Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Erinnerungen eines Tausendsassas

Alles, was der 85-jährige Claude Lanzmann angeht, macht er mit Leidenschaft. Er ist Dokumentarfilmer, Produzent, Journalist und Herausgeber des von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gegründeten Magazins "Les Temps Modernes".

Von Jürgen Ritte | 27.02.2011
    "Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiß ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen."

    Wer den 85-jährigen Claude Lanzmann heute sieht, wer die fast siebenhundert Seiten seiner Erinnerungen, die er unter das Zeichen eines patagonischen Hasen stellt, gelesen hat, glaubt ihm aufs Wort. Dieser Mann ist, wie ältere Generationen noch gesagt haben würden, ein veritabler Tausendsassa: ein Abenteurer und ein Intellektueller, ein Widerstandskämpfer und ein Künstler, ein Mann, der die Frauen liebt und dem die Frauen niemals abhold waren. Kurz: ein Mann, der in der Welt und seiner Zeit zuhause ist, engagiert ist, wie nur wenige.

    Er ist, vielleicht mehr als ein André Malraux oder ein André Gide, auf den das Wort gemünzt war, der "kapitale Zeitgenosse" schlechthin. Als Abiturient ist er im bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer in Frankreich engagiert, nach dem Krieg studiert er an der Sorbonne Philosophie, bevor er, nach einem längeren Deutschlandaufenthalt – als Lektor an der Freien Universität Berlin im Jahre 1949 -, Journalist wird und gut zwanzig Jahre lang für den legendären "France-Soir" oder auch für "Elle" die Welt bereist, die Schönen und Berühmten porträtiert und aus Krisengebieten berichtet, aus Nordkorea etwa oder aus China. Und vor allem: Er ist der oft vergessene Dritte im Bunde, wenn vom intellektuellen Traumpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre die Rede ist.

    In den 50er-Jahren ist er der Geliebte der 17 Jahre älteren Beauvoir, er ist der einzige Mann, mit dem sie je eine gemeinsame Wohnung teilte – was einer gelungenen intellektuellen "ménage à trois" in keiner Weise entgegenstand. Lanzmann ist bei allen Sträußen, die Sartre und Beauvoir ausfechten, mit von der Partie. Er wird Redaktionsmitglied in Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes", deren Direktor er noch heute ist, und begleitet beide bei ihren zahllosen politischen Engagements rund um die Welt, wie etwa gegen den Krieg in Algerien. 1967, kurz vor Ausbruch des Sechstagekriegs, überzeugt er einen zunächst widerwilligen Sartre von dem tausendseitigen Großunternehmen einer Sondernummer zum israelisch-arabischen Konflikt, in der ausschließlich und zu gleichen Teilen, israelische und arabische Autoren zu Wort kommen. Damals eine Pioniertat.

    Überhaupt Israel: Lanzmann, als Sohn religionsferner Juden geboren, entdeckt dieses Land und die komplexe Problematik einer jüdischen Identität in den fünfziger Jahren und bereist es seitdem immer wieder. Er widmet ihm eine Reihe von gewichtigen Dokumentarfilmen, unter anderem über die israelische Armée Tsahal, und seine Begegnungen mit den – wenigen – Überlebenden der deutschen Konzentrationslager führt ihn nach und nach zu dem monumentalen Werk, dem er zwölf Jahre seines Lebens widmete und das heute als unumgängliches, weil exemplarisches Dokument des Erinnerns an den Judenmord gilt: Die Rede ist von dem neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah", der diesen Begriff (und diese Realität) erst hervorbrachte, oder besser: zur Kenntlichkeit brachte.

    Und so könnte man weitererzählen – und würde doch Claude Lanzmann und seinem Buch in keiner Weise gerecht. Denn der "patagonische Hase" verfolgt, so wenig wie irgendein Hase, gerade Linien. Er schlägt Haken quer durch die Zeit, springt vom Privaten und Anekdotischen aufs Politische, spiegelt das eine im anderen. Lanzmanns Erzählung – er will dieses Glanzstück literarischer Prosa lediglich diktiert haben – ist alles andere als eine bieder chronologische Aufzählung des Erlebten, hat auch nichts von einem selbstgefälligen Abschlussbericht rechtzeitig zum Lebensabend.

