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Erzählen heißt, Widerstand leisten

Roberto Saviano, Autor des Weltbestsellers "Gomorrha", kritisiert, dass Deutschland nicht ausreichend gegen die Mafia vorgehe. Die deutsche Zivilgesellschaft glaube, sie sei immun, warnt der italienische Journalist, der seit über zwei Jahren versteckt unter Polizeischutz lebt. Dabei bringe das organisierte Verbrechen enorme Kapitalmengen auch in Deutschland in Umlauf, die der legalen Wirtschaft nutzten.

Roberto Saviano im Gespräch mit Christoph Heinemann | 19.12.2008
    Christoph Heinemann: Sondereinheiten der italienischen Carabinieri haben in dieser Woche rund 100 mutmaßliche Mitglieder der sizilianischen Mafia festgenommen. Das ist ein Erfolg, aber solche Festnahmen bleiben so lange Pyrrhussiege, solange die Aufklärer in Italien unter Polizeischutz leben müssen, während sich die Mitglieder des organisierten Verbrechens in der Gesellschaft bewegen können wie die Fische im Wasser.

    Ein Aufklärer ist Roberto Saviano, der Autor des Bestsellers "Gomorrha - Reise in das Reich der Camorrha", der wegen Morddrohungen des organisierten Verbrechens Tag und Nacht bewacht wird. Im November war Saviano Gast der schwedischen Nobelpreis-Akademie und traf dort einen Leidensgenossen: Salman Rushdie, den Dichter der "Satanischen Verse". - Vor dieser Sendung hatten wir Gelegenheit, mit Roberto Saviano zu sprechen. Ich habe ihn gefragt, wie diese Begegnung mit Salman Rushdie verlief.

    Roberto Saviano: Das war eine sehr wichtige Begegnung. Salman Rushdie hat viele Jahre unter Polizeischutz gelebt. Jetzt lebt er frei in Amerika. Er hat mich beraten, wie man in einer so schwierigen Lage überlebt, mit den Personenschützern, den häufigen Wohnungswechseln, den Fluggesellschaften, die einen nicht mitfliegen lassen wollen und so weiter.

    Heinemann: Sie haben kürzlich die Vereinigten Staaten besucht. Könnten Sie sich vorstellen, im Ausland zu leben?

    Saviano: Ja. Ich denke, früher oder später werde ich gehen, um weiter schreiben zu können. Ein Leben unter Personenschutz hindert einen Schriftsteller daran, Schriftsteller sein zu können.
    Heinemann: Sind die Todesdrohungen gegen Salman Rushdie und jene, die Sie betreffen, vergleichbar?

    Saviano: Mein Fall und der Rushdies ähneln sich nur an einem Punkt: Wir sind beide Schriftsteller und haben das Leben unter Polizeischutz erlebt. Mein Buch wurde gefährlich, je mehr es gelesen wurde. Die Angst der organisierten Kriminalität gilt nicht mir, sondern meinem Leser. Hätte ich 10.000 Exemplare verkauft, an Stelle der zwei Millionen, hätte ich kein Problem bekommen. Die große Verbreitung der Botschaft durch das literarische Instrument hat diese Leute gestört.

    Salman Rushdie wurde unabhängig vom Erfolg der "Satanischen Verse" von Revolutionsführer Khomeini angegriffen. Allein die Tatsache, dass er über diese Dinge geschrieben hat, hat in deren Augen das beleidigt, was sie für die Moral des Islam halten.

    Heinemann: Wieso wird die organisierte Kriminalität, die Ähnlichkeiten aufweist mit dem fundamentalistischen Terrorismus, nicht mit der gleichen Entschiedenheit bekämpft?

    Saviano: Die Antwort ist vermutlich einfach: Das organisierte Verbrechen bringt enorme Kapitalmengen in Umlauf, die der legalen Wirtschaft nutzen. Wenn in der Europäischen Union auf einen Schlag alle illegalen Gelder verschwänden, verlöre diese in riesigem Umfang Liquidität. Ich erinnere mich gut an den Anschlag der 'Ndrangheta in Duisburg. Auf einmal interessierten sich alle für die Mafia in Deutschland. Deutschland ist ein Land, in dem sehr viel Mafia-Kapital in Umlauf ist. Nicht nur Geld der italienischen Mafia, sondern auch der russischen, weißrussischen, ukrainischen und nigerianischen. Alle diese Organisationen investieren in Deutschland. Die Aufmerksamkeit für die Mafia wurde aber bald darauf abgelenkt durch die Festnahmen der Fundamentalisten in der Nähe von Frankfurt am Main. Und das hat damit zu tun, dass die Mafia und deren Kapital ein Problem der Innenpolitik bildet, während der Fundamentalismus eine Bedrohung darstellt, die von außen kommt.

    Heinemann: Heißt das, dass Deutschland nicht ausreichend gegen die Mafia vorgeht?

