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Ernst Troeltsch und der liberale Protestantismus
Die Forderung einer religionsgeschichtlichen Theologie

Ernst Troeltsch (1865-1923), der vor 150 Jahren geboren wurde, gehört zu den bedeutendsten evangelischen Theologen des Kulturprotestantismus im 19. Jahrhundert. Als Mitbegründer der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule setzte er sich mit gleichgesinnten Wissenschaftlern dafür ein, die Theologie mit religionsgeschichtlichen Methoden zu einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft umzuformen.

Von Alexander Grau | 23.09.2015
    Marktplatz Eisenach mit Georgenkirche und Georgenbrunnen
    In Eisenach betrat der junge Theologe Ernst Troeltsch die akademische Bühne. (imago/INSADCO)
    "Meine Herren, es wackelt alles!"
    Mit diesen dramatischen Worten, gesprochen 1896 auf der Versammlung der "Freunde der Christlichen Welt" in Eisenach, betrat nach dem Bericht seines späteren Schülers und Biographen Walther Köhler der junge Theologe Ernst Troeltsch die akademische Bühne.
    Die "Freunde der Christlichen Welt" waren ein loser Zusammenschluss vor allem liberaler Theologen um die Zeitschrift "Die Christliche Welt", dem wichtigsten Organ des Kulturprotestantismus im deutschen Kaiserreich. Seit 1892 traf man sich einmal im Jahr in der Regel in Eisenach. In eine hier existierende Atmosphäre bürgerlich-protestantische Selbstgewissheit fährt Ernst Troeltschs Verdikt wie ein Blitz. Köhler berichtet weiter.
    "Und nun legt er los und entwirft in großen, festen Zügen ein Situationsbild, das sein Urteil bestätigen sollte. Zum Entsetzen der Alten; als ihr Sprecher redet Ferdinand Kattenbusch von einer 'schofelen Theologie', worauf Troeltsch die Versammlung verlässt und knallend die Türe hinter sich zuwirft. Wir Jungen aber horchten auf."
    Ernst Troeltsch war zu diesem Zeitpunkt schon kein Unbekannter mehr. Zwei Jahre zuvor, mit nur 29 Jahren, war der im Februar 1865 als Sohn eines Arztes in Haunstetten bei Augsburg geborene Wissenschaftler zum ordentlichen Professor für Systematische Theologie an die Universität Heidelberg berufen worden. Die dortige Fakultät urteilte über den jungen Wissenschaftler:
    "Gelehrsamkeit, Klarheit des Urteils, Unbefangenheit des Standpunkts, feines Verständnis für die religiösen Erscheinungen und Personen der Vergangenheit sowie für die systematischen Bedürfnisse der Gegenwart zeichnen seine Arbeit aus."
    Seine Jugend beschreibt Troeltsch später als einen reichen und vielschichtigen Bildungsweg. Er wurde vor allem geprägt durch das naturwissenschaftlich orientierte Elternhaus und das traditionsreiche humanistische Augsburger Gymnasium bei St. Anna. In einem Rückblick schreibt er:
    "So kam es, dass ich von Anfang an alle historisch-kulturphilosophischen Probleme im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes sehen lernte und die Ineinander-Fassung beider Welten als ein brennendes theoretisches und praktisches Problem zugleich empfand."
    Ganz in diesem Sinne hält er am 6. August 1883 auf der Abschlussfeier seines Gymnasiums die Absolventenrede. Im pathetischen Stil der Zeit mahnt der Abiturient:
    "Nur wer die positiven Grundsätze der Religion zum Führer durch die Welt der Gedanken nimmt, bleibt bewahrt vor einem Abweg, und wiederum nur wer die klassische Lebenswelt kennt, kann das höchste, was es gibt, auf dem höchsten Weg erreichen: Die Wahrheit durch Forschen."
    Studium der evangelischen Theologie
    Welches Fach er selbst einmal studieren möchte, ist ihm zu diesem Zeitpunkt allerdings alles andere als klar. Eine Zeit lang schwankt er zwischen einem Studium der Rechtswissenschaften und der klassischen Philologie. Sein Vater sähe ihn gerne im Medizinstudium. Etwas Bedenkzeit verschafft Troeltsch der Militärdienst, den er als Einjährig-Freiwilliger bei einem Augsburger Artillerie-Regiment leistet.
