Freitag, 19. April 2024

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Erinnerungskultur im globalen Kontext
"Es geht um Solidarität und Empathie"

Wird die Singularität des Holocaust durch die Erinnerung an die Opfer von Völkermord oder Sklaverei in Frage gestellt? Nein, sagt der Historiker Felix Axster. Die stärkere Erinnerung an den Kolonialismus führe in Deutschland aber zwangsläufig zu einer "Neuaushandlung der Erinnerungskultur".

Dr. Felix Axster im Gespräch mit Karin Fischer | 28.03.2021
Demonstranten mit einem Transparent "Entschuldigung sofort - Völkermord verjährt nicht" vor einem Gebäude der Charite in Berlin
Erinnerung an den Völkermord an den Herero und Nama in Namibia (dpa/Sören Stache)
Die Debatte um die Identitätspolitik hat Züge eines Kulturkampfs. In diesem Kulturkampf stehen die Vertreterinnen und Vertreter des Universalismus, die, zusammengefasst, meinen, die Werte und Errungenschaften der Aufklärung wie Menschenrechte und Meinungsfreiheit gälten für immer und für alle -, sie stehen jenen gegenüber, die aus einer tatsächlichen oder vermeintlichen Opferrolle heraus mehr Rechte, mehr Mitsprache fordern.
Aus diesem Kampf für Chancengleichheit scheint ein Flickenteppich von Emanzipations- und Gleichbehandlungs-Bestrebungen geworden zu sein - deren Disparität sehr häufig in die Frage mündet: Wer darf hier eigentlich für wen sprechen und wer nicht? Die Stimmen werden lauter, die behaupten, diese Identitätspolitik führe letztendlich zu mehr Ausgrenzung und Ausschluss und nicht zu mehr demokratischem Diskurs.

Kolonialimus und globale Erinnerungskultur

Auch global betrachtet stellt sich die Frage nach Ausgrenzung und Ausschluss derzeit sehr intensiv. Am Beispiel der Erinnerungskultur, im Zusammenhang mit Sklaverei und Rassismus, wird nämlich untersucht, welche Stimmen noch nichts zu Wort gekommen sind, welche koloniale Geschichte nach wie vor verdrängt oder nicht genügend aufgearbeitet wird?
In Deutschland ringen Historiker gerade um eine neue Verortung etwa des Holocaust im globalen Erinnerungsdiskurs. Welche Rolle sollte Kolonialismus spielen im Rahmen einer deutschen Erinnerungskultur, wo doch die vergangenen Jahrzehnte so dominant von der Aufarbeitung des Holocaust geprägt waren? Dr. Felix Axster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, arbeitet seit langem auch zum Thema Kolonialismus. Seiner Anischt nach, ist die Debatte schon älter. Sie habe in den Nullerjahren zu heftigen Kontroversen geführt, aber auch produktive Ergebnisse hervorgebracht - unter anderem eine rege Forschungstätigkeit.
"Es geht ja zum einen um die Globalisierung, um die Frage, welchen Status der Holocaust in so etwas wie einer globalen Erinnerungskultur einnimmt. Zum zweiten gab es die postkoloniale Wende. Das ist gerade für Deutschland sehr wichtig, weil die Geschichte des Kolonialismus einfach jahrzehntelang mehr oder weniger vergessen wurde, verdrängt wurde und in der Erinnerungskultur keine große Rolle gespielt hat.
Es gibt eine globale Bewegung, eine wissenschaftliche Bewegung, also die postcolonial studies, die eben mit Nachdruck sagen: Wir müssen uns der Geschichte des Kolonialismus, der Sklaverei erinnern, weil sie mit unserer Gegenwart auch noch viel zu tun haben. Und wenn man in Deutschland sagt, man muss jetzt auch die Geschichte des Kolonialismus stärker erinnern, dann stellt sich natürlich die Frage: Wie verhält sich dann der Kolonialismus zum Nationalsozialismus und zum Holocaust? Und insofern, würde ich sagen, geht es schon um eine Art Neuaushandlung der Erinnerungskultur."

