht, die wenig märchenhaft war. Und so erweisen sich die Gespinste ihrer Texte näher besehen oft als Nebelgespinste, ihr Glitzern als das Aufleuchten vom Licht getroffener Tränen. Der Vater, ein in die falsche Zeit geratener Abenteurer, Spieler und Trinker war für das biedere bürgerliche Leben in der Schweiz untauglich. Er betrieb mit seiner Frau die Gaststätte im Kapf ohne Anteilnahme, floh in Erinnerungen und Rausch. Die existentielle Unzufriedenheit des Vaters entlud sich auch in unberechenbarer körperlicher Gewalt gegen die Familie. Erika Burkart floh ihrerseits, im verständigen Schutz ihrer sensiblen und kunstsinnigen Mutter, in das Reich der Literatur, der Musik, der Malerei. Aber ein ganzes Jahrzehnt lang konnte sie dem eigenen schöpferischen Impuls kaum nachgeben, musste sich in das kräftezehrende Amt einer Vikarin, einer von Schule zu Schule herumgereichten Lehrerin schicken. Seit einem halben Jahrhundert jedoch, seit ihrem lyrischen Debütbändchen Der dunkle Vogel, führt sie das Leben einer freien Schriftstellerin.

Jürgen Egyptien | 08.02.2002
    Inzwischen kann sie auf ein umfangreiches Werk von siebzehn Gedichtbänden und einem halben Dutzend Romanen und Prosabüchern zurückblicken, für das sie in den deutschsprachigen Ländern ausgezeichnet wurde. Ihre Rede anlässlich der Verleihung des Droste-Preises 1958 markiert einen wichtigen Schritt in der Entwicklung ihres poetischen Schaffens. Hier verleiht sie - auf eine schockhafte Erkenntnis von Büchners Lenz zurückgreifend - der Erfahrung eines 'Schöpfungsrisses' Ausdruck, die nachhaltige Konsequenzen für ihre Sprachauffassung hatte. Das Frühwerk Burkarts war in seiner von moderner Sprachskepsis unberührten Gewissheit exemplarisch für eine ganze Generation von Schweizer Dichtern, für die Krieg, Vertreibung und Völkermord keine primäre Erfahrung bildeten. In der Droste-Preisrede spricht Burkart rückblickend selbst von ihrer Beheimatung "in den ganzheitlichen Gründen der Präexistenz", die ihr nun als verlorenes Paradies gelten. Gleichwohl bedeutet die Einsicht in den unaufhebbaren Schöpfungsriss keine Abkehr von der Idee einer Teilhabe des menschlichen Daseins am kosmischen Weben. Nur wird ihre Evidenz von der Dauer in den Augenblick, von der Mitteilbarkeit ins Schweigen verschoben. Die sprachliche Phantasie und die sympathetische Naturempfindung Burkarts greifen in dem Bemühen ineinander, poetische 'Passwörter' zu finden, die die getrennten Sphären der individuellen Vereinzelung und der kosmischen Ganzheit durchlässig machen. Nur eine Dichtung, die auf dieser Schwelle angesiedelt oder vorsichtiger gesagt: sie zu betreten bemüht ist, lässt die Schweigesprache der Natur vernehmbar werden und den Menschen in ein Gespräch mit ihr eintreten. Für dieses Dichtungsverständnis hat Erika Burkart mit ihrem Gedicht Dazwischen aus dem 1964 erschienenen Band Ich lebe eine klassische Formulierung gefunden:

    "Ich suche das Wort/das mich fände./Jedes Wort ist ein Maß für Distanzen,/ die ich mit Worten nicht überwinde./ Wortlos lerne ich lauschen./Lauschen ist ein Gespräch mit dem Schweigen./Gedichte sind Grade des Schweigens.

