Dienstag, 19. März 2024

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Erwachsenwerden, Krankheit, Tod und Abschied

Wer hat nicht schon einmal versucht, unter Wasser zu atmen? Als Kind von Freunden im Spaß mit dem Kopf unter Wasser getaucht - so lange, bis man zu ersticken meint?

Von Michaela Schmitz | 01.03.2005
    Genau an diese traumatischen, zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein verorteten Erlebniskomplexe knüpft Julie Orringer an: Mit ihrer ersten Kurzgeschichten-Sammlung, die jetzt unter dem Titel "Unter Wasser atmen" auf deutsch erschienen ist.

    Es sind neun Geschichten von Mädchen und jungen Frauen, die sich auf der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter befinden. Eine extrem konfliktreiche Lebensphase, die die Heldinnen zwingt, sich im Übergangsstadium zwischen Verlust und Neuanfang, selbst neu zu definieren. In Orringers Erzählungen ist es meist ein außergewöhnliches Erlebnis oder eine grausame oder leidvolle Erfahrung, die die Mädchen von einem Moment von Kindern zu Erwachsenen werden lässt. Dieser Katharsis-Effekt ist ein charakteristisches poetologisches Muster ihrer Kurzgeschichten.

    Wie in der ersten Geschichte mit dem Titel "Pilgerväter", in der die kleine Ella nicht nur die Krebskrankheit ihrer Mutter verkraften muss. Sie erlebt direkt mit, wie ein Mädchen beim Spielen unglücklich vom Baum stürzt und dabei stirbt.

    In der Erzählung "Der ebenste Weg ist voller Steine" verliert ein Mädchen ihren zu früh geborenen Bruder. Zeitgleich wird die jüdische Rebecca mit ihren erwachenden erotischen Sehnsüchten konfrontiert. Mit der geheimen Lektüre asiatischer Liebesbücher und anderen Tabubrüchen verletzen sie und ihre Cousine die religiösen Regeln.

    In der intimsten Geschichte mit dem Titel "Was bleibt" nimmt Helena beim Besuch im Disneyland Abschied von ihrer Mutter. Denn sie spürt, dass diese bald an ihrer Brustkrebs-Erkrankung sterben wird.

    "Der Isabel-Fish" ist nicht nur eine der besten Erzählungen im Band. Sie ist auch eine der wenigen ansonsten durchweg düsteren Geschichten, die mit einem positiven, hoffnungsvollen Ende schließt. Die vierzehnjährige Maddy soll nach einem Unfall, bei dem sie beinahe ertrunken wäre, mit einem Tauchkurs aktiv gegen ihre Ängste angehen. Das ist doppelt hart, denn sie muss nicht nur gegen ihr Trauma, sondern auch gegen die Demütigungen ihres Bruders Sage ankämpfen, der ihr die Schuld am Tod seiner Freundin Isabel gibt, die dabei ums Leben kam. Schließlich besiegt sie ihre Angst doch und lernt mit einer Tauchausrüstung buchstäblich, "unter Wasser zu atmen."

    Die Heldinnen der Kurzgeschichten spielen dabei immer die Rolle der unattraktiven, zu kurz Gekommenen. Außenseiterinnen, die nicht erwachsen werden können. Die, wie Maddy in "Der Isabel-Fish", in skurrile Hobbies wie "Kampffische züchten" fliehen oder, wie Tessa in der Erzählung "Obhut", in die Drogensucht flüchten.

    Leitmotivisch kehren die Themen des Erwachsenwerdens, Krankheit, Tod und Abschied, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung, Konflikte zwischen jüdischer und christlicher Religion, Angst vor kindlicher Gewalt und Repressionen wieder.

    Die Geschichten sind überwiegend konventionell erzählt. Ungewöhnlich sind allenfalls die verstreuten kurzen reflexiven Einschübe. Auffällig durch ein dem jugendlichen Alter der Heldinnen nicht angemessenes uneigentliches Sprechen. Momente, die auf autobiografische Hintergründe der Autorin Bezug nehmen, wirken dabei besonders authentisch. So stammt Orringer wie Helena aus einer Ärzte-Familie. Sie wuchs, wie Lila in "Stationen des Kreuzwegs", als Jüdin im christlich dominierten New Orleans auf. Wie Helenas Mutter in "Was bleibt" erkrankte ihre eigene Mutter an Brustkrebs, als die Autorin zehn Jahre alt war. Sie starb zehn Jahre später an den Folgen der Erkrankung.

    Und noch etwas fällt auf: die eigentümliche Erzählhaltung. Alle Erzählungen sind aus einer konsequenten Innenperspektive geschrieben. Aus einem eigenartig distanzierten Blickwinkel. Mit einer seltsam verzerrten Sicht auf die Wirklichkeit. Am ehesten lässt sich die optische Verschiebung mit dem Blick in ein Aquarium vergleichen. Ein Requisit, das nicht von ungefähr in der Titel-Story eine Schlüsselrolle einnimmt. Zum einen werden die Dinge im Aquarium durch das dicke Glas unnatürlich vergrößert. Ein ähnlicher Effekt tritt bei Orringers Erzählungen auf, wenn bestimmte, scheinbar nebensächliche Details in der Wahrnehmung der Heldinnen eine gewichtige Rolle bekommen. Zum anderen werden Dinge im Wasser verzerrt. Analog dazu sind bei Orringer typische surreale Verfremdungseffekte zu beobachten. Schließlich schaut der Betrachter immer von einer Außenperspektive auf das Geschehen im Aquarium. Ein Blickwinkel, der auch Orringers Erzählperspektive kennzeichnet. Denn sie ist von eigentümlicher Distanz zum Geschehen bestimmt. Diese Distanz bewirkt ein Gefühl der Fremdheit gegenüber der Realität. Ein kindlich fremder Blick auf eine Erwachsenenwelt und Wirklichkeit, mit deren Regeln die jungen Heldinnen in Konflikt geraten. Eine Perspektive, die, vielleicht weil sie noch ein letztes Mal "von unten" blickt, genauer sieht und schärfer zeichnet.

    Insgesamt sind die Erzählungen ambitioniert und konstruiert. Sie erinnern zu sehr an die Ergebnisse von Creative-Writing-Workshops. Orringers Debüt kann noch nicht durch eine eigene Sprache überzeugen.