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Erinnerungen ohne Chronologie

Der französische Regisseur Claude Lanzmann hat eine nahezu epische Autobiografie vorgelegt: 688 Seiten, die von Bildern, Fakten und Begegnungen nur so strotzen. Wer will da einwenden, dass ihr Autor auch heute nichts von Alter und von Grenzen wissen will.

Von Jochanan Shelliem | 25.10.2010
    Als Claude Lanzmann bei Schnee und großer Kälte im ehemaligen Vernichtungslager Treblinka an seinem großen Dokumentarfilm Shoah arbeitete, hielt er sich – um die wenigen Sonnenstunden nicht mit der Suche nach wärmerer Kleidung zu vergeuden – mit einer Mischung aus zwei Dritteln Wodkas und einem Drittel Cognac warm und hellwach. Von dieser Mischung scheinen auch seine Memoiren befeuert zu sein.

    Gleich im Eingangskapitel geht es um nichts Geringeres als den Tod, die Guillotine und die Todesstrafe, deren Vollstreckung Lanzmann als Zwölfjähriger in einem Film gesehen haben will. Albträume waren die Folge. In seinen Erinnerungen brechen sich Bilder aus dem Sägewerk, gefolgt von Güterwaggons auf dem Weg ins Lager, ihre Bahn. Weitere Hinrichtungsszenen folgen in diesen ersten Assoziationen der 688 Seiten. Mit Simone de Beauvoir sieht er im Morgengrauen algerische Freiheitskämpfer sterben, verurteilt von General de Gaulle, vom Slansky Prozess, von der Enthauptung der 30.000 Chinesen in Nanking wird auch die Rede sein.

    Lanzmanns Erinnerungen halten sich nicht an Jahreszahlen fest. Sie folgen selten einer Chronologie. Wie in einem Stacheldrahtverhau kettet er in seiner Ouvertüre Schreckensszenen aneinander, die ihm den Weg in seinem Kampf um die Erinnerung an Unaussprechliches und Undenkbares wiesen.

    So, wie ich mich in den endlosen Zug der Enthaupteten, Gehängten, Erschossenen, mit der Garrotte Erwürgten, Gefolterten der ganzen Welt eingereiht habe, bin ich auch jene Geisel mit dem leeren Blick, dieser Mann unter dem Messer.

    Im zweiten Kapitel dagegen geht es fast menschlich zu. Und die Erzählung gewinnt an Fahrt. Lanzmann konfrontiert uns mit der Frage, wie viel Folter ein Mensch aushalten kann. Als Kind hatte er gelernt, binnen 90 Sekunden aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt mit seinen Geschwistern in ein Erdversteck zu flüchten. Der Vater hatte das mit den Kindern trainiert.

    Wir wussten, dass das Läuten der Türglocke uns aus dem Schlaf reißen würde, dass wir fliehen müssten, als ob die Gestapo plötzlich vor dem Haus stünde. "Die Zeit, die ihr braucht, wird mit der Stoppuhr genau gemessen", sagte er, und wir hielten das nicht sehr lange für ein bloßes Spiel.

    Lanzmann berichtet davon, wie seine Mutter Pauline und ihr Liebhaber, Monny de Boully von der Gestapo verhaftet und einen ganzen Tag verhört werden, selbstredend führt die Mutter die Gestapo in die Irre.

    Sie zeigte auf eine Fotografie von Göring, die das Büro schmückte, in dem das Verhör stattfand: "Seht euch euren Marschall einmal an", rief sie, "er sieht jüdischer aus als ich!

    Es sind die kleinen Übertreibungen, die diesen autobiografischen Ritt durch die Unglaublichkeiten des vergangenen Jahrhunderts teilweise ungenießbar machen, die Selbstbespiegelungen, durch die sich jede Koreareise mit Kollegen, jede Bergwanderung mit Simone de Beauvoir, jede Balkanfahrt mit Jean Paul Sartre in einen herkulischen Akt verwandeln.

    Der Höhepunkt seiner Autobiografie sind die zwölf Jahre der Recherchen zu Shoah, Lanzmanns Meisterwerk, für das er 350 Stunden Filmmaterial verarbeitete. Der pubertäre Ton seiner Memoiren entblößt dabei seinen von Selbstzweifeln freien Zugriff bei Interviews, seine jegliche Intimität missachtenden Fragen. Als Abraham Bomba, der den Frauen mit vier Schnitten vor den Gaskammern von Treblinka das Haupthaar abgeschnitten hat, dies Lanzmann in Tel Aviv in einem Friseursalon demonstriert und dabei den Tränen nahe ist, lässt er schnell die Kassette wechseln, um den Zusammenbruch des Zeitzeugen zu filmen. Die Kehrseite seiner Kreativität, die ungebrochene Eitelkeit, durchwirkt das Buch des auch mit 85 Jahren unausstehlich pubertären Zeitzeugen Claude Lanzmann:

    "Mein Buch ist in gewisser Weise eine Hymne auf das Leben - eine Hymne, die über dem Erfahrungshorizont des Todes aufsteigt."

    Lanzmanns Erinnerungen fließen wortgewaltig und facettenreich als genialischer Erguss, wie ein assoziativer Wasserlauf durch seine 1000 Geschichten, von denen jede einzelne postuliert, was Wahrheit, was Geschichte ist, geadelt durch sein Werk – und was nichts.

    "Ich bin eine sehr lebenshungrige Persönlichkeit. Shoah, der ein Film über das Königreich des Todes ist, enthält zur gleichen Zeit die Heiligung des Lebens."

    Lanzmann, der bisher hinter dem Ruhm seiner großen Filmdokumente, der Trilogie Warum Israel? und der neuneinhalb Stunden von Shoah als Person beinahe verschwand, er will nun selbst gefeiert werden. Deshalb wird auch der Umgang des Triumvirats Sartre-Beauvoir-Lanzmann mit dem Stalinismus nicht ernsthaft diskutiert, werden seine Erfahrungen in den Ruinen von Berlin unmittelbar nach Kriegsende nur episodisch referiert. Den alten Mann tangieren die historischen Unschärfen weniger als einst erlittenes Liebesleid.

    "Warum aber habe ich beschlossen, meinem Buch diesen ungewöhnlichen Titel zu geben, 'Der patagonische Hase'?"

    Gestählt durch die Umbrüche seiner Zeit, geadelt durch die Menschen, die ihn wie Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir gefördert haben, sieht sich Claude Lanzmann als Gigant:
    "Lange hatte ich daran gedacht, es 'Die Jugend der Welt' zu nennen, ohne damit irgendeinen Gegensatz zwischen der Welt und mir oder meiner eigenen Jugend und meinem heutigen Alter anzudeuten."

    Und dieser Zeuge eines Jahrhunderts voller Blut nennt sich selbst einen Hasen, in Anlehnung an das freie, wilde Tier, das er einst sah, vor Feuerland, und dieser patagonische Hase blickt nun zurück auf das, was – um ihn – war.

    Jochanan Shelliem über Claude Lanzmann: "Der patagonische Hase. Erinnerungen". 688 Seiten, publiziert im Rowohlt Verlag für 24 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-498-03939-4.