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Erster Weltkrieg
Literaten an der Front

Schriftsteller aller europäischen Nationen schrieben über Kriegsbegeisterung und Hurra-Patriotismus. Erst später reflektierten viele die Grausamkeiten der Schützengräben. Zwei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit den Dichtern und Denkern im Ersten Weltkrieg.

Von Lerke von Saalfeld | 05.05.2014
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze. (picture alliance / dpa)
    Beide Verfasser sind fast gleich alt: Buelens Jahrgang 1971, Bruendel Jahrgang 1970. Beide greifen ein Thema auf, das bis heute in Erstaunen versetzt: Was bewegte die Dichter und Denker, sich so vehement und zunächst enthusiastisch in die Aufrüstung zum Weltkrieg einzumischen? Allein in Deutschland erschienen im August 1914 an die 50.000 Kriegsgedichte pro Tag. Die kritischen Stimmen waren vereinzelt oder wurden durch Zensur zum Verstummen gebracht. Die Autoren verfolgen unterschiedliche Ansätze. Der Belgier Buelens spannt einen weiten Bogen, er untersucht die poetischen Beiträge als ein gesamteuropäisches Panorama. Ihn bewegt die Frage, was animierte die Lyriker – sei es im Gleichklang, sei es im Widerspruch - Krieg als die große Herausforderung für eine erneuerte Gesellschaft aufzunehmen. Der deutsche Steffen Bruendel befasst sich mit den Künstlern, Dichtern und Denkern im wilhelminischen Kaiserreich und in der Habsburger Monarchie. Alle seien infiziert gewesen, so Steffen Bruendel:
    "Das politische Engagement von Künstlern, Dichtern und Denkern war ein besonderes Phänomen des Ersten Weltkriegs. Sie suchten Stimmungen auszudrücken, Erlebnisse abzubilden und Ideen zu entwickeln. Künstler und Dichter schufen 1914/15 martialische Bilder und Skulpturen oder publizierten Kriegsgedichte und sogenannte Kriegsschriften. Philosophen, Historiker und Theologen bemühten sich, dem Krieg eine größere Bedeutung, einen höheren Sinn zu verleihen."
    Hurra-Patriotismus für Gott, Kaiser und Vaterland
    Kaum einer ahnte, dass er mit seiner Kriegsbegeisterung Wind säen und Orkan ernten würde. Während Steffen Bruendel mit seiner Studie "1914-Zeitenwende" ein erschreckend plastisches Bild des deutsch-österreichischen Hurra-Patriotismus für Gott, Kaiser und Vaterland zeichnet, verfolgt der Belgier Buelens auch einen übergreifenden Gedanken:
    "Es waren verwirrende Zeiten für Europäer. Begriffe wie Nation, Rasse und ‚Stamm waren in aller Munde, aber längst nicht jeder verstand darunter das Gleiche. Junge Staaten wie Deutschland und Italien befanden sich noch auf der Suche, nach dem, was sie eigentlich wollten und waren. Andere Länder wie etwa Großbritannien, Frankreich oder Portugal, die schon viel länger existierten, zeigten -wie etliche ihrer tonangebenden Bewohner meinten - Spuren von Verschleiß und Verfall. Und dann gab es noch die viel zahlreicheren Völker, die einen eigenen Staat anstrebten und auch bereit waren, ihn durch Revolution und Kampf zu erringen."
    Propheten einer neuen Zeit
    Die Lyriker, so Buelens, standen dabei in vorderster Front als Propheten einer neuen Zeit. Sie setzten auf eine Erhebung des Geistes, der frischen Wind in die vermoderten Verhältnisse blasen sollte. Weit gefächert ist das Material, das Buelens ausbreitet. Dichter in Lettland, Irland, Ungarn, in Flandern oder in Italien, in Frankreich, Deutschland und Russland erhoben ihre Stimme, um den Kontinent vor dem vermeintlichen Untergang zu bewahren. Sie scheuten nicht vor apokalyptischen Bildern zurück und brandmarkten wie zum Beispiel die Futuristen die Verkommenheit der Alten Welt. Für Buelens ist es kein Zufall, dass der Attentäter von Sarajewo, Gavrilo Princip, eigentlich Dichter werden wollte und Walt Whitman sowie Oscar Wilde las. Als gedanklichen Leitfaden durch seine Studie wählt der Belgier herausragende Dichter verschiedener Nationen, die tonangebend in ihren jeweiligen Ländern wirkten – sei es Fernando Pessoa in Portugal, Guillaume Apollinaire in Frankreich, Siegfried Sassoon in England, Wladimir Majakowski in Russland, Endre Ady in Ungarn, Ivo Andrić in Jugoslawien oder Gabriele d'Annunzio und Tommaso Marinetti in Italien.