    Für ihn, der behauptet, kein Gefühl für das Vergehen von Zeit zu haben und auch nicht zu bemerken, dass er älter wird, ist das Leben eine Folge von "Verdichtungen", von "Inkarnationen" oder Verkörperungen eines realen Gegenwärtigen, von Momenten eines wirklichen "In-der-Welt-Seins" - und so erzählt er sich auch. Was er damit meint, erklärt er am besten selbst:

    "Es ist gar nicht so lange her, dass ich am Steuer eines gemieteten Autos von Rio Gallegos in Richtung der chilenischen Grenze fuhr, die ungeheure Ebene der argentinischen Seite Patagoniens an der Grenze zu Feuerland und den fantastischen Gletscher von Perito Moreno vor Augen, und mir voller Freude (ähnlich wie auf jener ersten Bahnreise nach Mailand) wiederholte: "Ich bin in Patagonien, ich bin in Patagonien!". Aber der Wahrheit entsprach das nicht, und es nützte nichts, wenn ich einige Herden weißer Lamas erblickte, Patagonien verkörperte sich nicht in mir? Dann, ganz plötzlich, verkörperte es sich in der Dämmerung auf dem letzten Wegstück der nicht asphaltierten Straße hinter dem Dorf El Calafate im Lichtkegel meiner Scheinwerfer, als ein Hase, hervorschnellend mit langbeinigen Sätzen wie ein Pfeil, vor mir die Straße überquerte. Ich hatte soeben einen patagonischen Hasen gesehen, ein Zaubertier, und ganz Patagonien durchdrang auf einmal mein Herz mit der Gewissheit unseres gemeinsamen Vorhandenseins.

    Neben der Todesstrafe wird die Vergegenwärtigung – aber ist da ein Widerspruch? – die wichtigste Angelegenheit meines Lebens gewesen sein. Auch wenn ich zu sehen vermag, ja mit einem seltenen visuellen Gedächtnis begabt bin, stehen Ausdrücke wie "das Schauspiel der Welt" oder "die Welt als Schauspiel" nach meinem Empfinden immer für eine uns arm machende Dissoziation, eine abstrakte Trennung, die Staunen und Begeisterung unmöglich macht, weil sie sowohl das Objekt wie das Subjekt um seine Wirklichkeit bringt. Als ich zwanzig war, ich habe es schon erzählt, ist Mailand erst wahr für mich geworden, als ich auf dem Weg über die Piazza des Duomo für mich selbst die ersten Zeilen der "Kartause von Parma" laut zu rezitieren begann.

    Das ist ein Beispiel von vielen. Es gab die furchtbare Erschütterung in Treblinka mit ihren endlosen Konsequenzen, ausgelöst durch das Zusammentreffen eines Namens und eines Ortes, die Entdeckung eines fluchbeladenen Namens auf gewöhnlichen Ortsschildern, auf dem Bahnhofsschild, als sei dort nichts geschehen. A Hasen habe ich jeden Tag gedacht, als ich dieses Buch schrieb, an die Hasen im Vernichtungslager Birkenau, die unter dem Stacheldraht durchschlüpften, der für Menschen unpassierbar war, an die Hasen, von denen es in den großen Wäldern Serbiens wimmelte, als ich durch die Nacht fuhr und darauf achtgab, sie nicht zu töten. Schließlich dachte ich an das mythische Tier, das hinter dem patagonischen Dorf El Calafate im Licht meiner Scheinwerfer auftauchte und mir die Gewissheit buchstäblich ins Herz trieb, dass ich in Patagonien war, dass Patagonien und ich in diesem Augenblick wahrhaft zusammen waren. Genau das ist Vergegenwärtigung. Ich war fast siebzig, aber mein ganzes Sein hüpfte vor wilder Freude, wie mit zwanzig Jahren."


    Es sind dies bereits die letzten Sätze seiner Selbstbeschreibung. Mit der "wilden Freude" an der realen Existenz, deren Wappentier der kluge und flinke Hase wäre, scheint Lanzmann doch einem Albert Camus näher zu stehen – sein Name taucht übrigens nur ganz beiläufig auf – als dem verehrten Freund Sartre. Und auch die Nähe zum Tod, oder besser: die Revolte gegen den Tod, hat mehr von Camus als von einen Sartre. Den Lesern von "Le Monde" zum Beispiel bescheinigte Lanzmann im Herbst 2008, nach Erscheinen des französischen Originals, dass die Vorstellung einer Welt ohne ihn nur wenig Anziehungskraft auf ihn ausübe. Aber gleichviel: Die Erzählung, die mit der Apotheose des Lebens endet, setzt mit einer Erinnerung an die Guillotine, und also den Tod, ein:

    "Die Guillotine – und ganz allgemein die Todesstrafe und die verschiedenen Arten ihrer Vollstreckung -, das wird die wichtigste Angelegenheit meines Lebens gewesen sein. Früh ist es damit losgegangen. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, nicht älter; die Erinnerung an den Kinosaal in der Rue Legendre im XVII. Pariser Arrondissement mit seinen matt gewordenen Vergoldungen ist in mir nach wie vor erstaunlich lebendig. Der Film, der an jenem Tag gezeigt wurde, heiß "L’affaire du courrier de Lyon", den Namen des Regisseurs weiß ich nicht mehr, aber er muss gut gewesen sein, weil ich gewisse Szenen nie vergessen konnte, den Prozess gegen Lesurques, der unschuldig zum Tode verurteilt wird, das Schafott mitten auf dem großen Platz, der in meiner Erinnerung weiß ist, das herabsausende Fallbeil. Man guillotinierte damals, wie während der französischen Revolution, in der Öffentlichkeit. Monatelang wachte ich gegen Mitternacht auf, von entsetzlichen Schreckensbildern verfolgt, mein Vater musste aufstehen, in mein Zimmer kommen, mir über die Stirn und die vom Angstschweiß nassen Haare streichen."

    Von der Revolte gegen den Tod, gegen den ihm zugedachten Tod, ist schon der Eintritt, an der Seite seines Vaters, in die französische Widerstandsbewegung diktiert, auch sein Engagement gegen den Algerienkrieg und – nicht zuletzt – sein Film "Shoah". Aber auch in einem vermeintlich privateren Register, wo das stets präsente Element des Erotischen in den Vordergrund rückt, tut Lanzmann, der offenbar nur selten feuchte Augen hat, das, was ein Normalsterblicher sich bestenfalls in seinen Tagträumen auszumalen wagt: Im Jahre 1958 ist er mir einer französischen Delegation nach China und Nordkorea eingeladen.

    Dort, ausgerechnet im radikal-kommunistischen Phnom-Peng, verliebt er sich in eine Krankenschwester. Eine wahre Begegnung zwischen beiden ist in diesem Überwachungsstaat nicht möglich, aber Lanzmann und die schöne Kim Kum-sun versuchen es trotzdem. Sie unternehmen, unter den feindlichen Blicken von sogenannten Aufbaubrigaden, einen katastrophal verlaufenden Bootsausflug. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Krankenschwester wird anschließend einem peinlichen Verhör unterzogen, an dessen Ende nur ihre Verurteilung zu schlimmsten Strafen stehen kann. Und genau hier greift Lanzmann ein:

    "Schließlich griff ich rücksichtslos ein und riss die Tür auf. Es war tatsâchlich ein Prozess. Sie saß neben [meinem Übersetzer] Ok auf der einen Seite eines langen Tisches, ihr gegenüber auf der anderen ein Dutzend Richter. Ich unterbrach die Verhandlung mit einer wohlabgewogenen, schwerwiegenden politischen Erklärung und bat Ok, den Schirmmützen jedes Wirt zu übersetzen. Was hier geschieht, sagte ich, werde mich zwingen, alles zu überdenken, was ich bisher von der Demokratischen Volksrepublik Nordkorea gehalten hätte, es widerspreche dem Urteil, das ich mir im Verlauf meiner Reise über diese stolze Nation und dieses heldenhafte Volk gebildet hätte, das übermenschliche Leistungen vollbringe, über die ich in Westeuropa berichten und in meinen künftigen Artikeln zu schreiben gedächte. Ich wiederholte die detaillierte Version meiner Begegnung mit der Krankenschwester, von der ich nicht einmal den Namen wusste, von meiner Idee einer freundschaftlichen, unschuldigen Bootsfahrt, mit der ich ihr für die hervorragende Behandlung danken wollte. Wenn es einen Schuldigen gäbe, könnte da nur ich sein, allerdings sähe ich nicht ein, was ich oder sie verbrochen hätten, inwiefern ein netter Spaziergang am Taedong eine solche Versammlung rechtfertige, die einem Tribunal gleiche. Ich sei nicht sicher, ob der Große Führer, dessen großzügige Ansichten und feine Diplomatie ich persönlich hätte schätzen lernen können und dessen Gast ich gewesen sei, ein solches Verhalten gutheißen würde [...] – Kaum hatte Ok mein letztes Wort übersetzt, nahm ich die Krankenschwester bei der Hand, sie folgte mir gehorsam, wir gingen."