Michael Rothberg als Kronzeuge

Die Konflikte zwischen den Disziplinen Antisemitismuskritik und Rassismuskritik empfindet Felix Axster als Dilemma. Mit Michael Rothberg möchte er die Forschungsansätze miteinander ins Gespräch bringen:
"Rothberg vergleicht nicht Kolonialismus und Nationalsozialismus im Sinne der historischen Ereignisse, sondern er guckt sich an: Wie wurden im Nachdenken über Holocaust und Rassismus Bezüge hergestellt zwischen der Geschichte von Nationalsozialismus, Holocaust und der Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei? Michael Rothberg macht eine Tradition wieder sichtbar, die vielleicht mit Hannah Arendt und Aimé Césaire beginnt, die aber Arbeiten bis in die Nullerjahre verfolgt.
Eine seiner letzten Beispiele ist er der Film 'Caché' des österreichischen Filmemachers Michael Haneke. Es geht um kulturelle Produktionen, die Bezüge herstellen zwischen diesen beiden Geschichten. Es geht um Analogien. Es geht vielleicht um Transfer von Wissen: Welche Linien lassen sich zurückverfolgen in der Geschichte der Moderne, also in der Geschichte der letzten drei-, vierhundert Jahre, die möglicherweise eben auch eine Erklärung sind für diese Radikalisierung der Massengewalt unter dem Nationalsozialismus?"
Das Buchcover "Multidirektionale Erinnerung" von Michael Rothberg ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Der Historiker und Literaturwissenschaftler Michael Rothberg hatte in den USA bereits im Jahr 2009 das Werk "Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung" veröffentlicht. Gerade ist es auf Deutsch erschienen. Zusammen mit Jana König hat Felix Axster ein Interview mit Michael Rothberg geführt und das Nachwort verfasst. Axster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Opferkonkurrenzen und dynamische Erinnerungskultur

Als in Washington ein Holocaust-Museum geplant wurde, kam die Frage auf, warum nicht an die Geschichte der Sklaven in den USA ebenso erinnert würde? Inzwischen gibt es dort auch ein Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur. Rothbergs Buch sei entstanden, weil damals tatsächlich verschiedene Opfergruppen um die angemessene Aufmerksamkeit gerungen hätten. Sein Buch und das Konzept der "multidirektionalen Erinnerung" sei der Versuch, aus der Logik solcher "Opferkonkurrenz" auszubrechen. Darin verweist Rothberg selbst darauf, dass die Erinnerung an das eine Verbrechen der Erinnerung an das andere nichts wegnehmen muss.
Wenn Erinnerungskultur dynamisch gedacht würde, müsse es auch darum gehen, jenen elf Millionen Deutschen einen Zugang zur Geschichte des Holocaust zu ermöglichen, deren Herkunft und Biographie damit nichts zu tun hat: Weil sie aus migrantischen Familien, aus Zugewanderten oder deren Nachkommen bestehen und die deutsche Geschichte natürlich lernen können, aber sozusagen nur als fremde Erinnerungskultur.
"Dass Deutschland nach Jahrzehnten endlich anerkennt, dass es ein Einwanderungsland ist, wirkt sich natürlich auf die Erinnerungskultur aus. Ich glaube, dass der Ansatz von Michael Rothberg, der ja auch eine ethische Prämisse formuliert - es geht um Solidarität, um Empathie, darum, nicht gleichzusetzen, sondern zu differenzieren -, dass das eine hilfreiche Orientierung sein kann für diesen Prozess der Aushandlung von Erinnerungskultur."

Debatte um Identitätspolitik

In der derzeit aufgeheizten Debatte um Identitätspolitik findet der Historiker Felix Axter schon die Voraussetzungen schwierig:
"Es ist ja nicht so, als wäre die Geschichte von Rassismus, von Kolonialismus, von Nationalismus… als währen das keine Identitätspolitiken. Sie werden nur nicht so genannt. Das finde ich ein großes Problem. Vor allem weiße Männer haben ja eben sehr lange die Norm bestimmt und definiert. Und das war natürlich auch Identitätspolitik. Sie wurde nur nie so genannt. Ich finde sehr wichtig, diese Voraussetzung der Debatte erst einmal infrage zu stellen. Man muss, wenn man über Identitätspolitik redet, auch über rassistische, nationalistische und sexistische Identitätspolitik reden. Und die finden eben nicht nur an den Rändern statt. Das ist sozusagen das, was hier normal ist."