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Erwachsen werden im wilden Liverpool

"Millie", der Debütroman von Helen Walsh, war in ihrem Heimatland Großbritannien ein großer und viel diskutierter Erfolg. Walsh wurde 1977 in der Nähe von Liverpool geboren, wo sie auch heute lebt. Liverpool ist Schauplatz von "Millie", nicht das Liverpool der Beatles, sondern das der 90er, als die schnellen, elektronischen Beats des Acid House vorherrschten und Ecstasy-Pillen die Droge der Wahl war.

Von Claudia Cosmo | 22.06.2006
    Millie O'Reilley ist eine wilde und leicht desorientierte 19jährige, die gerne einmal "um sich selbst weint", um sich dann als eine moderne Version der Emma Bovary zu fühlen.

    Findet sie aus ihren sexuellen Ausschweifungen und Drogenexzessen keinen Ausweg mehr, schlüpft sie einfach in die Rolle von Papas Kleinen.

    Millies Vater Jerry ist alleinerziehend, nachdem die Mutter eine Tages plötzlich das Haus verlassen hatte. Jerry scheint die Kontrolle über das Leben seiner Tochter verloren zu haben und hält mit gewollt kumpelhaftem Entgegenkommen die Kommunikation zu der erwachsen werdenden Millie aufrecht. Seine Einflussnahme beschränkt sich auf die Erstellung ihres Studienplans, während seine Tochter nur sporadisch zur Uni geht und lieber Mädchen anbaggert und sich in Kneipen aufhält. Millies Vater ist ein brillanter Theoretiker. Als Soziologieprofessor beschäftigt er sich mit der "Devianz im heutigen England". Dabei merkt er nicht, dass auch seine Tochter Millie von der Norm abweicht und oft brutale Verhaltensweisen zeigt.

    Helen Walshs Heldin fühlt sich im Nachtleben Liverpools am wohlsten. Die Autorin zeichnet das Bild eines "urban girl", eines Großstadt-Mädchens, das durch die erleuchteten Straßen wie der "Hope Street" schlendert, die einer Lebenslinie gleich, Millies Dasein zu bestimmen scheint.

    " Ich würde Millie als Metapher für Liverpool sehen. Millie ist auch verletzlich, offen und aufgeschlossen, immer auf der Suche nach Etwas. Millie ist eine zersplitterte Person, die hin und her gerissen ist von verschiedenen Ereignissen, die sich in unterschiedlichen Vierteln Liverpools abspielen. Sie hat eine Schwäche für Spaß und ist auf der Suche nach Vergnügung, speziell an den Wochenenden und kann davon nicht genug bekommen. Und dafür steht auch Liverpool. Ich sehe meine Stadt gerne als eine Person, die lebendig ist, die atmet, die sich entwickelt. Ich glaube, dass ich Millie nie in eine andere Stadt hätte hineinschreiben können. Mein Buch ist ein Liverpool- Roman und Millies Stimme gehört dorthin. Sie spricht nicht den reinen Liverpooler Slang mit Namen "Skaus". Millie ist viel unterwegs, und der Slang verändert sich auch schon, wenn sie in eine andere Straße einbiegt. Millie treibt sich mit ihrem besten Freund Jamie oft in Südliverpool rum, das multikulturell geprägt ist und wo ein weicher, rhythmischer Slang gesprochen wird, den Millie auch spricht."

    Der Roman ist aus zwei Perspektiven erzählt, einmal aus Millies und dann aus Jamies Sichtweise heraus. Jamie ist Millies bester Freund, mit dem sie ihre Freizeit verbringt und dem sie vertraut, obwohl er sie nicht immer versteht und ihr intellektuell unterlegen ist. Jamie stammt aus der Arbeiterklasse. Im englischen Original weist Jamies Ausdrucksweise viele Liverpooler Slangworte auf.

    Diese schönen sprachlichen Besonderheiten- wie zum Beispiel ständig ein -la an jedes Wort zu hängen- sind in der deutschen Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann nicht mit aufgenommen. Aber trotzdem vermittelt sich dem Leser ein ganz bestimmter der Groove der Stadt Liverpool.

    Helen Walshs Roman spielt in den 90er Jahren, in denen in Liverpool nicht mehr der Mersey-Beat von den Beatles oder von "Jerry and the pacemakers" vorherrscht, sondern die schnellen Beats der elektronischen Musik des so genannten Acid House.

    Neben lauten Partys ist Millie daran interessiert, schnellen Sex mit Mädchen zu haben und ihre Wahrnehmung mit Koks und Ecstasy-Pillen zu beeinflussen.

    Damit erinnert der Roman der 29jährigen Autorin thematisch an Irvine Welshs "Trainspotting" und huldigt explizit James Kelmans "The Burn". Helen Walsh beschreibt das Leben einer Generation, die alles darf, sich eigene Regeln aufstellt und keine Tabus kennt.

