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Erste Erwähnung Amerikas

Manchmal sind die Ereignisse, die den Weltenlauf auf neue Schienen setzen, eher unscheinbar. Von einem solchen erzählt Toby Lester in seinem Buch: In einer Studierstube zeichnet eine Gruppe Gelehrter im Jahre 1507 eine Karte, die das Bild der Menschheit von unserer Welt für alle Zeiten veränderte: Die Waldseemüller-Karte.

Von Paul Stänner | 21.03.2011
    Den USA war das einzig erhaltene Exemplar der Weltkarte zehn Millionen Dollar wert. Die eine Hälfte gab die Regierung, die andere musste über eine groß angelegte Sammlung bei betuchten Patrioten eingeworben werden. Seit 2003 gehört die sogenannte Waldseemüller-Karte der Library of Congress, der Kongressbibliothek. Auf dieser Karte von 1507 erschien zum ersten Mal, an den Rand des Kontinents geschrieben, das Wort "America". Diese Karte, die Martin Waldseemüller gezeichnet hatte, gilt gleichsam als die Geburtsurkunde Amerikas.

    Der Amerikaner Toby Lester hat sie in das Zentrum seines Buches gerückt. Um dorthin zu gelangen, muss er weit zurückgreifen:

    Zwischen 1237 und 1241 tobten die Mongolen durch Russland, Polen und Ungarn, zerstörten ganze Städte, töteten die Bewohner und ganze Armeen. 1241 standen die Mongolen nur 60 Kilometer vor Wien und schienen bereit zum Einfall in Westeuropa.
    Schreibt Toby Lester. Den Zeitgenossen schien es, als habe die Hölle ihre schlimmsten Geschöpfe ausgespien. 1245 berief Papst Innozenz IV. ein Konzil nach Lyon und es wurde beschlossen, Mönche auszuschicken, um den Mongolen christliches Denken beizubringen.

    Sie sollten versuchen, mit dem Großkhan zu sprechen. Damit begann die Erkundung Asiens durch die Europäer.
    Und die hatten keine Vorstellung von dem, was sie dort erwartete. Sie wussten nicht einmal, an welche Orte sie reisen sollten. Es gab zwar einige Berichte von Reisenden, aber wo diese Schauplätze einzuordnen waren, wusste man nicht. Eine Karte aus dem Jahr 1300 dokumentiert die Vorstellungen jener Zeit: Es handelt sich um eine Karte im TO-Schema: Man stelle sich ein großes O vor, in das ein T eingezeichnet ist, mit dem Querstrich genau durch die Mitte des O. Oberhalb des Querstrichs liegt Asien, darunter, getrennt durch den senkrechten Strich, links Europa und rechts Afrika. In der Mitte dieser Karte liegt das Zentrum der christlichen Welt, Jerusalem. Diese Karten hatten einerseits den Vorteil, dass sie dem mit ausgebreiteten Armen segnenden Jesus glichen und so die Schöpferkraft Gottes in der Gestalt der Erde zeigten, andererseits hatten sie den Nachteil, dass auf ihnen die Verteilung des Wassers und des trockenen Landes kaum darstellbar war.
    Hilfe kam, als am Ende des religiös befangenen Mittelalters die Denker und Künstler der Renaissance sich den antiken Autoren zuwandten, allen voran Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. Seine "Geographia" öffnete der Vorstellungskraft neue Räume. Ptolemäus hatte eine Beschreibung der seinerzeit bekannten Welt geliefert und auch schon ein Gitterwerk entwickelt, mit dem sich Orte nach Längen- und Breitengraden einmessen ließen.

    Es geht Toby Lester in seinem Buch um den Jahrhunderte währenden Prozess, in dem sich ein immer genaueres Bild von der Welt entwickelt hat. Das Grundproblem dabei ist, dass die einzelnen Informationen, die reisende Händler, Diplomaten, Soldaten und auch Forscher aus entlegenen Häfen, von Königshöfen oder reißenden Strömen mitbrachten, nur als Abenteuererzählung von Wert waren, solange man sie nicht in ein festes Informationssystem, in einen Rahmen, einordnen konnte.

    Die Entwicklung dieses Ordnungssystems beschreibt Lester, angefangen von dem schlichten, aus dem Glauben hergeleiteten Muster der TO-Karte über die rasante Entwicklung in der Renaissance bis hin zur sogenannten Waldseemüller-Karte von 1507. Toby Lester führt uns weit zurück in die Anfänge. Er schildert mit vielen Namen die lange Reihe der Reisenden, Kaufleute und Eroberer. Er wiederholt auch ausführlich die Geschichten von Christoph Columbus und Amerigo Vespucci, die sicherlich schon an anderer Stelle erzählt wurden, aber unverzichtbar sind im Ablauf der Historie. Vespucci schrieb von seiner zweiten Reise, die ihn an die Küsten des heutigen Brasiliens führte:

    Wir segelten so lange in diesen Gewässern, dass wir in die trockene Zone gelangten und weiter nach Süden über den Äquator und den Wendekreis des Steinbocks hinaus, sodass der Südpol 50 Grad über meinem Horizont stand. Kurz, ich befand mich in der Gegend der Antipoden, auf einer Reise, die ein Viertel der Welt umrundet hatte.
    Daraus ergab sich ein Problem für die Darstellung der bekannten Welt, schreibt Lester. Denn:

    Ein fremdartiger, neuer Teil Asiens war entdeckt worden, so glaubte man, und nun musste man sehen, wie er auf die Karten zu bringen war – und vor diesem Problem standen nicht nur Spanier und Portugiesen, sondern alle, die sich damals für Geografie interessierten.
    Und hier kommen Martin Waldseemüller, Matthias Ringmann und das sogenannte "Gymnasium" von Saint-Dié ins Spiel. In dem kleinen Städtchen in den Vogesen unweit von Straßburg hatte sich eine Gruppe von Humanisten zu einem, wie sie es in der Verehrung der Antike nannten, "Gymnasium" zusammengeschlossen. Diese Arbeitsgemeinschaft machte sich nun daran, die bislang bekannten Informationen, die philosophischen Spekulationen, die Beschreibungen von Reisenden und die Karten von Seefahrern zusammenzutragen, um ein Bild der Erde zu entwerfen. Noch immer war Asien das Problem. War das Land im Westen, von dem Columbus und Vespucci berichtet hatten, schon Asien oder war es ein neu entdeckter vierter Kontinent, der diesseits Asiens lag? Seit der "Geographia" des Ptolemäus und seinem Gittersystem waren die Menschen in der Lage, gleichsam die Welt im Vogelflug zu betrachten, nun mussten sie entscheiden, was von der erhöhten Warte aus zu sehen war.

    Norden, Süden und Osten waren drei relativ gut erforschte Teile der Erde, 1507 schreibt nun Ringmann:

    Ein vierter Teil ist von Amerigo Vespucci gefunden worden. Nun sehe ich keinen Grund, aus dem rechtens bestritten werden könnte, diesen nach seinem scharfblickenden und begabten Entdecker Americo zu nennen, dass es quasi Americi terra oder America genannt werden soll, sind doch auch Asien und Afrika nach Frauen benannt.

    Ringmanns Kollege Waldseemüller, der die Karte zeichnete, schrieb dieses Wort "America" an den Rand eines Kontinents, dessen Umrisse schon verblüffend zutreffend waren. Zum ersten Mal zeigte eine Karte – nicht im Detail, aber im Ordnungssystem – ein Bild der Welt, wie sie wirklich ist.
    Nachdem in der Ideengeschichte dieser Punkt erreicht war, konnten alle zukünftig noch zu entdeckenden Regionen gewissermaßen dort eingearbeitet werden, wo sie hingehörten.

    Eine ausführliche Passage des Buches beschäftigt sich damit, dass das Vaterschaftsrecht am Namen "America" eigentlich Matthias Ringmann gebührt, dem Autor der Einleitung zum Kartenwerk und nicht dem Kartenzeichner Martin Waldseemüller. Ob wir nun dem einen oder dem anderen die Ehre geben – diese Passage belegt sehr schön, wie detailverliebt bis in die Sprachspielereien des Renaissanceautors Ringmann hinein sich Lester mit seinem Thema beschäftigt hat. Toby Lester hat detailliert mit vielen Nebenlinien und Erläuterungen am Rande eine spannende Ideengeschichte von der Entdeckung der Erde geschrieben. Sein Buch ist ein Schmöker im besten Sinn, es erzählt Geschichte als Detektivgeschichte, in der die Frage geklärt wird, was ist oben auf der Erde? Was ist unten? Und vor allem: Was liegt im Westen? Seine manchmal etwas unbeholfenen Versuche, die handelnden historischen Personen wie Romanfiguren agieren zu lassen, seien übersehen, gelegentliche Lücken ebenfalls. Wir erfahren nicht nur in einem konkreten Beispiel, wie Menschen nach Wissen suchten und auf neue Ideen spekulierten, sondern wir erfahren auch Grundsätzliches über die Art, wie sich Denken entwickelt.

    Das Verblüffende am Ende: Auf späteren Karten, die nach 1507 erschienen, hat Waldseemüller das Wort "America" nicht mehr verwendet. Offenbar war diese Erkenntnis zu kühn gewesen für den zeitgenössischen Horizont. Waldseemüller zuckte zurück und ordnete sich wieder dem Mainstream seiner Zeit unter. Auch dies ist ein Momentum der Geschichte: Der Fortschritt lässt sich durchaus aufhaltbar. An einigen Orten, für einige Zeit jedenfalls.

    Toby Lester: "Der vierte Kontinent. Wie eine Karte die Welt veränderte". Erschienen ist das Buch im Berlin Verlag, für 39 Euro 90 gibt es 560 Seiten, ISBN: 978-3-827-00732-2.