Donnerstag, 18. April 2024

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Erinnern, erklären, entzaubern

Der Blick auf das Jahr 1968 nimmt breiten Raum ein. Und auch der Literaturmarkt hat im Erinnerungsjahr 40 Jahre nach der Studentenrevolte zahlreiche Neuerscheinungen zu bieten. Hermann Theißen stellt in einer Sammelrezension vier höchst unterschiedliche 68er-Bücher näher vor.

21.04.2008
    "Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen."

    Der heute 68-jährige Schriftsteller Peter Schneider, der aus der badischen Provinz nach Berlin gekommen war, begann so am 5. Mai 1967 eine Rede auf einer Vollversammlung an der FU, die ihn zu einem der Heroen der Studentenbewegung machte. Er kannte sie alle, die Galionsfiguren im SDS und in dessen Umfeld, er war beteiligt an den Kampagnen gegen Springer und gegen den Krieg in Vietnam. Er ging für ein halbes Jahr nach Italien, versuchte sich dort in sozialistischer Betriebsarbeit und genoss die Früchte der sexuellen Revolution. Mit den Maoisten, die ihn lockten, als er aus Trento zurückkam, verband ihn nichts. In seiner Erzählung "Lenz", die 1973 erschien, fand er zurück vom kollektiven Wir zur Subjektivität und zu einer Sprache, die auch seine autobiografische Erzählung "Rebellion und Wahn - Mein 68" zum Lesevergnügen macht.

    "Was so viele Kriegs- und Nachkriegskinder zur Rebellion zusammenführte, war kein Text, kein Manifest, kein Revolutionsprogramm. Es war eher etwas wie ein nonverbales, weltweit kommuniziertes Signal zum Aufbruch, das nur die jungen Leute hörten: Lasst auf der Stelle alles, was ihr tut und getan habt, liegen, und beginnt ein neues, selbstbestimmtes Leben."

    Peter Schneider berichtet vom Mief und den bleiernen Verhältnissen, die den jungen Leuten die Ohren für die Signale öffneten, von der großen Sehnsucht nach Befreiung, aber auch von den Allmachtphantasien der Befreier, ihrem Dogmatismus und ihren Irrwegen.

    "Man kann der Gesellschaft und uns nur dazu gratulieren, dass wir nie eine reale Chance hatten, die Macht zu ergreifen","

    schreibt er, aber auch, vermutlich ein wenig zu euphorisch

    ""Die wichtigste Eigenschaft der 68er Bewegung in Deutschland bleibt, dass sie massenhaft - und vielleicht für immer - mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat."

    In der Rubrik Veteranenliteratur ist Peter Schneiders gelassener, selbstironischer und reflektierender Rückblick die interessanteste Neuerscheinung. Das Renegatentum und der Selbsthass, der Götz Alys "Unser Kampf" so unerträglich macht, ist diesem Buch ebenso fremd wie der Hang zur verkitschten Apologetik, die Reinhard Mohrs Buch "Der diskrete Charme der Rebellion - Ein Leben mit der 68ern" unglaubwürdig macht. Der 1955 geborene Publizist schreibt so einfühlsam, als sei er schon bei den Kampagnen dabei gewesen, die 68 vorausgingen.

    Für Wolfgang Kraushaar, der sich als Chronist der Protestbewegung einen Namen gemacht hat, begann 1968 bereits einige Jahre zuvor in der Bay Area von San Francisco. Inspiriert von den Beatniks der 50er Jahre entstand dort das "Free Speech Movement" der Studenten, dort feierten die Hippies ihren "summer of love", dort radikalisierten sich die Schwarzen in der Black-Power-Bewegung und von dort nahm auch die Emanzipationsbewegung der Schwulen ihren Ausgangspunkt. Bei all diesen Auf- und Ausbrüchen spielten Drogen und Musik gewichtige Rollen, ging es um Emanzipation und Libertinage, kurz um die Etablierung von Gegenkulturen. Auf diese originelle Sicht auf die Ursprünge der Revolte kommt Kraushaar in seiner Bilanz von 68 zurück, wenn er unter der Überschrift "Die Entmischung" neben terroristischen und politischen Kadergruppen auch jene bizarren Psychosekten in den Blick nimmt, die vor allem in den 70er Jahren Konjunktur hatten und Teilen der hedonistischen Fraktion der Rebellen eine neue Heimat boten. Doch was als Kulturgeschichte der Bewegung beginnt, mündet schon bald in eine konventionelle Darstellung, in deren Zentrum der harte Kern der 68er steht. Mit Kenntnis und Fleiß hat Kraushaar zusammengetragen, was man über Dutschke und Teufel, über Rabehl und Kunzelmann so alles erfahren kann. Er versucht, das ist weniger überzeugend, religiöse Wurzeln der Rebellion freizulegen und verläuft sich bei einer Betrachtung des sozialromantischen Charakters der Bewegung. Das alles führt nirgendwo hin, ist weitgehend bekannt und auch von Kraushaar selber bereits beschrieben worden.

