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Erst das Wort, dann der Sinn

Stefan Zweifels prächtige neue Ausgabe des 1913 erstmals erschienenen Romans "Locus Solus" bietet Gelegenheit, den literarischen Paradiesvogel Raymond Roussel neu zu entdecken. Der Schriftsteller wurde wegen seiner sprachlich abenteuerlich konstruierten Erzählungen von den Surrealisten gefeiert.

Von Jürgen Ritte | 06.01.2013
    An diesem Donnerstag, in der ersten Blüte des Aprils, hatte mich mein gelehrter Freund, Meister Martial Canterel, zusammen mit einigen anderen Vertrauten eingeladen, den ausgedehnten Park zu besichtigen, der seine schöne Villa in Montmorency umgibt. Locus Solus - so heißt die Besitzung - ist ein stiller Zufluchtsort, wo Canterel seine vielfältigen und fruchtbringenden Arbeiten in völliger Ungestörtheit des Geistes zu verrichten pflegt. An diesem solitären Ort ist er vor der Zügellosigkeit von Paris hinreichend geschützt - und kann doch in einer Viertelstunde die Hauptstadt erreichen, wenn seine Forschungen den Aufenthalt in einer Spezialbibliothek erfordern oder wenn der Augenblick gekommen ist, der wissenschaftlichen Welt in einem außerordentlich gut besuchten Vortrag diese oder jene sensationelle Mitteilung zu machen.

    So ruhig und gelassen im Ton beginnt Raymond Roussels Roman "Locus Solus", der erstmals im Jahre 1913 in Vorabdrucken erschien, am Vorabend des Ersten Weltkriegs mithin, in dem Jahr übrigens, in dem auch der erste Band von Marcel Prousts Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" erschien. Ein Zufall gewiss, dem sich aber noch der andere Zufall hinzugesellt, dass sie beide, Roussel und Proust, zumindest zeitweise in unmittelbarer Nachbarschaft am Pariser Boulevard Malesherbes aufwuchsen und sich auf manchen Fotos verblüffend ähnlich sind. Bis in Habitus und Kleidung weisen sie beide die Physiognomie jener Belle Epoque auf, die 1913 bereits dem Untergang geweiht war. Und beide schaffen sie in absoluter Zurückgezogenheit von der Welt ein Werk, das, in freilich ganz unterschiedlicher Weise, das Bild von der modernen Literatur prägen wird.

    Aber kehren wir noch einmal in den Park "Locus Solus" zurück, der Roussels Roman den Namen gab, und folgen wir noch einen Moment lang der Gesellschaft, die an einem Donnerstag im April zur Besichtigung eingeladen ist:

    In Locus Solus verbringt Canterel fast das ganze Jahr, umgeben von Schülern, die ihn aus leidenschaftlicher Bewunderung für seine fortwährenden Entdeckungen voll Fanatismus bei der Vollendung seines Werkes unterstützen. Die Villa birgt mehrere Räume, die mit luxuriösem Aufwand als Musterlaboratorien eingerichtet sind. Zahlreiche Gehilfen sind hier tätig, und der Meister widmet ein ganzes Leben der Wissenschaft, wobei er, als Junggeselle ohne Verpflichtungen, mit seinem großen Vermögen alle materiellen Schwierigkeiten spielend aus dem Weg räumt, die sich im Laufe seiner hartnäckigen Arbeit aus den verschiedenen Zielen ergeben, die er sich setzt. Eben hatte es drei Uhr geschlagen. Es war ein schöner Tag, die Sonne funkelte an einem fast gleichmäßig klaren Himmel...

    Ein immenser Reichtum, keinerlei Verpflichtungen, ein Leben nur für die Wissenschaft. Ein Gelehrtentraum, ein Gelehrtenidyll - und fast schon ein Selbstporträt des Autors, dem ein gewaltiges Vermögen erlaubte, allein der Literatur zu leben. Doch was hier zunächst daherkommt wie eine ruhige und gemütlich-behagliche Erzählung aus dem Bibliothekssessel heraus, wächst auf den nächsten 280 Seiten zu einem der rätselhaftesten und mysteriösesten Romane der Literatur überhaupt heran, an dem sich bereits Generationen von Exegeten und Interpreten, von Lesern und Liebhabern die Zähne ausgebissen haben.

    Der staunenden Gesellschaft im Park nämlich stellt Canterel eine abenteuerliche Sammlung von Objekten und Maschinen vor, deren Sinn und Bedeutung sich in einem Labyrinth von Erläuterungen verliert und vielleicht einzig und allein in ihrem Selbstzweck besteht, in der Lust am Fabulieren. Da ist ein Fetisch aus Timbuktu zu besichtigen, der sogenannte "Föderal", der wahre Wunder zwischen verfeindeten Stämmen im fernen Afrika gewirkt hat. Da ist eine Handramme zu bestaunen, die an einem Ballon aufgehängt ist und mittels einer komplexen Apparatur sonderbare Mosaiken in den Boden stanzt. Da sind alte bretonische Reliefs zu entdecken, die Geschichten von Goldschätzen erzählen, von Mord und Totschlag und dergleichen Wunderdinge mehr. Zum Beispiel auch ein "Babelit", eine äußerst nützliche Erfindung, die Stefan Zweifel, der deutsche Übersetzer und Herausgeber von "Locus Solus", aus Roussels Nachlass geborgen hat und der staunenden Weltöffentlichkeit nun erstmals vorstellen kann. Der geniale Martial Canterel hieß in diesen Entwürfen noch Boudet.

    Boudet hatte sich langen Studien über akustische Vibrationen hingegeben und war zur Überzeugung gelangt, dass es möglich sei, diese Vibrationen durch das Dazwischenschalten von bestimmten Hemmnissen zu verändern. Er überlegte sich dann, ob es nicht ein Mittel gäbe, um ein System zur automatischen Übersetzung von Sprache auszudenken, das von großem öffentlichen Interesse wäre.
    Dann forschte er nach einer Substanz, die hinreichend Widerstand böte, um das gesuchte Hemmnis zu bilden, und andererseits hinreichend geschmeidig wäre, um die Vibrationen nicht zu stoppen oder zu ersticken.
    Nach langem Forschen entwickelte er eine Substanz, die er auf den Namen Pruma taufte. Das Pruma hielt die Schwebe zwischen einer Pomade und einem flüssigen Stoff und konnte in eine Unmenge von winzigen Fragmenten geteilt werden, die durch ihre Verbindung ein Ganzes bildeten, dessen Teile voneinander unabhängig blieben. Boudet hatte den einzelnen Fragmenten den Namen Atomets gegeben... [...] Um seine Experimente zu starten, hatte er eine Glas-Röhre konstruiert [...] In diese Röhre konnte er ein Gas einlassen oder ablassen, dies dank winziger Pruma-Stäbe, die sie vollständig verschlossen und sich kundig amalgierten Atomets verdankten, deren Form und Zustand er unterschiedlich variieren konnte...


    Man braucht nun nur noch, selbstverständlich nach weiteren komplizierten Experimenten und Verbesserungen, am einen Ende einen französischen Satz ins Rohr zu sprechen, der dann am anderen auf Deutsch wieder herauskommt. Wahrlich eine fantastische Erfindung, aber nach eingehender Besichtigung des Märchenparks - oder sollte man besser sagen: des Lunaparks - von "Locus Solus" bleibt dem Leser, der sich schwindelig gelesen hat an all diesen Geschichten und Versuchsanleitungen, die bange Frage: "Was wollte der Autor uns sagen? Wollte er uns überhaupt etwas sagen?"

    Rätselhaft wie seine Geschichten ist auch das Leben und Sterben dieses Exzentrikers. Als Raymond Roussel in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 1933 im Grand Hôtel et des Palmes zu Palermo verstarb, ist es in der damaligen literarischen Welt ob dieser traurigen Nachricht kaum zu nennenswerten Erschütterungen gekommen. Roussel war nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt.

    Die hastig und schlampig durchgeführten Ermittlungen der sizilianischen Polizei schlossen aufgrund zweier leerer Röhrchen des Schlafmittels Sonéryl, die man auf dem Nachttisch des Toten gefunden hatte (welcher selbst auf einer Matratze zwischen Balkontür und Verbindungstür zum Nachbarzimmer lag), und eines ganzen Schranks voller Medikamente und Drogen rasch auf ein Ableben infolge einer Überdosis selbst verabreichter Pharmaka, wobei die italienischen Behörden in ihren Berichten - wir befinden uns in der Glanzzeit von Mussolinis Italien - den skandalösen Befund eines Selbstmords dieses - in den Worten des ermittelnden Kommissars - "ammalato al cervello" (dieses Geisteskranken mithin) sorgsam vermieden und viele Fragen offen ließen.

    Warum hatte Charlotte Dufrêne, die langjährige Lebensgefährtin dieses in früheren Zeiten einmal immens reichen Sonderlings, die das Nebenzimmer bewohnte, sich erst am späten Vormittag des 14. Juli gerührt? Warum hatte man den Hotelarzt nicht nach einem gerade erst wenige Tage zurückliegenden Selbstmordversuch Roussels befragt (er hatte versucht, sich die Pulsader aufzuschneiden), warum hat sich kein Mensch um den plötzlich verschwundenen Chauffeur Roussels gekümmert? Es sind dies Fragen, die noch 38 Jahre nach Roussels Tod in Palermo den sizilianischen Autor Leonardo Sciascia zu einer Gegenexpertise veranlassten, nachzulesen in seinen "Atti relativi alle morte de Raymond Roussel" aus dem Jahre 1971.

    Aber wie auch immer - alles, was man zu Leben, Werk und Sterben dieses von den Surrealisten gefeierten, von der französischen Autorengruppe Oulipo (hier vor allem Georges Perec) zum genialen Vorläufer deklarierten oder einem Michel Foucault, der ihm 1963 eines seiner ersten Bücher widmete, zu einem der Gründerväter der strukturalistischen Revolution promovierten Schriftsteller sagen mag, wirkt - man ist geneigt zu sagen: zwangsläufig -, wie eine von Roussel selbst inszenierte und orchestrierte Erzählung.

    Sein Tod in Palermo ist so rätselhaft wie sein gesamtes Werk. Und das entspricht durchaus dem Kalkül dieses sonderbaren Genies. Testamentarisch hatte Roussel, der 1877 in Paris als künftiger Erbe eines 40 Millionen Goldfranken schweren Vermögens geboren wurde, schon zu Anfang seines Todesjahres 1933 verfügt, dass seine Schrift "Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe" erst nach seinem Tod erscheinen dürfe. Als das Buch dann 1935 vorlag, glaubte man in der Tat, den Schlüssel gefunden zu haben. Roussel erläutert dort sein Verfahren:

    Ich habe mir immer vorgenommen zu erklären, wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe ("Eindrücke aus Afrika", "Locus Solus", "Der Stern auf der Stirn" und "Sonnenstaub"). - Es handelt sich um ein ganzes spezielles Verfahren. Und ich glaube, dass es meine Pflicht ist, dieses Verfahren offen zu legen, denn ich habe den Eindruck, dass es von künftigen Schriftstellern mit Gewinn genutzt werden könnte.
    Schon in sehr jungen Jahren verfasste ich nach diesem Verfahren einige kurze Erzählungen.
    Ich wählte zwei fast gleich lautende Wörter aus, zum Beispiel "billard" - Billardtisch - und "pillard" - Plünderer. Dann fügte ich jeweils identische Wörter hinzu, die aber einen anderen Sinn ergaben, und erhielt so zwei nahezu identische Sätze. Für "billard" und "pillard" waren dies:
    1. "Les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard"
    Die Buchstaben aus weißer Kreide auf den Banden des alten Billardtischs
    2. "Les lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard"
    Die Briefe des Weißen über die Banden des alten Plünderers
    [...]
    Nachdem die beiden Sätze einmal gefunden waren, ging es darum, eine Geschichte zu schreiben, die mit dem ersten Satz anfangen und mit dem zweiten enden konnte. . .


    Erschwerend kommt nun bei diesem Verfahren noch hinzu, dass, wenn die Geschichte einmal fertig gestellt ist, der erste und der letzte Satz entfernt werden. So wie man ja auch ein Baugerüst nach Fertigstellung des Hauses entfernt. Das ist nun in der Tat insofern ein "revolutionäres" Verfahren, als es Literatur nicht als mehr oder weniger kunstvolles Arrangement von Geschichten und Gedanken begreift, sondern als geradezu mechanisches Ausagieren und Ausloten von Möglichkeiten, die in einem zufällig vorgefundenen sprachlichen Material angelegt sind.

    Der Autor wird zum Bastler, zum "bricoleur", der die Elemente der Sprache wie ein Konfetti aus lauter "ready-mades" ansieht, die er zu einem großen Puzzle zusammenfügt, und zwar nach Regeln zusammenfügt, die ihm die Worte vorgeben. Oder anders gesagt: Zuerst kommt das Wort, dann der Sinn.

    Indes, diejenigen, die sich mit diesem Schlüssel in der Hand an die Dechiffrierung von Roussels abenteuerlich konstruierten Erzählungen heranmachten - er selbst sah übrigens in seinem Vorbild Jules Verne den größten Schriftsteller aller Zeiten -, hatten zwei wesentliche Dinge übersehen: Zum einen hatte Roussel nur von "einigen" seiner Bücher gesprochen, die nach dem genannten Verfahren hergestellt worden seien, zum anderen hatte er explizit darauf hingewiesen, dass es sich, wie beim Reim, um ein "poetisches" Verfahren handele, und dass man damit gute, aber auch schlechte Werke schaffen könne, wie man ja auch gute von schlechten Reimen unterscheide.

    Es bliebt also auch bei ihm, wie bei allen Autoren, die ihm im Bemühen um ein Schreiben nach festen Regeln folgten - zu nennen wäre hier vor allem Georges Perec - der Vorbehalt eines zuletzt mit "Schlüsseln" nicht einholbaren literarischen "Mehrwerts", dessen Schöpfer der Autor und seine Fantasie wären.

    So diktierte Raymond Roussel zum Beispiel am 28. Januar 1928 einem Journalisten der französischen Zeitschrift "L'Excelsior" in den Notizblock:

    Ich habe vor zehn Jahren eine Weltreise unternommen und im letzten Jahr war ich in Persien. Ich habe keine Notizen von dort mitgebracht, ich habe nicht eine Zeile geschrieben. Ich werde nichts davon für meine Bücher benutzen, die Werke der reinen Fantasie sind.

    Wenige Jahre später, 1933, als er "Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe" fertig stellt hat, wird er noch deutlicher:

    Ich muss hier noch auf eine einigermaßen merkwürdige Tatsache zu sprechen kommen. Ich bin viel gereist. Insbesondere im Jahre 1920/21 habe ich eine Weltreise nach Indien, Australien, Neu-Seeland, den Südsee-Inseln, China, Japan und Amerika unternommen [...] Ich kannte bereits die wichtigsten europäischen Länder, Ägypten und ganz Nordafrika. Und später habe ich Konstantinopel, den vorderen Orient und Persien besucht. Von all diesen Reisen aber habe ich nichts in meine Bücher übernommen. Mir scheint, dass dies einer Erwähnung wert ist, denn daran zeigt sich ganz deutlich, dass alles bei mir Fantasie ist.

    Roussel ist in der Tat viel gereist, weit gereist, unter anderem auf den Spuren des bewunderten Marine-Offiziers und Schriftstellers Pierre Loti. Er hat sich gar ein Luxuswohnmobil mit Badekabine bauen lassen und ist damit bis nach Rom gefahren, wo er es von Mussolini und der Presse bestaunen ließ und dem Papst vorführte. Dass er nicht von diesen Reisen mitgebracht habe, dass er sich nichts notiert habe, ist, wie wir heute wissen, nicht ganz richtig.

    Aber richtig ist auch - und gerade solche Anekdoten haben zur posthumen Legendenbildung beigetragen - dass er, ob vor der Küste Schwarzafrikas oder in Asien, in der verdunkelten Kajüte seiner Jacht geblieben ist, anstatt an Land zu gehen. Seine Verserzählung "Eindrücke aus Afrika" aus dem Jahre 1910 trägt Afrika nur im Titel. Das wirkt umso erstaunlicher, als er dem französischen Ethnologen und Schriftsteller Michel Leiris, einem seiner frühen Bewunderer (und Sohn seines Bankiers), eine Afrika-Expedition finanziert hat.

    Aber Roussels Fantasiewelt, die fotografisch insofern dokumentiert ist, als er sich, ganz gleich, ob in Berchtesgaden oder auf Tahiti, stets in Landestracht ablichten ließ (eine Marotte, die er mit Pierre Loti teilte), ließ keine Kontaminationen mit der Wirklichkeit zu. Sie war eben ein "locus solus", ein einsamer und einzigartiger Ort, ein fantastischer Garten, wie der des Erfinders Martial Canterel in seinem Hauptwerk mit eben diesem programmatischen Titel - Locus solus.

    Zwölf Exemplare dieses Romans fanden sich, neben den diversen Arzneien, in einem der Schränke seines Sterbezimmers in Palermo. Sie waren wohl als Gastgeschenke gedacht. Wichtiger aber ist - und da scheinen wir uns schon wieder mitten in einer rousselschen Erzählung zu befinden -, dass im Jahre 1989 der Pariser Besitzer eines Möbelspeichers neun Umzugskartons in der französischen Nationalbibliothek deponierte, darin lauter Manuskripte und Dokumente aus Roussels Besitz. Und unter diesen Dokumenten fand sich auch ein ganzer Satz von Entwürfen und unveröffentlichten Kapiteln des Romans "Locus Solus".

