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Erinnern als Erfinden

Biografien waren Nabokov verhasst, das Autobiografische hat er in seinem grandiosen letzten Roman Sieh doch die Harlekine! als Sprachzirkus vorgeführt; er selbst als Hauptfigur eines Textes ist nur als Camouflage zu haben. Biografisches war für den Sprachversilberer, den Metaphernverpackungskünstler immer zuerst ästhetisch, denn Erinnern, so sagte er einmal, sei Erfinden. Was nicht weiter rätselhaft ist, wenn man davon ausgeht, dass auch die Wirklichkeit sich nur aus Schichten der Imagination ergibt.

Von Antje Ravic Strubel | 26.11.2004
    Dennoch sind jetzt mit Erscheinen des Bandes Eigensinnige Ansichten schon fast intime Blicke möglich. Im Anschluss an die Interviewsammlung Deutliche Worte, für die Nabokov die Textauswahl noch selbst bestimmte, versammelt Dieter E. Zimmer im mittlerweile 21. Band der Werkausgabe zu Nabokov Interviews, Rezensionen und Vorträge aus gut fünfzig Jahren, darunter Erstdrucke, die entweder aus dem Nachlass stammen oder aus Quellen, die schwer zugänglich waren oder bisher schlicht unbekannt. Als einziger fiktiver Text wurde das nachgelassene Kapitel des Romans Die Gabe aufgenommen, in dem ist der Held die Wahrscheinlichkeit der darwinistischen Evolutionstheorie bezweifelt.

    Ansonsten ist Nabokov oft ganz unverblümt zu hören. Vor allem in jenen Interviews, die er gab, als er sich noch nicht die Fragen schriftlich zuschicken ließ, um sie dann schriftlich zu beantworten, gibt es Gucklöcher ins Private. Die stecken, wen würde es verwundern, vor allem in der Sprache, die für Nabokov in all ihrer Zweideutigkeit ohnehin das einzig Gesicherte war. - In der Schriftsprache, könnte man ergänzen, denn die Eloquenz seines Schreibens hob sich seiner Ansicht nach auffällig vom Mündlichen ab: immer, so Nabokov, habe er sich bei kleinsten Vorträgen alles genau aufschreiben müssen, er sei absolut untauglich für die freie Rede.

    Ganz will man ihm das nicht glauben, denn selbst, wenn ihn unvorbereitete Fragen oder echte Frechheiten von Journalisten überraschten, entzog er sich elegant jeder Eindeutigkeit. Er zog das Konkrete vor, das Beobachtbare, das Persönliche. Das machte ihn vor Kollegen und Journalisten nicht selten unbeliebt: er beharrte auf seinem subjektiven Blick. Über Thomas Mann, den Gefeierten, machte er sich in einem Vortrag über dessen Erzählung Das Eisenbahnunglück lustig, er attestiert Mann die "Grazie eines Elefanten", der seine Figuren einer egomanen Erzählidee unterwerfe - übrigens für nicht Mann-Fans bestens geeignet zur amüsanten Untermauerung des eigenen Standpunkts.

    Russische Kollegen, die den Regeln des sozialistischen Realismus hörig waren, statt ihrer eigenen Erfahrung und Beobachtungsgabe zu trauen, überzog Nabokov mit markerschütternder Satire. Und als ein Journalist Lolita als Urbild des heutigen Teenagers hinzustellen versuchte, der anders als seine pubertierenden Vorgänger schon früh seine sexuellen Rechte einklagt, reagierte Nabokov ziemlich gelassen: "Ich kann darin absolut nichts neues sehen." Verallgemeinerungen hielt er für dumm und bevormundend. Lieber unterzog er als Dichter seine Umwelt einem ebenso genauen Forscherblick wie als Lepidopterologe seine Schmetterlinge. Nur ausgerüstet mit einem genauen Wissen um sein Material könne der Schriftsteller in die Imagination eintreten. Dann aber bilde sich ein Bewusstsein aus, in dem sich die unterschiedlichsten Ereignisse, vergangene wie gegenwärtige, zeitgleich versammeln.

