Donnerstag, 28. März 2024

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Eröffnung misslungen

Das erste dezidiert katholische Stück des Schweizers Christoph Marthaler geriet zu einem Misserfolg. Viele Zuschauer verließen in Avignon vorzeitig den Papstpalast - trotz vielversprechendem Anfang.

Von Eberhard Spreng | 08.07.2010
    Ein alter Planwagen ist in dem gotischen Torbogen rechts der Bühne geparkt und ihm entsteigt ein hagerer Mann mit Blindenstock und knallroten Schuhen. "Follow me", sagt er zu einer zögerlichen Gruppe. Eine Welt wie am ersten Tag: Die Menschen kommen, die Erde zu bevölkern und ihr Hirte fordert sie auf, die Schönheit des Daseins zu bewundern. Nur dumm, dass dieser Reiseführer blind ist und dann auch noch vom Justizpalast in Brüssel spricht und nicht vom Ehrenhof in der Trutzburg der Gegenpäpste.

    Schöner könnte das erste dezidiert katholische Stück des Schweizers Christoph Marthaler kaum beginnen, Mensch und Raum so humorvoll in eine Schieflage bringen, Ding und Wort, Zeichen und Bezeichnung auf so verschiedenen Ebenen durcheinanderwirbeln. Aber genau das ist auch das große Problem dieses Abends: Er sucht sein Thema in einer Vielzahl von Zugängen. Da ist zum einen Anna Viebrock, die Schöpferin unvergleichlicher Daseinsbehältnisse, die zum ersten Mal eine Freiluftbühne einrichtet. Diverse abgenutzte Bodenbeläge ziehen sich über die große Spielfläche, sieben Sarkophage sind errichtet, eine große Waschmaschine, eine Coca-Cola-Kühltruhe, ein Beichtstuhl mit einigen Kirchenbänken. Nach Spaziergängen im Avignon außerhalb des noblen Kulturerbes hat die Bühnenbildnerin im billigen Sozialbau der 70er-Jahre Anregungen gefunden. Sie hat die Renaissancefensteröffnungen mit billigen Plastikfenstern ausgestattet und Klimaanlagen darunter gehängt. Natürlich ist das auch als mutwillige Profanierung und Verhunzung eines Raums zu verstehen, der im kollektiven Gedächtnis Avignons und seines Theaterpublikums als Nabel zum Theaterolymp gesehen wird, als ein heiliger Kultort höherer Einsichten. Und hier wird er runtergewirtschaftet zum Spaßort des niederen Katholizismus.

    Andächtig kniet man vor einem Beichtstuhl, aber aus dem stieben kreischend die Funken einer Schleifscheibe, und dann öffnet sich die Tür und offenbart an der Innenwand eine Kollektion von Nacktbildern. Plötzlich werden aus den geisterhaften Gestalten der Gruppe Männer und Frauen, die sich küssen und übereinander herfallen, bis wiederum ein religiöses Ritual die Geschlechter voneinander trennt. Die Männer legen sich auf den Sarkophagen zur Ruhe, bis aus einem Fenster hoch über der Bühne sieben Kleiderbündel herabfallen, die sich als päpstliche Gewänder entpuppen. Aber kaum sind sie angelegt, kaum haben diese Marthaler-Menschen den zeremoniellen Pomp erprobt, wird die religiöse Kleiderordnung schon als lebensfremd erkannt, wieder abgestreift und in die Waschmaschine verfrachtet. Beim nächsten Prozessionsversuch torkeln und stolpern die Gottsucher nur noch über die Bühne, beim letzten Abgang schließlich sind Krücken vonnöten.

    Natürlich hat Marthaler das Ensemble musikalisch fein auf den Raum abgestimmt, lässt seine Chöre wie immer in einem verhaltenen Piano singen und einen Konzertflügel hinter einem gotischen Durchbruch erklingen, so als könne es gegen jeden Schmutz, gegen jede Glaubensverhunzung, jedes "Papperlapapp", in dem die Sprache verstummt, eben doch die Welterlösung durch die Musik geben. Aber dann lässt er ein unendlich langes atonales Crescendo zu einem einzigen ohrenbetäubenden Schreien und Grollen anwachsen, so als wollte er jetzt, zumindest auf akustischer Ebene, den Papstpalast in Schutt und Asche legen. Der Kampf zwischen dem Raum und dem Regisseur ist nun für den Künstler verloren; er wehrt sich gegen das Diktat der Architektur mit einer verzweifelten künstlerischen Geste und einem Ton, der gar nicht zum Marthaler-Register zu gehören scheint.

    Das hat viele Zuschauer zur Abwanderung veranlasst. Sie verpassen noch ein paar kleine Paargeschichten, Gespräche zwischen den auf Sarkophagen dahindösenden Männern und den danebenstehenden Frauen: Geschichten über die Irrtümer der Päpste bis in die heutige Zeit. Eine Dame will einen Mann umarmen, der aber stürzt durch den Deckel des Sarkophags und später auch durchs Parkett des Bühnenbodens, worauf hin sie ihren Unterkörper in der Coca-Cola-Kühltruhe versenkt. Auf dieser Welt gehört der Sexus ins gekühlte Abseits. Endlich okkupieren die Frauen auch einmal die Sarkophage und entfalten zwischen den auf der Bühne verstreuten Gräbern, anders als zuvor die Männer, eine lebhafte Konversation – ein Leben ohne hehres Angedenken.

    Am Ende verlässt die verwirrte Reisegruppe nach einer etwas zu lang geratenen Glaubensdämmerung den Papstpalast als sieche, gebrochene Kreaturen. Für die etwas rätselhaften Metaphysik dieses Marthaler-Abends bleibt nur der Auszug aus einem Papstpalast, der sich dieses Mal als eine veritables Gefängnis entpuppt.