    Und als sich vor nicht allzu langer Zeit in Paris der Zürcher Literaturkritiker und Übersetzer Stefan Zweifel in die Nationalbibliothek begab, um im Rahmen einer als Revision gedachten Überarbeitung von Cajetan Freunds "Locus Solus"-Übersetzung aus dem Jahre 1968 einmal an den Manuskripten zu "schnuppern", stieß er auf diesen bislang noch nicht wirklich gesichteten Schatz. So wurde aus der "Überarbeitung" fast schon eine Neu-Übersetzung - und auch ein etwas anderer Roman, der im Anhang erstmals auch die unveröffentlichten Entwürfe und vor allem Manuskriptteile berücksichtigt.

    Eine solche Ausgabe liegt bislang noch nicht einmal auf Französisch vor. In seinen so instruktiven wie spannend zu lesenden Kommentaren führt Zweifel behutsam durch und hinter die Kulissen dieser gewaltigen Junggesellenmaschine, die die so abstrus-verwunderlichen Geschichten und Erfindungen von "Locus Solus" hervorbringt, die sich jedem Versuch einer Zusammenfassung widersetzen.

    Dass die "Methode" in "Locus Solus" nicht exakt diejenige ist, die Roussel in seinem posthumen Selbstkommentar vorgestellt hat, war seit einiger Zeit klar. Eher ist hier, wie Zweifel mit Recht feststellt, so etwas wie Arno Schmidts "Etym-Theorie" am Werk. Das heißt, Roussel, der auch hier vorbereitende Wortlisten erstellte, schöpft Wort- und Bedeutungsfelder aus Wortwurzeln, und daraus knüpft sich dann das Gewebe der Erzählungen. So bringt die Wurzel Sol (aus solus) den französischen Boden (oder die Erde) "sol", die Sonne, "soleil", oder etwa die Einsamkeit, die "solitude" hervor.

    Solche weniger etymologische als phonetische Zusammenhänge kann eine Übersetzung natürlich nur andeuten, aber es ging Roussel ja auch nicht darum, ein Strickmuster zu lesen zu geben, sondern märchenhafte Geschichten von afrikanischen Fetischen aus Timbuktu, Wiederauferstehungen und sonderbaren Apparaturen oder Goldschöpfungen. Und diese hat Stefan Zweifel im Sinne des Erfinders wiedergegeben.

    Aber noch einmal soleil und solitude, Sonne und Einsamkeit. Es sind dies die beiden Pole, zwischen denen Roussels Leben oszillierte. Im Alter von zwanzig Jahren imaginierte er sich, wie sein langjähriger Psychiater Pierre Janet später festhielt, in einem veritablen Glorienschein des Ruhms während der Redaktion an seinem Versroman "La doublure". Er blieb indes ein lebenslang einsam Scheiternder und versuchte sich, wie sein jüngerer Zeitgenosse Marcel Duchamp, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, da seine wirklich schöpferische Phase beendet war, als Schachtheoretiker (wir verdanken ihm eine Matt-Position im Endspiel nur mit Springer, Läufer und König).

    Vom "échec", dem Scheitern, zum, wie der jüngst verstorbene Roussel-Kenner und -Übersetzer Hanns Grössel einmal festhielt, zum "jeu d'échecs", zum Schachspiel - ganz so, als ob auch Roussels Lebenslauf der Logik eines Sprachspiels unterlegen habe.

    Stefan Zweifels prächtige Ausgabe der Erzählungen aus dem Märchenpark "Locus Solus" sind Gelegenheit, diesen literarischen Paradiesvogel neu zu entdecken, der ein illustrer Unbekannter blieb, dessen Werk aber, wie das seines ungleichen "Bruders" Marcel Proust, die Möglichkeiten des Schreibens und Erzählens wie kaum ein anderes durchmessen hat. Gerade indem es, anders als Proust, auf Bezüge zur realen Welt zu verzichten scheint, spricht es vielleicht von ihr - wie sonst wohl nur die Romane und Erzählungen des Zeitgenossen Franz Kafka.

    Raymond Roussel: "Locus Solus"
    In der Druckfassung von 1914 und ergänzt durch Episoden aus der erstmals veröffentlichten "Urfassung", von Stefan Zweifel entziffert, kommentiert und aus dem Französischen übertragen.
    Die Andere Bibliothek, Berlin 2012, 492 Seiten, 34 Euro.