    Indem er erzähle, schaffe er eine Welt, die, da sie allein auf seiner Konzentration beruhe, Logik und Chronologie außer Kraft setzen könne. Ein Vorgang, den Nabokov "kosmische Synchronisation" nannte. In einer solchen Synchronisation stehen hier die unterschiedlichsten Texte nebeneinander, eine Editionsarbeit, die akribische Genauigkeit und Hingabe verlangt. Dahinter steckt neben jahrelanger Recherche wohl auch Phantasie und einige Spitzfindigkeit des Herausgebers Dieter E. Zimmer, der Nabokov immerhin nachträglich zwei Fehler korrigiert.

    Man folgt Sirin-Nabokov gern in die Oper, die er für eine natürliche Kunstform hält, man sieht mit ihm bereits 1941 das Regietheater heraufkommen. Was nach Meinung Nabokovs allerdings eine für das Drama ebenso trübe Aussicht war wie die im Teamwork produzierte Serie. Man ackert sich geduldig sogar durch diverse Schwierigkeiten, die ihm die Übersetzung von Puschkins "Eugen Onegin" bereitet hat. Amüsanter liest sich da schon ein Interview mit Robbe-Grillet, in dem "Die Jalousie" und "Lolita" als zwei Liebesromane miteinander in Vergleich treten. - Lolita, von dem die Schweden in ihrer Übersetzung nur die gewagten Szenen stehengelassen hätten.

    Von Lolita geht es direkt weiter zu dem exklusiven Rezept eines Eiergerichts. Das jedenfalls erwartete eine New Yorker Societygröße, die für Vogue eine Kochkolumne schrieb. Die "Eier a lá Nabocoque" werden allerdings nicht das Erwünschte gewesen sein. Nabokov entwirft ein Rezept, in dem er in loriotscher Manier aufs Peinlichste genau beschrieb, wie das gewöhnliche Frühstücksei zu kochen sei. Woraus sich außerdem die kultige Erkenntnis ergibt, dass Nabokov die Eier immer falsch herum gegessen haben muss; mit dem runden Ende nach oben. - Vogue lehnte ab.

    Ohne das durchs Guckloch erspähte Private brutal den eigenen Anschauungen anzuverwandeln, lassen sich doch zum eigenen Vergnügen Dinge entdecken, über die man sich tatsächlich selbst schon lange gewundert hat: beispielsweise wie ausgerechnet eine arm- und blickose griechische Statue zum Schönheitsideal werden konnte oder - was gewisse Dichter einem ja auch heute skrupellos weismachen wollen -, wie beispielsweise Aischylos im Theater eine "unmittelbare Berührung mit unserem eigenen Fühlen" schaffen soll, wo sich das Dramatische griechischer Tragödien doch meist in den Fußnoten zum Text abspiele. Aber selbst da, wo Nabokov eine Liste mit seinen persönlich liebsten Hassobjekten anlegt, sind ästhetische Kriterien ausschlaggebend. Wenn "der Kinderbuchteil die Literaturzeitschriften überflutet", haßte er genauso wie Zirkusse, "in denen kräftige Damen an ihren Zähnen in der Luft hängen".

    Nabokovs Scheu vor allem Biografischen mag sich der Idee verdanken, dass es den Unterschied zwischen einer Alltagswirklichkeit und einer ästhetischen Wirklichkeit nicht gibt; auch Tod und Leben lassen sich mit Nabokov noch als zwei verschiedenartige Bewusstseinszustände begreifen.

    Auf diese Weise kann selbst ein Roman für Nabokov privater sein als die eigene Biografie: "Je mehr Menschen ein Buch lesen", sagte er, "desto weniger wird es verstanden: seine Wahrheit scheint sich mit der Verbreitung zu verflüchtigen." Kein gelungener Schlusssatz für eine Rezensentin, die doch soeben den jetzt bei Rowohlt erschienen Band Eigensinnige Ansichten noch empfehlen wollte...

    Vladimir Nabokov
    Eigensinnige Ansichten
    Rowohlt 2004, 656 S., EUR 38,-