    Claude Lanzmann ist offenbar noch heute von der Unwahrscheinlichkeit dieser Geschichte und seiner eigenen Chuzpe so überrascht, dass er sich genötigt sah, gleichsam zur Beglaubigung, seinen Erinnerungen als einziges Dokument das Faksimile eines Briefs seiner schönen nordkoreanischen Krankenschwester beizufügen. Auf dass niemand sage: Se non è vero è ben trovato. Und wenn’ nicht wahr ist, so ist’ doch schön erfunden. Die Chuzpe mag Lanzmann von seiner Mutter geerbt haben, der schillernden Paulette Grobermann, die ihre Familie früh verlassen hat, um mit dem nicht weniger schillernden, 1968 verstorbenen Dichter Monny de Boully, einem Surrealisten serbisch-jüdischer Herkunft, ihr Leben zu teilen. Wie er war auch sie Jüdin, und das, wie Lanzmann schreibt, auf eine unverwechselbare Art.

    In Orléans wird sie Anfang der 40er Jahren von den Deutschen festgenommen. Der ausweglosen Situation entzieht sie sich, indem sie die verhörenden Beamten auf ein gerahmtes Porträtphoto von Herrmann Göring verweist, das in deren Büro an der Wand hängt: "Seht Euch euren Marschall einmal an", rief sie, "er sieht jüdischer aus als ich!". Aber Claude Lanzmann präsentiert sich nicht immer als der Draufgänger, der er ist, der er sein kann, wenn er sich zum Beispiel schwimmend zu weit aufs Meer hinauswagt (er kennt nur die Perpendikularbewegung zum Strand, nicht die sichere Parallele) oder, mit Simone de Beauvoir, im Matterhornmassiv zu gewagten Bergwanderungen aufbricht, wo er, den Tod herausfordernd, den Moment der Gegenwart sucht und erzwingt. Er kennt auch die Angst, die Furcht vor einem lamentablen Versagen. Der Hase, dieses, so Lanzmann, "noble Geschöpf", ist nicht nur klug, sondern auch ängstlich – und womöglich beides zusammen, wie folgende Geschichte aus den Jahren der Okkupation belegt:

    "[Meine Mutter entschied], dass ich schäbig gekleidet sei wie ein Bauer, dass meine Schuhe mit den Holzsohlen die provinzielle Herkunft verrieten, dass die Füße ihres Ältesten etwas Eleganteres brauchten; etwas mit Pariser Note trotz der unvermeidlichen Holzsohlen. Wir begaben uns zu "Chaussures André", dem Geschäft am Boulevard des Capucines, einer berühmten jüdischen, jetzt allerdings arisierten Firma mit großer Kundschaft und einer zahlreichen Auswahl. Und eben das wurde zum Anlass eines Dramas. Denn zu wählen bedeutet zu töten. Meine Mutter war niemals imstande, etwas auszusuchen, sie wollte alles. Ich bin wie sie. Darum habe ich mir als Thema für mein Philosophiediplom "Die Possibilitäten und Inkompassibilitäten in der Philosophie von Leibniz" gewählt: Inkompassibel will besagen, dass es Dinge gibt, die zusammen nicht bestehen können; eine Wahl zu treffen, versagt der anderen die Existenz.

    Alles Wählen ist Mord, und es kommt mir so vor, als erkenne man die Chefs an ihrer Fähigkeit zu morden . Die Verkäuferinnen wandten sich an mich, aber meine Mutter antwortete an meiner Stelle... sie antwortete und stotterte immer mehr und mehr, was bedeutete, dass sie die Zeit der Angestellten mehr und mehr beanspruchte. (...). Schachteln türmten sich um den Anprobierhocker, nichts gefiel mir, und wenn sie zwischen zwei Modellen zu zögern begann, verstärkte die Angst vor der Wahl, das Hin und Her zwischen den Möglichkeiten ihr Stottern noch und ließ ihre Stimme immer lauter werden. (...) Ich probierte und probierte. Auch ich war erschöpft. Schuhe, die meine Mutter abgelehnt hatte, hatten mir gefallen, und ich wollte unbedingt ans Ende kommen, so sehr, dass ich nun vor jedem neuen Modell in Verzückung geriet. Die Zeit verging, sie verging immer langsamer. Die Kolleginnen unserer Verkäuferin hatte ihre Arbeit eingestellt, sie schauten uns zu, die Kunden schauten auch, aber Paulette sah nichts davon. Langsam geriet ich in Panik. Ich sah und hörte, was alle sahen und hörten, das unerhörte Stottern, die riesige jüdische Nase meiner Mutter, die sich der Situation ganz unbewusst war und der sehr realen Gefahr, in die sie uns beide brachte. Ein Abteilungsleiter mit feindseligem Aussehen kam herbei, musterte sie lange, fragte dann "Stimmt etwas nicht, Madame?" Ich fand unter einem Stapel von Schachteln meine provinziellen Schnürschuhe, ließ meiner plötzlich nicht länger zu zügelnden Panik freien Lauf und rannte quer durch das Geschäft bis zum Ausgang. Ich ergriff die Flucht.

