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Erinnerung als Maskenball

Eine Gruppe rumänischer Intellektueller, die unter Ceausescu in die USA ins Exil ging, steht im Mittelpunkt von Norman Maneas Roman. "Die Höhle" ist eine Mischung aus Rätselgeschichte und Nekrolog, aus Erinnerungen an die verbotene Bukarester Boheme und Momentaufnahmen der amerikanischen Gegenwart.

Von Sacha Verna | 30.11.2012
    Eine architektonische Perle ist er wirklich nicht, der zweiundvierzig stöckige Turm mit Balkonen wie Warzen, der nahe der Kreuzung von Broadway und Amsterdam Avenue an New Yorks Upper West Side in den Himmel ragt. Als stalinistischen Block hat ihn Norman Manea einmal bezeichnet. Der 76jährige Schriftsteller wohnt mit seiner Frau Cella in der zehnten Etage des Turms, wenn er nicht am idyllischen Bard College Upstate New York unterrichtet. Und mit stalinistischen Unterkünften kennt Manea sich aus nach einem halben Jahrhundert im kommunistischen Rumänien.

    Norman Manea, Erzähler, Essayist und Professor für Europäische Kulturstudien lebt seit 1988 in den Vereinigten Staaten. Er hat sich eingerichtet im besten Hotel der Welt, wie er seine neue Heimat nennt, aber er ist Europäer geblieben. Das gilt auch für die Protagonisten seines neuen, seines fünften Romans. In "Die Höhle" hat Manea seine Biografie wie Konfetti auf verschiedene Figuren verteilt.

    Für einen Schriftsteller sei die Karnevalisierung des eigenen Lebens nichts Ungewöhnliches, sagt Norman Manea. Er erfinde diese Wesen, die sympathischen und die unsympathischen, und drücke mit ihnen sein Verständnis der Welt aus, ob er wolle oder nicht. In "Die Höhle" zum Beispiel mit Augustin Gora.

    Gora, Professor an einem geisteswissenschaftlichen College wie Manea, drapiert seinen Schreibtisch mit Lederhandschuhen in allen Farben. Sie erinnern ihn an seine Frau, die ihn einst nicht ins amerikanische Exil begleiten wollte und in Rumänien blieb. Professor Gora führt nächtliche Telefongespräche mit Peter Gaspar, einem anderen rumänischen Exilanten, der eine Morddrohung erhalten hat – wie Norman Manea 1991 nach der Veröffentlichung eines Artikels über die faschistische Vergangenheit des gefeierten Religionshistorikers und Schriftstellers Mircea Eliade. Und schließlich ist da Lu, Ludmilla, gewesene Gattin Goras, Geliebte Gaspars, geheimnisvolle Muse dieser Gestrandeten.

    Norman Manea inszeniert die Erinnerung als Maskenball. Das liegt nahe im absurden Theater, als das ihm sein Exil auch nach über zwanzig Jahren noch manchmal erscheint. Mehr als alles andere ist "Die Höhle" nämlich ein Roman über das Exil. Und über den Tod, der mit den Akteuren Katz und Maus spielt.

    "Das Exil ist eine Vorbereitung auf den Tod. Man sieht sein früheres Leben verschwinden und findet sich besitz- und wurzellos in einer neuen Welt wieder. Ich betrachte das Exil als privilegiertes Trauma. Das Privileg besteht im Neuanfang, den das Exil einem ermöglicht. Es zwingt einen, aus der Routine auszubrechen und die eigenen Vorurteile, das eigene Denken zu hinterfragen. Das ist ein schmerzhaftes Geschenk, aber es ist ein Geschenk."

    Der Tod ist allgegenwärtig in "Die Höhle", weil das Exil alle Symptome des Todes aufweist, außer den biologischen.

    Norman Manea erlebte seinen ersten Tod in Form des Exils, als er fünf Jahre alt war. 1941 wurde er mit seiner Familie und dem Rest der jüdischen Bevölkerung aus der Bukowina in ein Konzentrationslager in der Ukraine deportiert. Die Erfahrung im Lager vergleicht Meanea mit der des Jungen in seiner Erzählung "Der Tod":

    "Der kleine Junge wächst in einer Umgebung auf, in der die Menschen ständig und ohne Vorwarnung sterben. Der Junge ist besessen vom Tod. So sehr, dass er mit einem Bienenstich weinend zu seiner Mutter rennt, weil er glaubt, er sei erschossen worden. So empfand ich mein Leben nach der Deportation. In allem steckte der Tod – und dann geht das Leben trotzdem weiter."

