Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ernst Jünger: "In Stahlgewittern"
Empathie im Eispalast

Unzählige Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" ließen den Autor hinter dem Text irgendwann verschwinden. Der Germanist Helmuth Kiesel hat nun eine historisch-kritische Ausgabe des Klassikers der Kriegsliteratur vorgelegt, die die verschiedenen Versionen des Buches freilegt - mit überraschenden Erkenntnissen, selbst für pazifistische Leser.

Von Matthias Sträßner | 06.01.2014
    Schon als vor wenigen Jahren das originale Tagebuch Ernst Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg, von Helmuth Kiesel ediert, veröffentlicht wurde, konnte der Leser eine Ahnung davon bekommen, dass der zwanzigjährige Draufgänger und Abenteuer doch nicht so ganz ohne Anfechtungen gewesen bzw. geblieben sein konnte. Dass dem jungen Soldaten schon früh auch Zweifel an Materialschlacht und Massenmord gekommen sein müssen, konnte man zum Beispiel beim Eintrag vom 1. Dezember 1915 lesen:
    "Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben. Was soll dies Morden und immer wieder morden? Ich fürchte, es wird zuviel vernichtet und es bleiben zu wenig, um wieder aufzubauen. Vorm Kriege dachte ich wie mancher: nieder, zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser. Aber nun - es scheint mir, das (sic!) Kultur und alles Große langsam vom Kriege erstickt wird. Der Krieg hat in mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt." (Jünger, E. KTB 2010, 62 f)
    Umso gespannter durfte man jetzt auf eine neue Ausgabe von Jüngers Erstlingswerk "In Stahlgewittern" sein, die verspricht, alle Fassungen und die Entwicklung der Fassungen lesbar zu machen. Auch diese Ausgabe wurde wieder von Helmuth Kiesel ediert.
    Urworte einer militärischen Grammatik
    Dafür liebten ihn seine Leser: kein Graben in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, zu dem nicht die Lerche trillerte [1], kein Stellungskampf ohne die "spukhafte Blässe des Vollmonds" [2], kein Unterstand ohne "pfeifende Rattenscharen, die ihr unheimliches Wesen treiben“ und kein Projektil, dessen Aufschlag und Tonhöhe nicht den Koloraturen eines Kanarienvogels vergleichbar im Konzert des Krieges musikalisch begutachtet wird [3].
    Wenn man ein rechter Kerl ist, dann ist Krieg süffig wie Champagner, womit auch schon der Ort verraten ist, an welchem wir uns befinden: in der Champagne. Hier steigern sich von 1914 an die Farben des Blechnapfs zu einer furchtbar-herrlichen Synästhesie, und Begriffe wie "Posten", "Graben", "Bewegung", "Stellung" werden zu Urworten einer militärischen Grammatik.
    Im Interesse der Großindustrie? Ein deutscher Soldat wirft eine Handgranate (unbekannter Fotograf)
    Jüngers Text macht Begriffe wie "Posten", "Graben", "Bewegung", "Stellung" zu Urworten einer militärischen Grammatik. (AP)
    Wir reden von Ernst Jünger und von seinem "Erstlingswerk" "In Stahlgewittern". Da zog wohl einer aus, das Fürchten zu lernen. Als Ernst Jünger zum "Füsilier-Regiment Nr.73" stößt, dessen Regimentsangehörige auf dem rechten Ärmel ein hellblaues Band mit der Inschrift "Gibraltar" tragen dürfen, das auf die besondere Einsatzgeschichte dieses Bataillons bis zu Napoleons Zeiten verweist, hat dieses Regiment schon einige schwere und verlustreiche Einsätze hinter sich, so u.a. bei Perthes, einem Dorf nicht unweit von Reims. Nur zu gern wäre der zwanzigjährige Soldat schon in Perthes dabei gewesen:
    "Ich beneidete nämlich die alten >Löwen von Perthes< um ihre Erlebnisse im>Hexenkessel<. … Zuweilen fragte ich Kohl, der daran teilgenommen hatte:
    >Du, ist es jetzt wie bei Perthes?<< /div>
    Zu meiner Enttäuschung antwortete er jedesmals mit einer lässigen Handbewegung:
    >Noch lange nicht!<< /div>
    Als nun der Beschuß sich so verdichtete, daß unsere Lehmbank unter dem Bersten der schwarzen Ungetüme zu schaukeln begann, brüllte ich ihm wieder ins Ohr:
    >Du, ist es jetzt wie bei Perthes?<< /div>
    Kohl war ein sehr gewissenhafter Soldat. Er stand zunächst auf, sah sich prüfend im Kreise um und brüllte dann zu meiner Befriedigung zurück:
    >Jetzt kanns bald hinkommen!<< /div>
    Diese Antwort erfüllte mich mit einer närrischen Freude, bestätigte sie mir doch mein erstes wirkliches Gefecht." [4]
    Das Spiel der Fassungen
    Wer sich als Leser Ernst Jüngers noch nicht durch den Wust der Sekundärliteratur gefressen hat, wer also orientierungswillig aber einigermaßen naiv dieses Zitat im Ersten Band der auch heute noch maßgeblichen Gesamtausgabe, der „Sämtlichen Werke“ Band 1, Seite 34 liest, mag glauben, er habe den authentischen Jünger-Sound von 1920 vor sich. Denn diese Ausgabe aus dem Jahr 1978 ist als „Erstausgabe“ bezeichnet, was jetzt im Rückblick erst recht als ein Akt vorsätzlicher Irreführung bezeichnet werden muss. Denn statt der ersten hat der Leser die Fassung letzter Hand vor sich, also die 7. Fassung, und Ernst Jünger sah sich schon zu Lebzeiten mit dem Vorwurf konfrontiert, er wolle die Leser täuschen und ihnen weismachen, die humanistischeren Fassungen von 1961 bzw. 1978 seien mit der martialischen Erstfassung von 1920 identisch.