    Der utopische Fluchtpunkt von Burkarts Dichtung ist ein tönendes Schweigen, das die transzendenten Dimensionen der Welt erklingen lässt und den Menschen mit der verlorenen natürlichen Ganzheit rückverbindet. Aus dieser ganzheitlichen Perspektive ergibt sich auch der zentrale Stellenwert der Liebe in ihrem Werk. In ihrem Roman Die Spiele der Erkenntnis von 1985 kann man die fast sentenziöse Formulierung lesen: "In der Keimzelle einer Liebe verändert sich die Erde von innen heraus." Mit dieser Liebesauffassung steht Burkart in der Tradition der Romantik, mit der sie auch die Wertschätzung der Kindheit als des poetischen Lebensalters teilt. Das Kind lebt gewissermaßen noch innerhalb des Paradieses, innerhalb der 'Rundstube Welt', wie es im Gedicht Als ich ein Kind war heißt, und verfügt noch über eine "vom Gesamten unabgespaltene Seele". In diesem 1964 veröffentlichten Gedicht wird das Erwachsenwerden als die erste Vertreibung gedeutet, der eine zweite mit dem Tod der geliebten Mutter 1972 folgte. Es lässt sich beobachten, dass der Verlust der Mutter das Bewusstsein vom Schöpfungsriss verschärft und kontinuierlich zu einer gewissen Verhärtung des Sprachduktus geführt hat. Der Riss, könnte man sagen, setzt sich zunehmend in der Grammatik fort. Satzsplitter, einzelne Worte, harte Fügungen lösen den Sprachfluss und die melodischen Bögen ab, ohne dass die Gedichte dadurch an Poetizität verlören. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Das Licht im Februar, das die Autorin bei den Lenzburger Lyrik-Lesungen 1998 selbst vorgetragen hat:

    "Der Rauch fliegt/durch leere Bäume/Frost und Sterne, bereitet die Narrenschelle dem Frühling vor./Winter um Winter in Wurzeln verbracht unter dem Eisherz bei schlafenden Tieren/Erlkönigs Töchter Weisste der Gipsmond/das nackte Aas./ Morgen, sagte die Quelle,/dreht der Wind,/grünt das Gras./"Bin ich es? Bin ich's nicht?/Blinzelnd glitzern im Wind/Eissplitter. Lachen. Tränen./ Lösende Wärme. Kälte, die glüht./Unter der Winterhaut/tastet das schmerzliche Licht/sich bis ins Geblüt."

    Der Blick unter die Winterhaut, hinab zu den Wurzeln ist zugleich Exempel für Burkarts quasi archäologisches Verfahren, das dem Wahrgenommenen auch die unsichtbaren Dimensionen seiner Existenz abgewinnen möchte. Vor allem im Kapitel Die Landschaft in der Zeit ihres zuletzt erschienenen Prosabuchs Grundwasserstrom vollzieht Burkart regelrechte Exerzitien der Beobachtung, die durch eine in ihrer Nuanciertheit fast einmalige Präzision darauf hinwirken, eine 'Anwesenheit' des Beschriebenen zu evozieren. Man könnte diese Betrachtungsweise im strengen Wortsinn eine 'Versenkung' nennen, bei der sowohl die räumliche wie die zeitliche Begrenztheit des Objekts aufgehoben wird. Dieses Objekt ist im Falle Burkarts häufig auch das Subjekt selbst, will heißen, der ins Unbewusste, Traumhafte und Archetypische hinabreichende Erlebnisgrund. In diese Richtung weist der Titel von Burkarts Grundwasserstrom, in dem geradezu eine Mnemotechnik des Einschlafens entwickelt wird, die "den Weg zurück ins bilderlos Kosmische" bahnen soll. Burkarts Reflexionen über das Einschlafen besitzen eine gewisse Verwandtschaft mit der Tiefenpsychologie C. G. Jungs, wenn auf diese Weise 'ein gründlicheres Erinnern' als das subjektgebundene seine Stimme zu erheben vermag. Die Wendung ins Innere des Subjekts entpuppt sich somit als der Königsweg zur Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Man mag an das Wort des Novalis denken: "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg."