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Erös: Drei Viertel der Afghanen fordern einen sofortigen Abzug der NATO

Laut Reinhard Erös hat sich die öffentliche Sicherheit in Afghanistan in den zehn Jahren des Afghanistan-Einsatzes dramatisch verschlimmert. Unter der Zivilbevölkerung seien noch nie so viele Tote zu beklagen gewesen wie in diesem Jahr.

Reinhard Erös im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 16.11.2011
    Tobias Armbrüster: In Afghanistan treffen sich ab heute die Vertreter der wichtigsten Stämme des Landes, um über die weitere Zukunft Afghanistans zu beraten. Es ist die sogenannte Loja Dschirga. Viele Beobachter halten diese Zusammenkünfte nach wie vor für das eigentliche Macht- und Entscheidungszentrum des Landes, noch vor Parlament und Regierung. Am Telefon kann ich jetzt mit Reinhard Erös sprechen, er ist Arzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan und seit Jahrzehnten bestens mit den politischen Entscheidungsprozessen in Afghanistan vertraut. Schönen guten Morgen, Herr Erös.

    Reinhard Erös: Grüß Gott nach Köln!

    Armbrüster: Zunächst mal, Herr Erös: Was wir da heute bei dieser Loja Dschirga erleben, ist das gelebte Demokratie oder eher eine Art Diktatur der Stämme?

    Erös: Es ist ein Wiederaufleben einer nahezu tausend Jahre alten Tradition in diesem Land am Hindukusch, die heute – die letzten Jahre fand sie ja auch schon statt – mit einem sehr wichtigen Themenkomplex sich beschäftigt. Also es ist keine antidemokratische oder gar unafghanische Angelegenheit. Ich muss Ihre Moderatorin noch kurz korrigieren: Das Wort Loja Dschirga ist nicht nur Paschtu, es enthält beide Sprachen. Das Wort Loja, das ist Paschtu, bedeutet groß, und das Wort Dschirga, das ist Tadschikisch, das ist Farsi-Persisch, also es repräsentiert die anderen Sprachgruppen in Afghanistan und heißt Stamm. Also schon das Wort beinhaltet wir Afghanen, Paschtunen und die anderen Stämme gehören zusammen.

    Armbrüster: Schön, dass wir das auch klargestellt haben, man lernt da ja nie aus. – Kommen wir noch mal zurück auf die Zusammensetzung dieser Loja Dschirga. Frauen - haben die da etwas zu sagen?

    Erös: Nein. Die Loja Dschirga, das ist: Da kommen wir wieder zu dem Wort Demokratisch, was Sie vorhin erwähnt haben, und Parlament. Im Parlament sitzen Frauen, das ist gewählt worden, seit 2004 jetzt. Übrigens die Loja Dschirga hat die Entstehung eines Parlaments und die Entstehung auch der Verfassung – das haben Sie angesprochen – in die Wege geleitet. Die Loja Dschirga ist, ich wiederhole es, eine 1000 Jahre alte Tradition und bis vor wenigen Jahrzehnten, muss man sagen, bis in die 50er-, 60er-Jahre hinein, spielten in Afghanistan mit wenigen Ausnahmen im Norden und mit wenigen Ausnahmen bei den Nomaden, bei den Kuchis, die Frauen in der Politik, in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft außerhalb des Hauses, außerhalb des Dorfes keine Rolle, und dieses historische Bild – ich sage das mal wertfrei – repräsentiert auch und bildet auch ab die Loja Dschirga.

    Armbrüster: Wie kann man sich das vorstellen, wenn diese Stammesfürsten und Repräsentanten des Staates da zusammentreffen? Ist das ähnlich wie in einem Parlament, dass Leute einzeln aufstehen und kurze Reden halten?

    Erös: Wenn es kurze Reden sind, dann ist es immer schön. Die Afghanen, vor allen Dingen die Paschtunen sind gewohnt, lange Reden zu halten. Sie sprechen sehr gerne, auch sehr gut. Es ist übrigens sehr interessant, ihnen zuzuhören. Wenn man die Sprache Paschtu kann, dann ist das wirklich ein sprachliches, fast theaterhaftes Vergnügen, da zuzuhören. Nein, es darf da jeder sprechen. Das ist ja, sagen wir mal, das eigentlich Urdemokratische an der Dschirga und an der Shura, dass dort jeder sprechen kann, dass es keinen Fraktionszwang gibt, dass es kein oben und unten gibt. Die Afghanen bezeichnen das, wir sind alle Perlen unter Perlen - primus inter pares -, alle gleich. Und das Ergebnis der Gespräche ist dann oder läuft dann darauf hinaus, dass es hinterher eine Konsensentscheidung gibt. Das unterscheidet die Loja Dschirga auch von den klassischen Parlamenten oder den klassischen demokratischen Entscheidungsgremien. Es geht nicht darum, dass hinterher eine Mehrheit von 51 Prozent vielleicht über 49 dominiert, sondern in den afghanischen Ratsversammlungen - auf Dorfebene bis eben herauf auf die Landesebene - gilt das Konsensmodell. Es wird so lange ein Thema diskutiert, besprochen, von allen Seiten beleuchtet – deshalb darf auch jeder mitsprechen -, bis hinterher alle sagen, jawohl, jetzt haben wir die richtige Lösung gefunden.

    Armbrüster: Herr Erös, dann wollen wir mal kurz über Themen sprechen. Unter anderem soll es bei dieser Loja Dschirga, die heute beginnt, um die künftige Zusammenarbeit Afghanistans mit den USA gehen, vor allem um mögliche US-Stützpunkte, die auch nach dem Abzug der Truppen der USA im Land bleiben können. Gibt es in Afghanistan diese Bereitschaft, weiter fremde Truppen im Land zu akzeptieren?

    Erös: Ja, sie gibt es, und zwar in allererster Linie bei denjenigen Personen oder Bevölkerungsgruppen, die von der Anwesenheit der Ausländer insgesamt – und das betrifft natürlich vor allen Dingen das Militär; mit 140.000 Personen ist natürlich das Ausland insbesondere in Form des Militärs in Afghanistan repräsentiert – persönlich, aber auch finanziell profitieren. Insbesondere in den Augen derjenigen sollen die Amerikaner und die Ausländer noch möglichst lange da bleiben, die davon profitieren. Das sind vielleicht fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, die sich in den letzten zehn Jahren durch die Anwesenheit des Militärs, auch durch die der Hilfsorganisationen, aber vor allen Dingen durch die des Militärs so richtig die Taschen vollstecken konnten. Es gibt ja Zahlen, dass bis zu 50, 60 Prozent der Gelder, die der Westen nach Afghanistan gebracht hat – und das ist ja vorwiegend übers Militär, mit dem er das reinbringt: die ganzen Kontraktoren, die dort bezahlt werden müssen, die Logistik, die Sicherheit und so weiter, die man im Land von den Afghanen für die Armee benötigt -, die flossen in die Taschen privater Personen, Politiker wie auch immer. Also die haben ein großes Interesse daran, dass diese Geldquelle, dass diese Gelddruckmaschine, wenn man so will, durch die Ausländer in Afghanistan für sie weiterläuft.

    Armbrüster: Das heißt, die USA und ihre Verbündeten sorgen eigentlich gar nicht so sehr für Sicherheit, sondern eher dafür, dass das Geld ins Land fließt?