    1884 beginnt er schließlich ein Studium der evangelischen Theologie an der damals konservativ-lutherisch geprägten Fakultät in Erlangen. Für das Studium der Theologie entscheidet er sich vor allem aus wissenschaftlichen Gründen. Es ermöglicht ihm sowohl einen Zugang zu Fragen der Metaphysik als auch zu historischen Themen. Rückschauend notiert er:
    "Ich habe die der Theologie gewidmeten Jahre nie bedauert. Ganz im Gegenteil. Die Theologie war damals als historische Theologie eine der interessantesten, spannendsten und revolutionärsten Wissenschaften."
    Genau diese Form historisch orientierter Theologie findet Troeltsch in Erlangen jedoch nicht. So wechselt er nach zwei Semestern an die Universität Berlin. Hier lehrt Julius Kaftan, ein Schüler des berühmten Kirchenhistorikers Albrecht Ritschl. Zudem hört er Kunstgeschichte bei Ernst Curtius oder physische Anthropologie bei Emil du Bois-Reymond. Vor allem aber fasziniert ihn Berlin. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Bousset gibt er eine recht aktuell anmutende Beschreibung der damaligen Hauptstadt des Kaiserreiches:
    "Berlin ist meiner Ansicht nach keine schöne Stadt, aber eine Stadt mit schönen Bauwerken. In den zum Teil hässlichen oder doch sehr gewöhnlichen Häuserreihen erheben sich bisweilen großartige Paläste in allen Stilarten, an denen das aufgeregte Treiben der Weltstadt meist gleichgültig vorüberrauscht. Berlin hatte das Unglück zur Zeit des schlechtesten Geschmacks zu entstehen und hat nun groß Mühe, sein 'changement de toilette' in gleichem Schritt mit seinem Wachstum zu halten."
    Doch auch in Berlin hält es den jungen Theologiestudenten nur ein Jahr. Dann wechselt er an die Universität Göttingen. Die evangelische Fakultät der traditionsreichen Hochschule gilt zu dieser Zeit als Zentrum moderner liberaler Theologie. Hier lehrt der schon erwähnte Kirchen- und Dogmenhistoriker Albrecht Ritschl, der prominenteste Vertreter des so genannten Kulturprotestantismus. Dazu der Marburger Theologe Friedemann Voigt:
    "Es war vor allem die Gestalt Albrecht Ritschls, die Troeltsch nach Göttingen zog. Ritschls Bemühungen um den Erweis der Selbständigkeit der Religion, die er mit Offenheit gegenüber der Philosophie vertrat, zog damals eine ganze Generation junger Theologen in Bann."
    Theologie soll zu einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft umgeformt werden
    Ritschl betonte im Geiste Immanuel Kants das praktisch bürgerliche Ethos der christlichen Lehre. Das Reich Gottes wird von ihm ganz diesseitig interpretiert, als Realisierung bürgerlicher Pflichterfüllung im Beruf, in der Familie und der Gesellschaft. Damit wurde Ritschl zur Leitfigur damaliger zeitgemäßer Theologie, auch weil seine Lehre dem Selbstverständnis des protestantischen Bürgertums entsprach.
    Wichtiger als seine akademischen Lehrer wird für Ernst Troeltsch in Göttingen jedoch ein Kreis gleichgesinnter junger Wissenschaftler, die die Theologie mittels religionshistorischer Methoden zu einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft umzuformen versuchen. Friedemann Voigt:
    "Zu dieser Gruppe gehörten neben Troeltsch und Wilhelm Bousset auch die Alttestamentler Hermann Gunkel und Alfred Rahlfs sowie die Neutestamentler Johannes Weiß und William Wrede. Von diesem lockeren Zusammenschluss jüngerer Wissenschaftler wurde bald respektvoll als der 'Kleinen Göttinger Fakultät' gesprochen, später galt dieser Kreis als die Wiege der 'Religionshistorischen Schule' und Troeltsch als deren Systematiker."
    Nach Abschluss seines theologischen Examens geht Ernst Troeltsch 1888 für ein Jahr als Vikar an die St. Markus Kirche in München. Im Februar 1891 wird er dann mit seiner Arbeit über "Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Philipp Melanchton" promoviert und zugleich habilitiert. Seine Promotionsthesen zeigen ihn als pointierten Vertreter religionshistorischer Systematik. So lautet seine erste These:
    "Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir kennen."