    Angst, Hunger, Kälte und Krankheit hätten seine Empfindsamkeit gegenüber dem Leiden gestärkt – seinem eigenen Leiden und dem Leiden anderer gegenüber, sagt Manea. Doch wurde der Holocaust nicht zu seinem Lebensthema. Manea respektiert Autoren wie Imre Kertész und Aharon Appelfeld, die diese Wahl getroffen haben. Aber er wollte kein Holocaust-Autor werden.

    Auch ein politischer Schriftsteller wollte Norman Manea nie sein. Dazu war er allerdings längst geworden, als er 1986 in sein zweites Exil gezwungen wurde. Bereits seine erste Veröffentlichung in Rumänien 1966, eine erotische Erzählung in einer kleinen Literaturzeitschrift wurde als zu politisch kritisiert, gerade weil sie völlig unpolitisch war. Zuvor hatte Manea in Bukarest jahrelang den ungeliebten Beruf eines Wasserbauingenieurs ausgeübt. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als bei seinem Schreiben und seiner Lektüre in Ruhe gelassen zu werden:

    "In diesem Roman spiele ich mit der Symbolik des Buches als Höhle, als Bunker, in den ich mich vor dem Chaos der Welt zurückzuziehen hoffte. Aber wer einen Rest Integrität behalten wollte, wurde wie ich in eine bestimmte Richtung gedrängt."

    Norman Manea gehörte nicht zu den Dissidenten, die auf die Straße gingen. Sein Widerstand war ästhetischer Natur:

    "Ich schrieb nicht über Helden, wie sie sich das System wünschte. Meine Helden sind Versager, keine Kämpfer. Deshalb eigenen sie sich auch nicht als Helden der Opposition. Es sind Menschen, die vom System besiegt worden sind und sich in ihre Einsamkeit, in ihr eigenes Gefängnis zurückziehen, um ein Mindestmaß an Authentizität zurückzugewinnen, an realem Denken und Fühlen."

    Ein Grund für Maneas langes Hinauszögern seiner Emigration war die Sprache. Auf den Kokon seiner Muttersprache zu verzichten, konnte Norman Manea sich nicht vorstellen. Noch heute verfasst er alle seine Werke auf Rumänisch.

    Auf die Frage, wie er sich einer Sprache, Sprache überhaupt so verbunden fühlen könne, wo sich doch gerade Sprache nur allzu oft als Mittel der Manipulation und der Unterdrückung erweise, antwortet Norman Manea: Jede Sprache ist die von Mördern und die von Dichtern.

    "Stalin verurteilte Ossip Mandelstam in der Sprache, in der Mandelstam seine Gedichte schrieb."

    Goebbels sei ein sehr kultivierter und intelligenter Mensch gewesen und Mao Zedong ein Dichter, und nicht einmal ein schlechter. Diese Widersprüche gehören zur Sprache, davon ist Norman Manea überzeugt. Sie erst machen Sprache menschlich. Und er beharrt darauf, die Sprache von der Ideologie, der sie dient, zu unterscheiden.

    Seine Aufgabe als Schriftsteller sieht Manea darin, die Sprache vor den Klischees, vor den bleiernen Tönen der Macht zu retten.

    "Ich denke nicht unbedingt an eine reine Sprache. Eher an eine Sprache, die alle Komplikationen des Menschseins enthält und das Gute wie das Böse ausdrückt, das der menschlichen Seele innewohnt."

    Den Roman "Die Höhle" erzählt Norman Manea in einer Sprache von manchmal surrealer Bildhaftigkeit. Er wechselt Perspektiven und Zeiten und wiederholt gewisse Sätze und Szenen wieder und wieder. Dieser Roman ist eine groteske Tragikomödie mit vielen Fragezeichen, deren größtes wieder zum Karneval zurückführt, zum Karneval des Exils und der Freiheit:

    "Wir leben in einer Welt der Exile, die ihr Zentrum verloren hat und in der die meisten Menschen nicht wissen, wie sie mit ihrer Freiheit umgehen sollen. Diese Verwirrung ist eine der Erfahrungen, die ich in diesem Buch auszudrücken versuchte."

    "Die Höhle" ist eine Mischung aus Rätselgeschichte und Nekrolog, aus Erinnerungen an die verbotene Bukarester Boheme und Momentaufnahmen der amerikanischen Gegenwart. Es ist ein berückend verrücktes Buch über Menschen, die so bezaubert und durcheinander sind über das Leben nach dem Tod im Exil, wie der Autor, dessen Erinnerung und Fantasie sie entsprungen sind.

    Norman Manea: Die Höhle.
    Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht
    Carl Hanser Verlag, München 2012, 365 Seiten, 34,90 Euro