    Dieses Spiel mit den Fassungen ging selbst Freunden und Vertrauten schließlich zu weit: als der eigene Sekretär, Armin Mohler, seinem Dienstherrn vorwarf, seine Schriften über den Ersten Weltkrieg vorsätzlich zu enthistorisieren und zu entheroisieren, um sich dem Zeitgeist anzupassen, erklärte Jünger seine Überarbeitungswut kurzum zum Prinzip. Jüngers Kernsatz:
    "Es gibt nur Fassungen – der Stein der Weisen bleibt unsichtbar."[5]
    Diese "Poetik der Fassungen", wie es Steffen Martus einmal genannt hat, wird aber jetzt sichtbar, sie wird transparent und in ihrem ganzen Umfang ausgebreitet. Es ist eine imponierende Arbeit, die mit der Neuausgabe von "In Stahlgewittern", die der Heidelberger Professor Helmuth Kiesel bei Klett-Cotta vorgelegt hat, geleistet worden ist.
    Was sich immerfort authentisch gibt, und wo fortwährend das Authentische künstlerisch gesteigert und damit aufgehoben wird, kann jetzt aufgelöst und zugeordnet werden. So in unserem Beispiel vom zitierten Märchen von Jünger, der auszog das Fürchten zu lernen. Dieses ist erst 1934 nachträglich in den Text gekommen, also just in die vierte Fassung, die in einer Gesamtbetrachtung als "mittig" zu gelten hat. Im doppelten Sinne: als vierte der sieben Fassungen steht sie in der Mitte, und sie ist nach dem Urteil von Wojciech Kunicki, dem Kiesel hier folgt, auch „in ihrer Unbefangenheit des Authentischen … wohl die beste". (vgl. HKA II ,118)
    Der Verlag hat mit dieser Ausgabe einen wichtigen Schritt gemacht vom Erfüllungsgehilfen seines in unzähligen Fassungen unfassbar gewordenen Autors zur Herberge echter textdokumentarischer Arbeit. Denn sieben Fassungen auf 26 Auflagen verteilt, über 400 im Laufe der Zeit veränderte Seiten, und das in einer fast 60-jährigen Textgeschichte - das ist ein Verwirrspiel sondergleichen, das mit der Gefahr verbunden war, dass das Werk Ernst Jüngers letztlich nur noch für Experten sinnvoll lesbar ist.
    Jetzt bekommt der Leser einen Paralleldruck: links die Erstausgabe und rechts die Fassung letzter Hand, und die dazwischen liegenden Fassungen werden, farblich abgestuft, als Einfügungen und als textgeschichtlicher Apparat präsentiert. Jetzt sind werkgeschichtliche Wertungen möglich und der Leser wird dem Herausgeber wohl folgen, wenn er sagt, dass es dem Abenteurer Jünger 1920 noch nicht so sehr darauf ankam,
    "zu sagen, wofür er gekämpft hatte, als vielmehr darauf, zu zeigen, wie er gekämpft hatte."[6]
    "… Jüngers Motivation, in den Krieg zu gehen, war nicht politischer oder gar nationalistischer, sondern durchaus egoistischer Natur, ein Resultat adoleszenten Erfahrungshungers."[7]
    Dieses spätpubertäre Draufgängertum kultiviert zunächst eine Lockerheit im Umgang mit Krieg und Tod, und der Leser ist eher befremdet, wenn sich Jünger aus Fingerknochen Zigarettenspitzen schnitzt[8]. Jünger will im Krieg und in der kriegerischen Auseinandersetzung einen elementaren Vorgang sehen, der zur Natur des Menschen gehört, der deswegen berechtigterweise außerhalb der ethischen Normen liegt, und der trotz seiner Zerstörungsmacht ein unersetzliches "produktives Potential" aufzuweisen hat[9].
    Der Leser muss dementsprechend lange warten, bis er aus dem Mund Ernst Jüngers das Wort "Scheißkrieg"[10] hört. Aber immerhin es kommt.
    Wie überhaupt ein pazifistischer Leser nach der Lektüre dieser neuen Ausgabe und einem völlig neuen Überblick über den Umgang Ernst Jüngers mit seinen eigenen Texten mit der Gewissheit nach Hause gehen kann, dass auch ein Ernst Jünger eine gehörige Portion Wärme und Empathie aufwenden musste, um diesen Eispalast dionysischer Kälte und ostentativer Ungerührtheit in die Schaufenster der nachfolgenden Jahrzehnte zu stellen.
    Ernst Jünger: "In Stahlgewittern", herausgegeben von Helmuth Kiesel. Klett-Cotta 2013, 24,95 Euro.
    <hr align="left" size="1" width="33%"></hr>[1] Jünger, E.: SW 1,47.[2] Jünger, E.: SW 1, 51 und 57. [3] Jünger, E. KTB 77.[4] Jünger, E.: SW 1, 34f bzw. Jünger, E. In Stahlgewittern HKA I 2013, 77.[5] Kiesel 2013 Einleitung HKA II, 117.[6] Kiesel 2013 Einleitung HKA II, 11.[7] Kiesel 2013 Einleitung HKA II, 42.[8] Jünger KTB 51 = 17.X.1915[9] Kiesel 2013 Einleitung HKA II, 85.[10] Jünger KTB 258