    Erös: Die sorgen für Unsicherheit. Das sage ich als jemand, der 35 Jahre Offizier der Bundeswehr war. Ich arbeite nun nicht im Bundeswehrgebiet in Afghanistan, da mag es vielleicht ein bisschen anders sein, das kann ich nicht so beurteilen. Es sind auch kaum Paschtunen im Norden, die kritische Masse in Afghanistan sind die Paschtunen, alle Taliban sind Paschtunen, die Masse der Aufständischen sind Paschtunen. Ich arbeite im Paschtunen-Gebiet Südostafghanistans, wo nur Amerikaner sind, und dort gelten bei praktisch allen, mit denen ich spreche, vom Dorfbürgermeister oder vom einfachen Bauern rauf bis zum, ich sage es mal so, Distrikt-, bis zum Regierungspräsidenten, würde man in Deutschland sagen, dort gelten die Ausländer gleich die Amerikaner als Besatzer, die raus müssen. Und die Umfragen erst der letzten Monate in Afghanistan, übrigens eine davon durch die Konrad-Adenauer-Stiftung – die ist ja nicht berühmt dafür, dass sie islamistische Thesen vertritt -, die Umfragen sagen deutlich, drei Viertel der afghanischen Bevölkerung insgesamt möchten, dass die Ausländer sofort abziehen, weil sie Besatzer sind. Und das gilt bei den Paschtunen-Stämmen im Süden des Landes, noch einmal, die die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren, die fast alle Aufständischen, vor allen Dingen die Taliban repräsentieren, ich würde sagen, bei über 90 Prozent. Das heißt, ohne den Abzug, physisch erkennbar, optisch erkennbar, der amerikanischen Truppen in Afghanistan, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben.

    Armbrüster: Das heißt, Sie sagen, wenn wir die Truppen jetzt möglichst bald abziehen aus Afghanistan, dann würden wir eigentlich keine nachlassende Sicherheit im Land erleben, dann würde das Land auch nicht zusammenbrechen, eigentlich würde sich überhaupt nichts bemerkbar machen bei der öffentlichen Sicherheit?

    Erös: Es kann ja in Sachen öffentliche Sicherheit gar nicht schlimmer kommen, als es jetzt ist. Ich sage das mal. Wenn Sie sich die Kurven anschauen, ...

    Armbrüster: Aber viele Politiker gerade hier in Deutschland sagen doch immer, wir haben gerade in den letzten zwei, drei Jahren auch durch unsere veränderte Strategie dort sehr viel erreicht.

    Erös: Ja nun, wir hatten im Jahr 2010, wenn wir mal das komplette letzte Jahr uns anschauen, 30 Prozent mehr tote NATO-Soldaten als im Jahr 2009, hatten wir 60 Prozent mehr NATO-Tote als im Jahr 2008. Bei der Zivilbevölkerung haben wir noch nie so viele Tote gehabt wie in diesem Jahr. Wir hatten letztes Jahr 346 bei Anschlägen ums Leben gekommene afghanische Kinder, 346, davon 200 durch die NATO. Also wie wollen sie das noch steigern? – Und auch die soziale, die humanitäre Situation im Land – da rede ich jetzt nicht von den 10, 15 Prozent der Privilegierten, vor allen Dingen in Kabul, sondern von der normalen Bevölkerung, den Bauern, den Bergbauern, den Nomaden und so weiter -, die soziale und humanitäre Situation für diese Bevölkerung, für die 80 Prozent, hat sich seit 2002 nicht verbessert. Der letzte Bericht von UNDP, United Nations Development Program, als einer, wenn Sie so wollen, objektiven Behörde, sagt eindeutig aus, dass sich etwa im Bereich der Krankenversorgung, im Bereich der Trinkwasserversorgung, im Bereich auch der schulischen Ausbildung die Situation in den letzten fünf, sechs Jahren ins Negative hin stabilisiert beziehungsweise ins Negative hin gesenkt hat. Also es ist nicht besser geworden, dadurch, dass wir die Anzahl der Truppen in den letzten vier, fünf Jahren in Afghanistan verdoppelt haben.

    Armbrüster: In Afghanistan beginnt heute eine weitere Loja Dschirga, die über die Zukunft des Landes beraten soll. Wir sprachen darüber mit Reinhard Erös, dem Gründer der Kinderhilfe Afghanistan. Besten Dank für das Gespräch, Herr Erös.

    Erös: Ich bedanke mich!

    Armbrüster: Auf Wiederhören nach Regensburg.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.