    Das österreichische Thronfolgerpaar wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat im offenen Wagen. Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie wurden während eines Besuchs in Sarajevo erschossen.
    Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat im offenen Wagen. (dpa-Bildarchiv)
    Kriegsjahre im Spiegel der Literaten
    In zehn Kapiteln verfolgt Buelens mit ungeheurer Genauigkeit das politische und militärische Geschehen der vier Kriegsjahre im Spiegel der Literaten. Seine Kapitelüberschriften sind gute Wegweiser, so lautet das Eingangskapitel "Etwas liegt in der Luft", es folgt "Ein heißer Sommer" und bei Kriegsausbruch "Jetzt spricht der Stahl". Der belgische Literaturwissenschaftler beschreibt diesen Prozess, die Widersprüche und die merkwürdigen Analogien quer durch Europa mit bewundernswerter Klarsicht, auch wenn es dem Leser manchmal schwerfällt, den verzwickten Zeitläufen und Gedankensprüngen zu folgen. Buelens Fazit:
    "Die Lyrik des Ersten Weltkriegs ist eine Anklage, eine Analyse und eine Beschreibung; manchmal dient sie aber auch dem Ansporn und der Beschönigung. Vor allem ist es das Werk von Betroffenen -sie standen nicht über oder neben der Geschichte, sondern in ihrem Zentrum. Die Kriegskultur, die den Ersten Weltkrieg kennzeichnete, war in hohem Maße eine literarische und insbesondere eine poetische Kultur."
    Der Historiker Bruendel konzentriert sich in seiner Analyse, wie bereits erwähnt, auf Deutschland und Österreich, er befasst sich nicht nur mit den Dichtern, auch die Künstler und Wissenschaftler bezieht er mit ein. Der Kampf zwischen Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei hatte selbst solche Künstler und Akademiker erfasst, die später wegen ihrer sozialkritischen und pazifistischen Haltung im Gedächtnis geblieben sind. Im Mai 1915 schrieb der Maler George Grosz, der als 22-Jähriger zu seinem Bedauern für kriegsuntauglich erklärt wurde, in einem Brief:
    "Wunderbares Preußenland, herrliches, großes geeinigtes Deutschland mit Deinem prächtigen Militär! Du allein bist berufen, den Samen der Kultur in alle Barbarennationen zu träufeln, gegen die wir kämpfen müssen."
    In Preußen meldeten sich im August 1914 rund 260.000 Kriegsfreiwillige, darunter auch der 18-jährige Carl Zuckmayer, der früher dem Militärdienst skeptisch gegenüberstand, nun war er begeistert:
    "Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und von alldem was wir - bewußt oder unbewußt - als Saturiertheit, Stickluft Erstarrung unserer Welt empfanden... es war Ernst geworden, blutiger, heiliger Ernst und zugleich ein gewaltiges, berauschendes Abenteuer."
    Bruendel widmet sich der Gräuelpropaganda
    Steffen Bruendel setzt eigene Schwerpunkte, er befasst sich mit der Gräuelpropaganda, mit der die Kriegsgegner Deutschland verurteilten und die von deutscher Seite zum Beispiel durch den Aufruf von 93 Intellektuellen im Herbst 1914 widerlegt werden sollte. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann sind für ihn ein Paradigma, wie kontrovers der Kampf der Meinungen ausgetragen wurde. Bruendels Studie vermittelt ein anschauliches Bild über einen pathetischen Aufbruch, der in einer menschlichen Katastrophe endete. Oder um es mit den Worten des französischen Dichters Paul Valéry zu sagen, der 1919 ernüchtert feststellte:
    "Der Glaube an eine europäische Kultur ist dahin."
    Buelens, Geert: "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg". Übersetzt vonWaltraud Hüsmert. Suhrkamp, 459 Seiten, 26,95 Euro

    Bruendel, Steffen: "Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg". Herbig Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro.