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Das ist ja ein Skandal!

Medien sollen vor allem informieren und unterhalten. Mitunter setzen sie aber politische Skandale in Gang. Dabei ist nicht immer klar, warum das eine zum Skandal wird, das andere aber nicht. Darüber haben sich nun in Bamberg verschiedene Forscher Gedanken gemacht. Wird Skandalogie nun zur neuen Wissenschaft?

Von Christian Forberg | 14.04.2016
    Bis auf die Haut: Auf der Premierenfeier des Films "Feuchtgebiete" nach der Vorlage von Skandal-Autorin Charlotte Roche.
    Bis auf die Haut: Auf der Premierenfeier des Films "Feuchtgebiete" nach der Vorlage von Skandal-Autorin Charlotte Roche. (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    Am Anfang standen die Literatur und viele Fragen: Wie kann man sich Literaturskandalen nähern? Welche Wirkung gab es in der jeweiligen Gesellschaft? Schließlich - was ist der Skandal: Das Werk oder dessen Autor? Der Autor, weil: Skandale würden vor allem personalisiert funktionieren, meint Martin Kraus, Doktorand am Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Uni Bamberg.
    "Wir haben ein Projekt gemacht mit dem Titel ‚Skandalautoren‘ und haben in die Runde gefragt: Wer möchte seinen Autor, an dem er gerade arbeitet, als Skandalautor präsentieren? Es gab einige interessante Fälle, die wir nicht so auf dem Schirm hatten. Es gab auch welche, da hatten wir die Autoren auf dem Schirm, und da kamen die erwarteten zehn, zwanzig Einsendungen zu einem Autor. Charlotte Roche zum Beispiel."
    Wobei es fragwürdig sei, ob sie und ihre "Feuchtgebiete" noch als Skandal zu bewerten oder viel mehr Teil des Marketings sind. Regina Roßbach aus dem Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaften der Uni Mainz stützte sich auf Michel Houellebecq und seine "Elementarteilchen", um auf Normen einzugehen: Auf das Verbot, das Gebot oder die Erlaubnis, etwas zu tun. Im gesellschaftlichen Leben ist deren Bruch die Quelle der Skandale, in der Literatur ein Anstoß zum Nachdenken.
    "Das ist dann das, was in der Rezeption passiert; so etwas, was gute Literatur eigentlich sehr selten tut. Immer dann, wenn man das Gefühl hat, man hat eine Regel erkannt, dann ist Houellebecq zum Beispiel wunderbar darin, noch etwas eingeflochten zu haben, das die andere Perspektive zeigt."
    Homosexualität taugt nicht mehr zum Skandal
    Eine dieser Perspektiven ist bei Houellebecq der Sex, der noch immer für Aufwallungen tauglich ist. Homosexualität dagegen kaum noch - zumindest in westlichen Nationen. Was vor Jahrzehnten noch ganz anders war, legte der Stuttgarter Historiker Dr. Norman Domeier anhand des Harden-Eulenburg-Skandals dar: Vor mehr als einem Jahrhundert hatte der Journalist Maximilian Harden Philipp Fürst zu Eulenburg und andere Adlige aus der näheren Umgebung des Kaisers der Homosexualität bezichtigt. Noch schwerer hatte wenige Jahre zuvor die Verrats-Affäre um Hauptmann Dreyfus Frankreich erschüttert; auch ihm hatte man homosexuelle Neigungen angehängt.
    "Der Eulenburg-Skandal hat nicht so diese offenkundige Wirkung gehabt, aber man sieht, dass er untergründig weitergewirkt hat - bis in die Weimarer Republik und die frühe Nazi-Ära, also bis auf jeden Fall zur Röhm-Affäre: Die Vorstellung vom gefährlichen homosexuellen Politiker ist ja direkt wieder aufgenommen worden in der Röhm-Affäre und von Hitler und Goebbels auch so genutzt worden. Mit diesen Argumenten hat man dann gesagt: Na ja, so gefährlich wie Eulenburg im Kaiserreich war, so gefährlich ist jetzt Röhm für uns geworden, weil er auch homosexuell ist. Wir müssen ihn beseitigen um des Staatswohls willens."
    Sex-Tweets vom Abgeordneten Anthony Weiner
    Womit das Hauptbeschäftigungsfeld der Bamberger Skandalogie-Tagung umrissen wäre: Der von Medien in Gang gesetzte politische Skandal. Robert Entman von der George Washington University hat hochrangige US-amerikanische Skandale untersucht, woraus das Buch "Scandal and Silence" entstand. Dessen Kernfrage lautet: Woran liegt es, dass Verfehlung zum Skandal mit harten persönlichen Konsequenzen aufgeblasen, anderes viel milder und stiller behandelt wird? Es sei das "Framing" genannte Schwerpunktsetzen durch die Eliten in Wirtschaft, Politik und Parteien, sagt Professor Entman. Diese übergeben ihre Sichten den Medien, die sie aufbereiten, Skandale entwickeln - und zu gegebener Zeit wieder einstellen. So wurden die Fotos, die der Abgeordnete Anthony Weiner an Frauen verschickte, weit mehr als Skandal verbreitet und wahrgenommen, als die globale Finanzkrise, die mit der Pleite von Lehman Brothers 2008 offenbar wurde.
    "Da gab es kein Gesicht, sondern Banken und Wall-Street und solche Dinge, aber keine Individuen. Außer sehr gebildeten, sehr aufmerksamen Menschen, die die Nachrichten sorgfältig verfolgt haben, war keiner in der Lage, irgendeinen Banker mit Namen zu nennen. Keiner der Parteiführer wollte einen Skandal über diese machtvollen Leute machen. Sie können furchtbares, gefährliches Fehlverhalten von Führern nehmen, das keinen Skandal gibt. Und Sie können so triviales Zeug wie die Sex-Tweets von Anthony Weiner nehmen, die ein enormes Maß an Aufmerksamkeit erregten. Das war interessant, lustig und somit gut für die Medien."
    Weshalb Robert Entman fordert, dass sich die Medien neu kalibrieren, also neu ausrichten. Das bereits erwähnte Framing, das Rahmensetzen, erforscht der Kommunikationswissenschaftler Christian von Sikorski an der Uni Wien. Ein Ergebnis: Bilder beeinflussen tatsächlich die Wahrnehmung von Skandalen. In einem Experiment bekamen Betrachter Bilder eines Mannes vorgelegt, die ihn neben anderen zeigten. Oder allein sitzend.
    "Wenn wir sehen: Da ist jemand isoliert, andere, sogar Verbündete haben sich vermeintlich abgewendet – das führt dazu, dass wir automatisch zu einer negativeren Bewertung dieser Person kommen. Das scheint sehr tief angelegt zu sein."
    "Eisenrohr-Skandal" wurde erst drei Jahre später zum Skandal
    Ein anderes Experiment betraf Kommentare, wie sie in den sozialen Medien gang und gäbe sind. Zum Erstaunen der jungen Wissenschaftler um Christian von Sikorski wurde besonders wichtig, wer sie abgab.
    "Wenn eine Skandalnachricht mit Kommentaren versehen war, die positiv, also gegen die eigentliche Ausrichtung der Nachricht waren, und die auch noch von Personen verfasst wurden, die eine hohe Glaubwürdigkeit, einen hohen sozialen Status hatten, dann kam es zu erheblichen Effekten."
    Wenn aber eine solche fiktive Person im Sinne der Skandalnachricht argumentierte, blieb das Echo der Kommentarleser aus.
    Zu Wort kamen auf der Tagung auch Wissenschaftler aus Ländern, deren Skandale in Deutschland wenig bekannt sind. Juha Herkman, Medienwissenschaftler an der Uni Helsinki, sprach über Skandale in skandinavischen Ländern – so im Umkreis der "Wahren Finnen", der Nationalpopulisten. Oder über den "Eisenrohr-Skandal" in Schweden, als drei Abgeordnete der "Schweden-Demokraten", einer rechtspopulistischen Partei, Immigranten beschimpften und mit Gerüststangen bedrohten.
    "Die Kern-Werte des Islam sind Vergebung, Toleranz, Redlichkeit."
    "Das wurde nicht 2010 zum Skandal. Sie wurden mit einer Smartphone-Kamera gefilmt. Aber diese Video-Clips gelangten erst 2012 in die Top-Liste der Zeitung ‚Expressen‘, und dann erst begann der Skandal."
    Also fast drei Jahre später. Der Partei hat es anscheinend nicht geschadet, was mit Erkenntnissen einiger Wissenschaftler übereinstimmt: Bei weitem nicht jeder Skandal erreicht sein Ziel, eine breite Öffentlichkeit in die gewünschte Richtung zu bewegen.
    Schwierig vollzog und vollzieht sich die Öffnung der algerischen Gesellschaft. Bis 1990 war sie Osteuropa-nah, damit kommunistisch orientiert und abgeschottet. Nun aber gebe es 150 Zeitungen, 44 meist private Fernsehkanäle und - viele Skandale, sagt der Kommunikationswissenschaftler Laeed Zaghlami, Professor an der Universität Algier. Was aber gegen den Islam, die Staatsreligion stehe. Was tun?
    "Die Kern-Werte des Islam sind Vergebung, Toleranz, Redlichkeit. Das ist die Hauptsache. Wenn es aber zu diesen Skandal-Fällen und schlechtem Verhalten kommt, sollen wir im Grunde nicht die Möglichkeit einer Veröffentlichung wahrnehmen."
    Wurde nun auf der Bamberger Tagung eine neue Wissenschaft aus der Taufe gehoben, die Skandalogie? Mitveranstalter Martin Kraus lächelt:
    "Das wäre natürlich besser in der Außenwirkung, wenn ich das behaupten würde. Aber es ist schon scherzhaft gemeint. Skandal funktioniert viel über Begriffssetzungen; der Skandal allein ist eine Begriffssetzung. Deswegen haben wir gedacht: Passt es, wenn wir einen anderen Begriff setzen, der ähnliche Effekte haben kann, nämlich erstmal Aufmerksamkeit erzeugt."