    In Millies Fall ist es der wahllose und hemmungslose Sex. Walsh schildert schonungslos detailliert, wie Millie mit einer Prostituierten Sex auf einem Grabstein hat oder ein verschüchtertes Schulmädchen auf der Toilette vergewaltigt. Die Autorin zeichnet das Bild einer Besessenen, die im Sexuellen Akt einen Kompensationsmodus gefunden hat und auch nicht scheut, bis an die eigenen psychischen und körperlichen Grenzen zu gehen.

    Innerhalb ihres Studiums hat sich Helen Walsh mit Pornographie beschäftigt und setzt deren häufigen Konsum mit den Wirkungen einer Droge gleich. So hält Millie selbstreflektierend fest: "Ich betrachte mich selbst als etwas völlig anderes, als eine Art geschlechtslosen Freak. Ohne Zweifel hat sich die Pornografie auf meine Wahrnehmung der Realität ausgewirkt."

    " Ich denke, dass mein Buch kein pornographischer Roman an sich ist. Und ich werde sehr wütend, wenn Leute ihn als solchen ansehen. Aber ich glaube, dass es nicht möglich ist, einen Roman mit einer 19jährigen Protagonistin in einer modernen Großstadt Ende des 20. Jahrhunderts zu schreiben, in dem Sex von Pornographie getrennt werden. Denn viele junge Menschen werden heute von Pornographie beeinflusst und ziehen ihr sexuelles Wissen daraus. Das geschieht wohl meist auf einer unterbewussten Ebene. Das ist genauso, wie junge Mädchen sich modisch an MTV orientieren. Ich denke dass Pornographie ein weites Feld darstellt und nicht nur allmählich Einzug erhalten hat, sondern einen wirklichen Angriff auf die Gesellschaft darstellt. Wir sind uns gar nicht bewusst genug, wie sehr Pornographie unseren Alltag beeinflusst. Wenn man ehrlich und offen über Sex schreiben möchte, kommt man nicht umhin, Sex in gewisser Hinsicht als pornographisch anzusehen."

    Das Interessante an der Figur Millie sind ihre zwei Gesichter: Auf der einen Seite kann sie hilfsbedürftig, einfühlsam und kindlich nervig erscheinen, auf der anderen Seite ist sie hart, kalkulierend, emotionslos und brutal. Auf den Leser wirkt Millies Verhalten faszinierend und abstoßend zugleich.

    Die Figur Millie gehört zu einem Protagonisten-Typus, den man zur Zeit in einigen Romanen junger Autorinnen wieder findet. Helen Walshs italienische Schriftsteller- Kollegin Alessandra Amitrano zum Beispiel erzählt in ihrem Roman "Broken Barbie" auch von solch einer verstörten jungen Erwachsenen, die sich genauso wie Millie im Körper eines Teenagers befindet, aber besonders in sexueller Hinsicht abgeklärt agiert.

    Dies bezeichnet die amerikanische Soziologin Ariel Levy als "Female chauvinist Pigs" - als "weibliche Chauvinisten-Schweine". Für Helen Walsh zählt Millie auch dazu, die ihren Mitmenschen oft in Macho- Manier entgegentritt und mit ihrer geschlechtlichen Identität nicht zurecht kommt.

    Helen Walsh thematisiert in ihrem Roman aber auch ihre eigene Auseinandersetzung mit feministischen Theorien, speziell mit den so genannten Gender-Studies von Judith Butler. Der Roman beschäftigt sich mit der Frage nach rollenspezifischem Verhalten und mit dem Aspekt der Loslösung davon.

    Leute wie Judith Butler haben es geschafft, jungen Frauen zu vermitteln, dass sie sich nicht über den sexuellen Akt an sich zu definieren haben, weder als heterosexuell, noch als homosexuell. Und das ist ein wichtiger Impuls für den Feminismus. Es ist eine sehr befreiende Erkenntnis für Frauen und auch für Männer. Millie hat keine Freundin. Sie ist sehr Maskulin in der Art wie sie denkt und lebt. Aber zugleich ist sie sehr weiblich, sie setzt dies auch als wirkungsvolles Instrument ein, um ihre Ziele zu erreichen. Sie ist zwischen den Geschlechtern hin und her gerissen. Sie ist ein Mischmasch beider Geschlechter.

    Helen Walshs Debüt erzählt aber auch über die Freundschaft zwischen Millie und dem jungen Jamie. Die beiden sind so mit sich selbst beschäftigt und durch die nächtlichen Verlockungen Liverpools abgelenkt, dass sie ihre für einander wachsenden Gefühle nicht bemerken und einordnen können.

    Diese zarten, sanften Momente des Romans, in denen Millie und Jamie auf die erleuchtete Stadt schauen und sich die bunten Lichter im Mersey-Fluss widerspiegeln stellt Helen Walsh den kruden, schonungslosen Passagen gegenüber und lädt den Leser zu einer Liverpooler Achterbahnfahrt ein.

    Helen Walsh: Millie, Roman, Kiepenheuer & Witsch 2006. 293 Seiten. 8,95 Euro.