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Erste Lesung vor 75 Jahren
"Stalingrad", ein Roman über unfassbare Schrecken

Der deutsche Schriftsteller Theodor Plievier lebte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im sowjetischen Exil. Dort schrieb er auf Basis von Zeitzeugen-Berichten den Roman "Stalingrad", ein Werk über das Schicksal der verletzten, hungernden und erfrierenden deutschen Soldaten.

Von Otto Langels | 28.06.2020
    Straßenkämpfe in Stalingrad
    Straßenkämpfe im Jahr 1943 in Stalingrad (picture alliance/dpa/Ria Novosti)
    "Auf dem Schnee Hunderte von Füßen, von Fetzen, Decken, Zeltleinwand umwickelte, schlürfende Füße", liest Theodor Plievier aus seinem Roman "Stalingrad" vor. Ein Buch, das das Elend der deutschen Soldaten an der Ostfront vor Augen führt. Am 28. Juni 1945 sind erstmals Passagen aus dem Werk im Berliner Rundfunk zu hören. Ausschnitte werden Jahre später noch einmal auf Schallplatte veröffentlicht.

    "Hunderte humpelten und stolperten, so schnell sie konnten, von den Verwundeten-Zelten zum Flugplatz. Einer davon war Hauptmann Steiger. Hauptmann Steiger war der linke Fuß bis zum Knie amputiert worden. Seine Kopfverletzung hatte sich als ungefährlich erwiesen."
    "Stalingrad" ist ein dokumentarisch angelegter Roman, der detailliert den Kampf um die Industriestadt an der Wolga schildert; eine historische Schlacht, die mit der Kapitulation der 6. Armee am 2. Februar 1943 endet.
    Der Autor Theodor Plievier, 1892 in Berlin geboren, stammte aus einer Arbeiterfamilie, sympathisierte mit dem Anarchismus, führte ein abenteuerliches Leben: Er fuhr als Matrose jahrelang zur See, arbeitete als Koch, Viehtreiber und Goldwäscher in Südamerika und nahm 1918 am Matrosenaufstand in Wilhelmshaven teil. In der Weimarer Republik schlug er sich als Schriftsteller, Wanderredner und Verleger durch, 1933 emigrierte er über Prag, Wien und Paris in die Sowjetunion.
    Die sowjetische Zensur nickte das Werk ab
    In einer autobiografischen Notiz erklärte Plievier 1953:
    "'Stalingrad' schrieb ich in Moskau, wo ich elf Jahre – von 1934 bis 1945 als Emigrant lebte. Und ‚Stalingrad‘ konnte in Moskau unter den Verhältnissen der sowjetischen Zensur geschrieben werden, weil der dargestellte Untergang einer deutschen Armee der damaligen sowjetischen Literaturpolitik zweckmäßig erschien."
    Die sowjetische Zensur gestattete dem deutschen Autor, der nicht der Kommunistischen Partei angehörte, einen Reportageroman über die Schlacht von Stalingrad zu schreiben. Der gleichfalls im Moskauer Exil lebende, spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher bemerkte dazu in seinem Tagebuch:
    "Plievier erhielt im Gefangenenlager Ljunowo alle Möglichkeiten, sich ungestört mit Offizieren und Mannschaften der 6. Armee zu unterhalten; die Aussagen dieser lebendigen Modelle halfen ihm wesentlich und ließen ‚Stalingrad‘ zu der großartigen, zeitlich so unmittelbar geschaffenen Reportage werden, die sie ist und bleiben wird."
    Vom November 1943 bis September 1944 erschien der in wenigen Monaten verfasste Text in Fortsetzungen in der Exilzeitschrift "Internationale Literatur/Deutsche Blätter".
    Eindrückliche Schilderungen des Schreckens
    "Da waren andere, die schneller waren, die die Haufen der Fuß- und Halblädierten durchbrachen und mit geweiteten, flackernden Augen, mit aufgerissenen Mündern, mit geblähten Nasen näherkamen."
    So beschreibt Theodor Plievier den erbitterten Kampf verwundeter Soldaten um die wenigen Plätze in einer Transportmaschine, die sie aus dem Kessel ausfliegen soll.
    "Jene, die zu langsam waren und die zurückblieben, erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei. Die Kabinentür stand offen, Arme, Beine, Körper hingen heraus. Zweimal schlug die Maschine an den Boden zurück, dann hob sie sich schwerfällig in die Luft."
    Theodor Plievier schildert eindringlich die Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges in grauenerregenden, manchmal schwer zu ertragenden und nicht immer gelungenen Bildern.
    "Stalingrad" ist eine Anklage gegen das von Hitler und Goebbels verbreitete Heldenepos vom aufopferungsvollen Kampf bis zum letzten Mann, eine Anklage gegen den Krieg, aber durchaus mit Sympathien für den einfachen Frontsoldaten. Von den Verbrechen der Wehrmacht ist nur am Rande die Rede.
    "Häuser sind angezündet, Kühe sind geraubt, Witwen ist das Brot aus dem Tischkasten genommen worden. Und Frauen und Kinder, meine Augen haben sie gesehen, sind verschleppt worden."
    "Stalingrad", das erste deutsche Buch über den Zweiten Weltkrieg, wurde ein Bestseller, in über 20 Sprachen übersetzt und mehr als drei Millionen Mal verkauft. Theodor Plievier kam 1945 mit der Roten Armee nach Weimar, brach aber bald mit dem SED-Regime und ging in den Westen, zunächst an den Bodensee und später in die Schweiz, wo er 1955 starb.