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Erotische Invasion der Wehrmacht

Patrick Buisson ist Journalist, Politologe und Berater von Frankreichs Präsident Sarkozy. Mit seinem Buch "1940-1945: Années érotiques: Vichy ou les infortunes de la vertu", übersetzt in etwa: "Erotische Jahre: Vichy oder die moralischen Verstrickungen" vertritt er die These, dass die deutschen Besatzungssoldaten die Katalysatoren für die sexuelle Befreiung im katholisch-konservativen Frankreich waren.

Von Cornelius Wüllenkemper | 21.07.2008
    Von der blühenden Zukunft Frankreichs, die der französische Chansonier Robert Jentait im Jahr 1942 besang, war unter der deutschen Besatzung nicht viel zu spüren. Zwei Jahre zuvor hatte die deutsche Armee die französischen Stellungen in den Ardennen überrannt. Die zahlenmäßig führende Militärmacht Europas kapitulierte angesichts der erdrückenden kämpferischen Überlegenheit der deutschen Truppen. Nach dem dritten Angriff in 70 Jahren regierte in Paris im Mai 1940 wieder die Angst vor den "boches". Allerdings zu unrecht, wie der französische Historiker Patrick Buisson behauptet. Die Soldaten der Wehrmacht entpuppten sich nämlich keineswegs als rücksichtlose Sieger und germanische Barbaren. Ganz im Gegenteil: Buisson spricht in seiner Studie "1940 - 1945 - Die erotischen Jahre" von der Faszination, die die deutschen Soldaten in Frankreich auslösten:

    "Der Begriff der französischen Männlichkeit ist auf der Flucht vor den deutschen Invasoren verloren gegangen. Eine handvoll deutscher Soldaten hatte einige Hundert Tausend französische Gefangene gemacht. Ganz ohne Zweifel war das auch ein erotischer Schock. Die nordische Körperkultur hob die französischen Moralvorstellungen gehörig aus den Angeln. Die Deutschen zeigten sich ständig mit bloßem Oberkörper, beim Waschen am Dorfbrunnen, oder beim Reinigen ihrer Waffen. In Frankreich nahm man damals vielleicht einmal pro Woche ein Bad - die Deutschen wuschen sich täglich. Die Körper der deutschen Soldaten haben in Frankreich für heillose Verwirrung gesorgt- schließlich waren sie groß, schön und gut gebaut."

    Das Geschichtsbild, das Buisson in seiner Studie über die erotischen Jahre unter deutscher Besatzung zeichnet, kennt keine Tabus. Hier ist von "müden Onanisten", vom "politischen und sexuellen KO der französischen Nation" die Rede. Die Propagandaplakate der "révolution nationale" dagegen, die die "Vergnügungssucht der Franzosen" brechen und der Nation ihre "Virilität" wiederbringen sollten, zeigten ausschließlich blonde, hochgewachsene Menschen. Die Schnittigkeit der deutschen Soldaten und der von den Nazis betriebene Körperkult habe das rückständige, altmodische Frankreich mit einer erotischen Welle überrollt, so Buisson. Die brachte nicht nur Dichter und Minister der Kollaborationsregierung ins Schwärmen, sondern erfasste auch und vor allem die französischen Frauen.

    "Zehntausende von französischen Frauen haben sich heimlich prostituiert. Das stand natürlich im krassen Widerspruch zu den Zielen der Kollaborationsregierung in Vichy. Die wollte zwar erreichen, dass die Frauen ihren gefangenen Männern treu blieben, hatte aber nicht die finanziellen Mittel dazu. Die deutschen Kommandanturen wurden so zum wichtigsten Arbeitgeber für französische Frauen. Aus der Kriegssituation entstand eine enorme Promiskuität, in der die Gelegenheitsprostitution ein Massenphänomen war. "

    Patrick Buissons Buch rief in Frankreich einen ähnlich Medienwirbel hervor wie Jonathan Littells preisgekrönter Roman "Die Wohlgesinnten" über einen homosexuellen SS-Offizier. Die skandalträchtige Ausstellung des Propaganda-Fotografen André Zucca in Paris, die Bilder von glücklich flanierenden Menschen in der besetzten Hauptstadt zeigte, hat alle Besucherrekorde geschlagen. Nationalsozialismus und Besatzung verbunden mit Sexualität stehen in Frankreich derzeit hoch im Kurs. Ist aus dem Mythos der Résistance nun eine ganz neue Wahrnehmung der eigenen Rolle unter deutscher Besatzung geworden? Von einem gewandelten Geschichtsbild kann nicht die Rede sein, meint Etienne Francois, Geschichtsprofessor an der Freien Universität Berlin. Buissons Thesen seien nicht neu, aber neu zugespitzt:

    "Worüber er spricht ist bekannt seit der Kriegszeit, und es gibt schon viele Untersuchungen darüber. Der Umschwung hat schon vorher, in den 80er Jahren stattgefunden, und was ich eher sehe in Frankreich ist manchmal die Tendenz, das frühere Geschichtsbild total umzukehren. Mein Eindruck ist eher, dass dieses Buch einen großen Erfolg hatte, erstens weil das ist ein sehr gut dokumentiertes Buch, zweitens ein Buch, das in einem Stil geschrieben wurde, der dazu führt, dass der Leser nicht unbeteiligt bleiben kann. "

    Der Tonfall, in dem Buisson die Niederlage der französischen Armee, das Erschlaffen der französischen Männlichkeit und die überwältigende Wirkung der deutschen Soldaten beschreibt, grenzt stellenweise an Sarkasmus. Mehr als ein neues Bild der Besatzungszeit verrät Buisson hier vielleicht unbewusst einiges über die französische Selbstwahrnehmung. Er liefert einen weiteren Beweis für das sowohl damals als auch heute gespaltene Verhältnis der Franzosen zu den deutschen Besatzern.