Erneuerer der Literatur

Von der Suche nach einem höheren Sein

Von Peter B. Schumann · 26.08.2014
Zwei Länder prägten Julio Cortázar, der die lateinamerikanische Literatur nachhaltig verändert hat: Argentinien, wo er die ersten Jahrzehnte verbracht, und Frankreich, wo er die längste Zeit gelebt und seine wichtigsten Werke geschrieben hat.
Er liebte den Jazz, dieser Argentinier, der in Brüssel geboren und in Buenos Aires groß geworden ist, der in Paris fast die Hälfte seines Lebens verbracht hat und dort als französischer Staatsbürger auch begraben liegt. Zusammen mit Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa bildete er das berühmte Schriftsteller-Quartett, das den Beginn des lateinamerikanischen Literatur-Booms der 60er-Jahre verkörperte. Er war mit allen Drei befreundet und blieb mit seinen literarischen Experimenten doch ein Einzelgänger, der wie kaum ein anderer die Erzähltradition radikal infrage stellte.
Auf die Welt gekommen ist der Argentinier vor hundert Jahren, am 26. August 1914, in Belgien, wo sein Vater Handelsattaché an der argentinischen Botschaft war.
"Ich bin in dem Moment geboren, als der Kaiser und seine Truppen begannen, Belgien zu erobern ... Meine Geburt war also eine geradezu kriegerische, und das Resultat ist einer der friedliebendsten Menschen des Planeten."
Schriftsteller, Tangotänzer und Songtexter
So äußerte sich Julio Cortázar einmal im spanischen Fernsehen. 1918 kehrte die Familie nach Buenos Aires zurück. Zum Entsetzen seiner Eltern, die den Tango und die Klassik liebten, faszinierte ihn schon früh der Jazz und vor allem dessen Freiheit der Improvisation, die seine Suche nach neuen sprachlichen Formen inspirierte. In seinem Meisterwerk Rayuela hat er ihm einige Kapitel gewidmet. Erst viel später begeisterte er sich für den Tango und schrieb sogar einige Liedtexte. Nach einem Studium der Romanistik lehrte er als Dozent an einer Universität in der Provinz französische Literatur. Als mit dem Peronismus die Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde, verließ er 1951 Argentinien und zog nach Paris.
"Ich habe mich nie als Exilant gefühlt, denn ich habe Argentinien aus freien Stücken verlassen, bin in Paris auch freiwillig geblieben und habe immer wieder Argentinien besucht, um Freunde zu sehen und meine große Freundin: die Stadt Buenos Aires. Städte sind wie Frauen, in die man sich unsterblich verliebt. Ich bin nur nicht besonders monogam, denn man kann gleichzeitig viele Städte lieben."
Mehrere seiner Erzählungen und Romane spielen in beiden Metropolen. Doch fast sein gesamtes Werk hat er in Paris auf Spanisch geschrieben. Dort hat in den 1950er Jahren der Existenzialismus seine Weltsicht beeindruckt und in den 60er-Jahren der Nouveau Roman seinen literarischen Erneuerungswillen geschärft. Kein anderer Schriftsteller Lateinamerikas hat einen solchen Spagat für sein Schaffen fruchtbar gemacht. Das beste Beispiel ist hierfür Rayuela. Das 600-seitige Werk kreist um einen Intellektuellen und dessen existenzielle Suche nach einem höheren, einem authentischen Dasein. Es besteht aus drei Teilen ohne durchgängige Handlung, den letzten Teil kann der Leser - nach der Empfehlung des Autors - "getrost beiseitelassen", und die 155 Kapitel soll er sich auch nicht kontinuierlich zu Gemüte führen, sondern nach Belieben hin und herspringen - wie einem Hüpfspiel.
"Ich wollte ein Buch schreiben, in dem der Leser verschiedene Optionen erhalten sollte, denn ich wollte aus einem passiven einen aktiven Leser machen. Und viele haben diese aktive Rolle angenommen. Ich bezeichne sie im Buch als meine Leser-Komplizen."
Kein politischer Schriftsteller
Julio Cortázar war kein politischer Schriftsteller. Andere "Boom"-Autoren wie García Márquez, Fuentes und Vargas Llosa haben sich sehr viel eindeutiger und ausführlicher mit politischen Phänomenen in ihrer Literatur beschäftigt. In Album für Manuel versuchte er ein einziges Mal, ein politisches Thema - die Entführung eines US-amerikanischen Diplomaten - in einem Roman zu gestalten. Das Ergebnis befriedigte ihn nicht. Dennoch war Cortázar ein durchaus politischer Mensch. Unter dem Eindruck der Kubanischen Revolution solidarisierte er sich mit der kurzen Phase des demokratischen Sozialismus in Chile und später auch mit der Sandinistischen Revolution in Nicaragua. Immer wieder spendete er Preisgelder und Honorare zur Unterstützung politischer Häftlinge. Mehrfach nahm er am Russell-Tribunal über die Situation der Menschenrechte in Lateinamerika teil.
In allen Romanen und Erzählungen, bei all seinen ästhetischen Experimenten ging es ihm letztlich um den Menschen. In diesem Sinn war er ein Homo Politicus und eine einmalige Schriftsteller-Persönlichkeit in der lateinamerikanischen Literatur.
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