    Ich habe mich nicht dagegen wehren können, dass ich meine Mutter in einer äußerst gefährlichen Situation im Stich lassen musste, weil sie auch mich in Gefahr gebracht hatte. Sie machte mir Angst, ich schämte mich ihretwegen und habe mich an jenem Nachmittag wie ein echter Antisemit aufgeführt (ja, in dessen, wie ich meine, widerlichster Form, nämlich als antisemitischer Jude). Daran gibt es nichts zu deuteln."


    Wirklichen Antisemiten begegnet Claude Lanzmann auch noch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs während der turbulenten, aus Geldmangel immer wieder unterbrochenen Dreharbeiten zu "Shoah", in Polen und in Deutschland. Die letzten Kapitel seines Erinnerungsbuches sind der Entstehung dieses Jahrhundertwerks gewidmet und lesen sich wie ein Selbstkommentar zu diesem oft missverstandenen Film, der zum einen, jenseits aller Fernsehinszenierungen à la Guido Knopp, ein Dokument des Sterbens und Tötens in den KZ des Ostens ist, zum anderen aber auch, wie später Walter Kempowskis "Echolot", das sich ausdrücklich auf Lanzmann beruft, ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk: nicht, weil es das Grauen in irgendeiner Weise ästhetisiert – dies ist das traurige Handwerk eines Jonathan Littell in seinem viel besprochenen Roman "Die Wohlgesinnten" -, sondern weil es ein kunstvolles Arrangement nur aus Zeugenaussagen ist, das den Vorgang der infernalischen Tötungsmaschinerie zum ersten Mal intelligibel, erfahrbar macht. 350 Stunden Filmmaterial, gedreht, in Israel, Polen, Deutschland, den Vereinigten Staaten und anderswo. Und als Ergebnis: 9 Stunden Film. Die Qual der Mutter beim Schuhkauf bei "André" erfährt Lanzmann an sich selbst bei der Montage des Films. Aber es sind nicht nur solche Qualen, die die Arbeit an "Shoah" begleiten: Mit verdeckter Kamera, einem damals sehr teuren und aufwendigen Aufnahmeverfahren – wir sind weit entfernt von den heutigen technischen Möglichkeiten – begibt sich Lanzmann ins Schleswig-Holsteinische, unweit von Hamburg, wo er einen gewissen Herrn Schubert, eine ehemaligen KZ-Aufseher, ausfindig gemacht hat. Der misstrauischen Familie des Alt- und Dauernazis fällt der Trick auf. Lanzmann und seine deutsche Assistentin entkommen nur mit Beulen und blutigen Nasen den Schlägen einer aufgebrachten Familie und Nachbarschaft.

    In der Liebe, beim Schwimmen, beim Bergsteigen, als politischer Journalist, als Filmautor (und sei es als Copilot in einem israelischen Kampfflugzeug) – Claude Lanzmann hat immer mit ganzem Einsatz von Leib und Leben gespielt. Er "erzählt" keine Geschichte, er "ist" Geschichte. Und er hat, man braucht ihn sich nur anzuschauen, gewonnen. Sein "patagonischer Hase" ist nicht nur ein aufschlussreiches Erinnerungsbuch, es ist auch eine Lektion in Sachen Courage und, was die nobelste Aufgabe der Philosophie sein sollte, Lebenskunst.

    Claude Lanzmann: "Der patagonische Hase"
    Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Heber-Schäfer, Erich Wolfgang Skwara und Claudia Schmitz, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2010, 682 Seiten, 24,95 €