Donnerstag, 25. April 2024

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Erledigungen vor der Feier

Auch der sogenannte authentische Ich-Erzähler ist in die Jahre gekommen. Dabei wird er immer jünger. Herbert Achternbusch, auf den der Begriff einst gemünzt wurde, hatte die dreißig wohl längst überschritten, als er sich tapfer in die Alexanderschlacht warf und spaterauch so manche bayerische Grenz Streitigkeit lässig für sich entschied. Sein Ich-Erzahler hatte etliche Namen, Alexander und Herbert waren nur zwei davon; hinter den vielen Folien und Scharaden seines übermütig-humorigen und nicht selten auch weißbierseligen Erzählens war der Autor kaum zu fassen, und so behielt der Terminus des authentischen Ich-Erzählers etwas Problematisches, obwohl man natürlich wußte oder zu wissen glaubte, daß hier einer ausschließlich von sich selbst erzählte, wenn auch nichts Wahres.

Martin Krumbholz | 23.07.2003
    Tilman Rammstedt wurde 1975 geboren, und zwar in Bielefeld. Etwa 28 ist der junge Mann demnach, da hat man schon manches zu erzählen, vor allem von sich selbst. Liest man das schmale und schmucke Bändchen mit dem schönen Titel «Erledigungen vor der Feier», fällt es schwer, zwischen dem zugegebenermaßen unbekannten Autor und seinem Ich-Erzähler eine scharfe Trennlinie zu ziehen, auch wenn letzterer keinen einzigen Namen hat. Alles an diesem Buch, das kein Roman ist, sondern eine Sammlung von lose miteinander verknüpften Geschichten, wirkt außerordentlich authentisch.

    Im Unterschied zu Achternbusch und ungezählten anderen Debütanten der theoriesatten Zeit um 1970 thematisiert Rammstedt das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler nicht. Ironie, wenn sie einmal eingesetzt wird, findet auf der inhaltlichen Ebene der Geschichten statt, nicht auf der Meta-Ebene des Textes. Man könnte das naiv nennen; aber gar nicht naiv ist die Art und Weise, wie der Autor sein mutmaßlich authentisches Ich inszeniert. Der dazu gehörige Gestus ist durchaus selbstbewußt. Hier spricht ein "Ich", das sich mag; eines, das sich nicht hinter Fiktionen zu verstecken gedenkt. Explizit definiert es sich als "Anwalt der Wirklichkeit". Und das, obwohl im Leben dieses Erzählers keineswegs alles glatt läuft. Mit der weiblichen Gegenspielerin L. — ein ganzer Name ist ihr nicht gegönnt, nur diese schlichte Initiale, als gelte es, die wahre Identität einer Person zu schützen, wie es die Kriminalpolizei im Polizeibericht tut, dabei hat L. gar nichts ausgefressen — mit dieser L. läuft es zum Beispiel nicht glatt. Und hier wird es phänomenologisch interessant. L. und der Erzähler scheinen einander zu mögen, vor allem aber mag jeder der beiden sich selbst. Und diese gute Meinung, die jeder der beiden von sich selbst hat, muß der andere möglichst oft bestätigen. Wenn L. sich ein neues Kleid kauft, wird der Erzähler damit beauftragt, ihr wie zufällig auf der Straße zu begegnen und ihr ein Kompliment zu machen, und zwar ein authentisches, «sonst bringt das alles nichts», sagt L. scharfzüngig. Die Situation wird also regelrecht inszeniert. «Noch wichtiger als gut auszusehen ist ihr, gut dazustehen», schreibt der Erzähler und nennt es «eine szenische Eitelkeit».

    Diese Passage ist sehr charakteristisch für das ganze Buch, das aus lauter szenischen Eitelkeiten zusammengebaut ist. Der Erzähler steht in der Regel gut da, auch wenn er sich aus Unerfahrenheit linkisch gebärdet, wenn er etwa nicht weiß, wie man eine Frau umarmt: Eine wirkliche Blöße gibt er sich nicht, und deswegen sind diese Situationen des Mißlingens auch weder besonders komisch noch besonders lebenswahr, sie sind nur geschickt beschrieben. An Eloquenz mangelt es diesen jungen Helden selten, aber es gibt für ihre Redegewandtheit keinen Stoff, weil sie nichts von sich preisgeben wollen. Man gibt sich keine Blöße, man tritt dem anderen nicht zu nahe, damit der einem ebenfalls nicht zu nahe tritt: das ist die Abmachung. Man schützt sich vor Indiskretion, aber dadurch auch vor Nähe. Indem man dem anderen nicht zu nahe tritt, kommt man ihm auch nicht nahe. Und letztlich interessiert man sich auch nicht für ihn oder seine Geschichte. Die Zeit, «bevor wir uns kannten», nennt der Erzähler auch die Zeit, «die mich, wenn ich ehrlich bin, nicht sehr interessiert.» Die Ehrlichkeit ist das einzige, was hier für ihn einnimmt.

    Am Anfang und am Ende des episodisch strukturierten Buchs ist von L. die Rede; zwischendurch richtet der Erzähler sein Augenmerk auf andere Figuren, unter anderem seine Eltern, die sich scheiden lassen. «Ich habe mit meinen Eltern selten über Dinge gesprochen, die bei mir oder bei ihnen auf ein Gefühlsleben hätten schließen lassen können.» So eigenartig gespreizt die Formulierung, so banal ist die Aussage: Gefühle waren in der Familie des Erzählers tabu. Diese Erfahrung teilt der Protagonist sicher mit vielen anderen Menschen. Insofern könnte der flagrante Narzißmus, der das Buch prägt, durchaus etwas Exemplarisches haben.

    Doch als «eine Gebrauchsanweisung der Liebe», wie der Slogan des Verlags recht apothekenhaft verkündet, kann man dieses nette und harmlose Debüt allenfalls dann verwenden, wenn man es als Sinn und Zweck der Liebe ansieht, alle Leidenschaft strikt zu vermeiden. Vielleicht sollte man dann allerdings nicht mehr von Liebe sprechen, sondern von einer Zweckgemeinschaft zur wechselseitigen Steigerung des Wohlbefindens.