    "Die Anzahl der einstigen Aktivisten dürfte in der Bundesrepublik und in West-Berlin kaum über 10.000 gelegen haben","

    schreibt er

    ""und es sich damit also in der Tat eher um eine kleine Minderheit als eine Generationenkohorte gehandelt haben."

    Das mit der Minderheit mag so stimmen, besagt aber nicht viel, kann vor allem nicht erklären, warum diese kleine Minderheit so schnell und so eindeutig die kulturelle Hegemonie, nicht nur in der eigenen Alterskohorte, übernehmen konnte.

    "Lässt man die Generationen der Bundesrepublik Revue passieren, fällt auf, dass keine Generation die mediale Präsenz und Wirkmächtigkeit der 68er erlangt hat. […] (Die 68er) sind die wohl am klarsten konturierte Generation der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte."

    Der 1967 geborene Publizist Albrecht von Lucke ist der jüngste der hier vorzustellenden Autoren, sein 90 Seiten kurzer Essay "68 oder neues Biedermeier" der originellste Beitrag zum Thema. Die 68er Generation, so von Lucke, sei zu dem geworden, was Foucault als "Dispositiv" bezeichnet hat, also zu einem Phänomen, das zwar kommunikativ erzeugt ist, dennoch das Verhalten prägt, aber immer auch kontrovers gedeutet wird. Mit gutem Recht kann man die Begriffe "Emanzipation", "Partizipation" und "Transparenz" zu Schlüsselkategorien der Revolte erklären. Mit diesen Forderungen ist aber auch bezeichnet, was den citoyen vom bourgeois unterscheidet und genau daraus entwickelt von Lucke seine zentrale These.

    "Anders als ihre skeptischen Vorgänger machte sich die 68er Generation die Bundesrepublik durch engagierten Protest und aktive Beteiligungen in einem Akt der politischen Selbstermächtigung zu Eigen. Insofern ist es durchaus zutreffend, die späten sechziger Jahre als zivilgesellschaftliche Um- oder Neugründung der Bundesrepublik zu bezeichnen. Erstmals hatte sich in Deutschland in umfangreichem Maße der citoyen dem bourgeois beigesellt."

    Zu dieser Deutung kommt von Lucke, indem er nicht auf den harten Kern der Rebellen fokussiert, sondern seine Aufmerksamkeit zum einen richtet auf das weitaus größere "sympathisierende Umfeld", zum anderen auf die Verhalten und Bewusstsein prägende Rezeption, die aus der Revolte den "moralisch - universalistischen Aufbruch einer ganzen Generation" machte. Überzeugend deutet von Lucke Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" und die Partizipationsbewegung der 70er und 80er Jahre als unmittelbare und bedeutsamste Folge von 68. Im heutigen 68er-bashing, in der Propagierung einer "neuen Bürgerlichkeit", in der Stigmatisierung intellektueller Einmischung und in der Ästhetisierung des Politischen, sieht von Lucke den Versuch, die Emanzipationsentwicklung zurückzudrehen, den citoyen wieder zum bourgeois zu machen. Die Deutungshoheit über 68 entscheide mit darüber, welche Chancen es künftig für Emanzipation, Partizipation und Transparenz gibt. Hier greift die Analyse zu kurz. Rot-Grün, also 68 an der Macht, hat zwar die Deutungshoheit über die Rebellion verteidigen können, aber die politische Entleerung des Projekts hat die Beschleunigung des gesellschaftlichen Roll-backs maßgeblich vorbereitet.


    Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht
    Verlag Klaus Wagenbach (Politik bei Wagenbach)
    90 Seiten, 9,90 Euro

    Wolfgang Kraushaar: Acht und Sechzig. Eine Bilanz
    Propyläen Verlag
    336 Seiten, 19,90 Euro

    Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68
    Kiepenheuer und Witsch
    256 Seiten, 19,95 Euro

    Reinhard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern
    wjs Verlag
    240 Seiten, 19,90 Euro