    Er fordert hier nichts anderes als eine methodische Neuorientierung der Theologie. Indem er sie zu einer religionsgeschichtlichen Disziplin erklärt, erteilt er der traditionellen spekulativen Methodik eine harsche Absage. Sein Ziel ist eine Theologie, die vor den wissenschaftlichen Rationalitäts-Standards der Moderne bestehen kann.
    Der Konflikt mit seinem Lehrer Albrecht Ritschl
    Mit dieser radikalen Neuausrichtung der Theologie bringt sich der junge Wissenschaftler in Konflikt mit der Ritschl-Schule. Ritschl und seine Schüler verstanden sich zwar ebenfalls als historisch arbeitende Theologen, allerdings gingen sie in ihren Arbeiten immer von einem unhistorischen, zeitlosen Kern der christlichen Lehre aus. Diese Gewissheit stellt Troeltsch in Frage. Der Theologe Friedemann Voigt:
    "Troeltschs Forderung nach einer Umbildung der Theologie im Zusammenhang des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins wurde zunächst als Kritik an der Theologie seines Lehrers Albrecht Ritschl wahrgenommen. Dieser betrieb Theologie vom spezifischen Standpunkt der mit Gott versöhnten christlichen Gemeinde. Das Christentum und seine Lehre seien nur zu verstehen, wenn sie aus dem Christentum selbst heraus begriffen würden. Troeltschs Ansatz war dem diametral entgegengesetzt."
    Für Ritschl und seine Schüler war die historische Methode ein Mittel, um zu dem wahren, dem zeitlosen Kern des Christentums vorzudringen. Die christliche Kernbotschaft sollte so von ihrem historischen und zeitbedingten Ballast befreit werden. Für Troeltsch jedoch war die Trennung in einen zeitlosen Kern und eine zeitbedingte Hülle nicht haltbar.
    Ritschls Methodik war für ihn nicht historisch genug, sondern blieb rein theologisch. Ritschl, so sein Vorwurf, betreibe Religionsgeschichte auf dem Boden christlicher Dogmatik und lege sich damit die Geschichte des Christentums so zurecht, dass sie in sein theologisches Weltbild passe. Dazu der Theologe und Troeltsch-Herausgeber Friedrich-Wilhelm Graf:
    "Die Bestimmung der Theologie als einer 'religionsgeschichtlichen Disziplin' zielt auf ein Verfahren zur Beschreibung des spezifisch Christlichen, das nicht durch dogmatische Vorentscheidungen konstituiert wird. Im Unterschied zu Ritschl soll die Eigentümlichkeit des Christentums nicht dogmatisch normativ produziert, sondern gleichsam durch empirische Analyse gegebener Religion erzeugt werden."
    Der Bruch zwischen den älteren Schülern Ritschls und der jungen Theologengeneration um Troeltsch, der hier zum Ausdruck kommt, verfestigte sich in den folgenden Jahren. Namentlich der Gießener systematische Theologe Ferdinand Kattenbusch entwickelt sich zu einem seiner schärfsten Kritiker. Hatte Kattenbusch 1896 in Eisenach auf die lakonische Bemerkung von Ernst Troeltsch "Es wackelt alles" noch launig regiert, wie der Kongressbericht bemerkt, so attackiert er nun scharf dessen Versuch, die Theologie an die allgemeine wissenschaftliche Entwicklung anzupassen. Kattenbusch:
    "Wir glauben nicht, dass es das Richtige ist, uns einfach von der 'Zeit' und der allgemeinen Wissenschaft sagen zu lassen, wie man das Christentum zu behandeln habe, von ihr uns mitteilen zu lassen, was vom Christentum sie brauchen 'könne', unter welchen Formen sie es anerkennen 'wolle'."
    Auch heute noch würden manche Kattenbusch zustimmen. Nach wie vor sind viele Gläubige wie Ungläubige davon überzeugt, dass wissenschaftliche Methodik, historische Forschung und Religiosität nicht zusammenpassen.
    Hier widerspricht Ernst Troeltsch energisch. Am 3. Oktober 1901 fasst er seine Gedanken in einem Vortrag vor einer Versammlung der Freunde der "Christlichen Welt" zusammen. Sein Titel: "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte". Es sollte ein theologischer Paukenschlag werden.