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Ernst Troeltsch und die Religionsgeschichtliche Schule

Ernst Troeltsch (1865 – 1923), evangelischer Theologe und Kulturphilosoph, gibt als der Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule, deren Vertreter für einen konsequenten Historismus in der theologischen Forschung eintraten. Troeltsch setzte sich dafür ein, die Substanz des Christentums zu bewahren, um sie mit der intellektuellen Form der Moderne zu versöhnen.

Theologieprofessor Matthias Kroeger im Gespräch Rüdiger Achenbach | 24.01.2013
    Rüdiger Achenbach: Wir haben den konstruktiven theologischen Historismus angesprochen. Das ist ja das Anliegen, was Harnack hat.

    Matthias Kroeger: Das ist die Einsicht der ganzen Generation. Es gibt nichts, was der geschichtlichen Entwicklung entzogen wäre. Wir müssen lernen, alles als geschichtlich und nicht als heiliges Konstrukt, welches der Kritik entnommen wäre, zu sehen.

    Achenbach: Es gibt ja damals im Protestantismus auch eine Richtung, die man dann im Nachhinein die Religionsgeschichtliche Schule genannt hat. Das heißt also, Theologen, die nun wirklich mit der Forderung auftreten, dass sie sagen: konsequente Historisierung der akademischen Theologie.

    Kroeger: Ja, also, die stammten aus demselben Stall wie Harnack selber, nämlich von Albrecht Ritschl. Und das hing damit zusammen, dass sie alle im Wesentlichen Forscher in den biblischen Wissenschaften waren.

    Achenbach: Die Exegeten.

    Kroeger: Die Exegeten. Und die haben langsam kapiert, was neu war damals, dass man das Neue Testament ohne seine sogenannte hellenistische Umwelt nicht begreifen kann. Was haben die Menschen damals gedacht? Welche Kategorien waren in der religiösen Umwelt im Gange und im Schwange? Und deswegen haben sich die Christen in der Sprache ihrer Umwelt ausgedrückt. So mussten die auf einmal hellenistische Quellen und Texte studieren, um das Neue Testament begreiflich machen zu können. Oder dasselbe für das Alte Testament: Das musste man auf ägyptische und natürlich babylonische oder auch auf persische Quellen zurückgehen, um die alttestamentliche Geschichte rekonstruieren zu können. Wie ist es zu diesen ganzen theologischen Aussagen und Entwicklungen gekommen? Das ging nur mit der Umwelt. Und das war ein Riesenschock in den Gehirnen dieser Generation damals, dass man das Alte und Neue Testament nicht ohne seine Umwelt begreifen kann. Und dass deswegen das Christentum unmöglich – so hat es derjenige, der diese Sachen am intensivsten bedacht hat, Ernst Troeltsch – die einzige Religion oder die einzige wahre Religion, sondern dass sie ein Teil, ein Element in einem ganzen Kranz von Religionen ist. Deswegen hat man sie die Religionsgeschichtliche Schule genannt.

    Achenbach: Sie haben gerade den Namen Ernst Troeltsch genannt. Ernst Troeltsch ist ja auch derjenige, der insofern an Schleiermacher anknüpft, dass er das sogenannte religiöse Apriori formuliert. Das heißt also, dass der Mensch in sich eine Anlage hat, durch die er Religion aufnehmen kann.

    Kroeger: Es war die Aufgabe, wenn man auf einmal sagt, das Christentum und die Lehre Jesu sind nicht die einzige Religion auf der Welt. Wonach soll ich mich denn richten? Wie soll ich mich denn orientieren? Und die Antwort heißt bei Troeltsch in der Tat wie bei Schleiermacher: Jeder Mensch hat eine religiöse Komponente oder Wurzel oder ein Element oder ein Apriori in sich. Und damit muss er auf die Suche gehen. Und er kommt in seiner berühmten Schrift von 1902 über die Absolutheit des Christentums zu dem durchaus neuen Ergebnis: das Christentum ist nicht die absolute Religion, aber – da sieht man, dass ein Zögern da noch drin hängt – am Schluss heißt es dann eben doch, sie hat gewisse absolute Züge, die sie in der Menschheitsgeschichte unüberwindbar machen. Also er geht nicht völlig in die Relativität über, aber er sagt, absolute Religion kann sie nicht mehr sein. Und deswegen ist Troeltsch einer der wichtigsten Leute, die den Menschen damals, zum Bewusstsein gebracht haben, worum geht es, wenn man sich klar macht in der Konsequenz, dass das Christentum nicht die einzige Religion ist. Dies Ängste, die da entstehen, die müssen erst einmal benannt werden, bewusst gemacht werden, die mussten abgearbeitet werden.

    Achenbach: Gegen den Absolutheitsanspruch.

    Kroeger: Gegen das eigene Absolutheitsbewusstsein auch. Wir waren doch geborgen in dieser Gewissheit, es ist die Religion und das gültige Wissen von Gott. Und auf einmal wissen wir, nein, es gab auch andere Wege. Das ist eine Grundvoraussetzung, die damals von diesen Leuten und speziell von Ernst Troeltsch formuliert worden ist. Das ist der Sachverhalt, den er zu Bewusstsein gebracht hat. Wir sind in einem radikalen Fundamentalumbau begriffen, weil wir nicht mehr die absolute Religion sind. Was aber dann? Und das ist die eröffnete Frage, die bis heute bearbeitet wird.

    Achenbach: Das Christentum hat für ihn ja eine ganz besondere Relevanz, vor allem für die Moderne. Das heißt also, er sieht im Christentum so etwas wie eine Grundlage zur Gestaltung einer humanen Individualkultur.

    Kroeger: Damit berühren Sie einen weiteren Gesichtspunkt, denn Troeltsch hat sich nicht nur diesen Strudeln der Religionsgeschichtlichen Schule und des Gedankens, dass das Christentum nicht die einzige gültige Religion ist, ausgesetzt, sondern er hat sich auch diese sozusagen kulturelle Synthese, wie hält das Christentum eigentlich eng zusammen mit der kulturellen Welt der Moderne. Da hat er wieder Gesprächspartner gehabt, philosophisch Neukantianer, soziologisch Max Weber, mit dem er in einem Hause gelebt hat. Er hatte Gesprächspartner, um sich dieser Frage zu stellen: Was ist denn in der modernen Welt das Christentum? Und das Christentum ist, sagt er, das ist so seine vorletzte Antwort, er hat in den allerletzten Texten noch einmal, weil er dauernd unterwegs war mit diesen Fragen, eine letzte Antwort probiert. Die kann man verschieden einschätzen. Aber die Hauptantwort lautete: Sie ist in der Tat die Kultur, die das Ethische, das Religiöse und den Persönlichkeitsbegriff in Geltung gesetzt hat, mehr als zum Beispiel eine auf das Satori aufgehende asiatische Religion, die das Vergehen der Person als Aussicht ansieht. Er sagt, das Christentum ist die Kultivierung der Person schlechthin in ethischer und religiöser Hinsicht. Und deswegen ist sie in der Lage, die gegenwärtigen Strudel der Relativismen auszuhalten und zu bestehen.

    Achenbach: Also hilft zur Freiheit gegen die Zwänge der Gesellschaft.


    Kroeger: Ohne sich zu verabsolutieren. Und die Frage ist: Geht das? Und er hatte 1902 die Antwort gegeben: Es gibt keine absolute Religion, aber das Christentum hat etliche Züge. Am Schluss in seiner allerletzten Rede, die er zu dieser Frage – er ist schon 1923 relativ früh gestorben – hat er die Antwort gegeben: Wahrscheinlich haben mehrere Religionen gleichzeitig das Bewusstsein, absolute Religionen zu sein. Und das müssen wir aushalten, dass nebeneinander verschiedene Religionen stehen, die das Bewusstsein haben selbst absolut zu sein. Das ist auch eine Form der Relativierung – ohne sich zu verabschieden von der Verabsolutierung.

    Achenbach: Er hat es ja Polymorphie der Wahrheit genannt, glaube ich in diesen Zusammenhang.

    Kroeger: Die Wahrheit ist mehrgesichtig.

    Achenbach: Und wir haben unsere Grenzen im Wirklichkeitsverständnis, weil wir den anderen vielleicht in seiner anderen Kultur gar nicht wirklich nachvollziehen können. Das heißt, hier kommt es darauf an, dass wir selbst für uns – das ist seine Formulierung – eine kritische theologische reflektierte Selbstbegrenzung anerkennen.

    Kroeger: Und das ist umso bemerkenswerter, dass Troeltsch das damals gedacht hat, in einer Situation, die ihm eigentlich religionsgeschichtlich noch gar nicht abverlangt war. Denn wirkliche interreligiöse Kontexte waren uns damals gar nicht vorgegeben oder auferlegt. Heute sind asiatische und islamische Themen völlig selbstverständlich. Das waren sie damals nicht. Und trotzdem hat Troeltsch diese Gedanken damals bereits kapiert. Allerdings – manche sagen – etwas abstrakt formuliert. Aber es konnte auch nicht anders sein.

    Achenbach: Aber man könnte ja, wenn man sich genau anschaut, was er schon im Einzelnen vorgedacht hat, sagen, an Troeltsch könnte man heute durchaus anknüpfen – in unserer heutigen Gesellschaft.

    Kroeger: Muss allerdings dann weitermachen. Aber Troeltsch ist in der Tat ein ganz großer Taktgeber und Kompassgeber, wohin unsere Arbeit gehen muss. Auch wenn manches unbefriedigt bleibt, wie an vielen Sachen, die wir bisher gesagt haben, gibt es viel zu kritisieren. Aber sie bleiben trotzdem wunderbare vorgreifende Denker, die uns Wege zeigen und bereichernde Perspektiven haben.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Alle Teile der Gesprächsreihe zu Stationen des liberalen Protestantismus zum Nachlesen:

    Teil 1: Gotthold Ephraim Lessing und die Theologie der Aufklärung
    Teil 2: Schleiermacher und der Beginn der liberalen Theologie im Protestantismus
    Teil 3: Adolf von Harnack und die Kritik der kirchlichen Dogmen