    Saviano: Ich glaube nicht. Auch wenn die deutsche Polizei in den vergangenen Jahren mit der italienischen gut zusammengearbeitet hat. Aber das reicht nicht aus. Die deutsche Zivilgesellschaft glaubt immer noch, sie sei immun. Die meinen immer noch, Mafia sei eine italienische oder eine russische Organisation, die in ihrem Land Verbrechen begeht. Aber so ist das nicht. Da gibt es einen großen Nachholbedarf.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk - wir sprechen mit dem italienischen Journalisten und Buchautor Roberto Saviano, der wegen Todesdrohungen unter Polizeischutz lebt.

    Sprechen wir über die Lage in Italien: Sie sind gezwungen, versteckt zu leben wie ein Verbrecher, während Leute, die zum organisierten Verbrechen gehören ihr Leben genießen. Erfüllt Sie das gelegentlich mit Wut?

    Saviano: Ja, ein großer Teil meiner Wut stammt aus dem Vergleich mit denjenigen, die vor der Polizei auf der Flucht sind. Ich muss oft versteckt leben: Wohnungseigentümer wissen nicht, dass ich ihr Mieter bin. Wüssten sie es, würden sie mich vor die Türe setzen. Ich lebe oft im Verborgenen. Ein Freund mietet die Wohnung an. Wenn die Eigentümer herausbekommen, dass es sich um mich handelt, sorgen sie dafür, dass ich ausziehen muss. So etwas passiert jemandem, der wegen der Zughörigkeit zur organisierten Kriminalität gesucht wird, so gut wie nie.

    Heinemann: Viele haben sich zu Ihren Gunsten eingesetzt: Staatspräsident Giorgio Napolitano, der Erzbischof von Neapel, Kardinal Sepe, Politiker, Solidaritätsgruppen; im Staatsrundfunk RAI wurde eine Woche lang täglich aus Ihrem Buch "Gomorrha" vorgelesen - fühlen Sie sich von Ihren Landesleuten ausreichend unterstützt?

    Saviano: Staatpräsident Napolitano bin ich sehr zu Dank verpflichtet, wie auch vielen tausend jungen Menschen, die öffentlich aus meinem Buch gelesen haben. Das Problem ist, dass diese soziale Solidarität das Leben oft nicht erleichtert, auch wenn ich mich privilegiert fühle, weil mich so viele Menschen schätzen und das lesen, was ich schreibe. Trotzdem ist mein Leben ruiniert und wird wohl nie wieder so sein wie vorher. Man begegnet mir mit Misstrauen, ich werde beschuldigt, Süditalien zu diffamieren. Es gibt die Sprüche auf Hauswänden, Beleidigungen.

    Heinemann: Der Film "Gomorrha" hat beim Festival in Cannes gewonnen, gerade auch den Europäischen Filmpreis und wird möglicherweise für den Oscar nominiert. Das Buch ist in mehr Sprachen übersetzt als Alessandro Manzonis Werk "Die Verlobten", der große Klassiker der italienischen Literatur. Wie erklären Sie sich dieses internationale Interesse?

    Saviano: Einerseits durch den großen Hunger nach Geschichten über die organisierte Kriminalität. Und die italienische ist die bekannteste. Die Leser wollen die wahren Geschichten lesen, diejenigen über das neue Gesicht dieses organisierten Verbrechens - nicht mehr über die Zeit des "Paten.

    Und andererseits: Denken Sie daran, dass dieses Buch auch in Vietnam und den Vereinigten Arabischen Emiraten übersetzt wurde, Länder, die sich normalerweise nicht dafür interessieren, was in Italien geschrieben wird. Deren Interesse hat mit der Verbreitung der Fernsehserie "Die Sopranos" zu tun. Die Sopranos werde in der ganzen Welt gesehen. Es geht um italoamerikanische Mafiosi, die aus Kampanien, also aus Neapel stammen. Sehr viele Leser meines Buches wollen die Geschichte der echten Sopranos lesen - nicht mehr die Fiktion, sondern die Wirklichkeit.

    Heinemann: Roberto Saviano, glauben Sie, dass Ihr Buch das Bild Italiens im Ausland verändert hat?

    Saviano: Ich weiß nicht, inwiefern sich das geändert hat. Ich wollte den Blick auf das organisierte Verbrechen verändern. Das ist keine Bande von heruntergekommenen Lümmel, die mit der Schrotflinte um sich schießen. Es sind Geschäftsleute, das ist die ökonomische Avantgarde, die in der halben Welt investieren, und die Wirtschaft verändern. Ich glaube, ich habe gezeigt, dass Erzählen nicht bedeutet, etwas zu beschmutzen, sondern dass es heißt, Widerstand zu leisten.

    Heinemann: Glauben Sie, dass Ihr Leben jemals wieder normal sein wird?

    Saviano: Offen gesprochen, glaube ich nicht, dass mein Leben jemals wieder normal werden wird. Was geschehen ist, hat es vollständig verändert. Zum Leben, das ich hatte, werde ich nicht mehr zurückkehren können. Ich hoffe, dass ich eines Tages überhaupt wieder ein Leben werde führen können: spazieren gehen, eine Familie haben, einen Alltag zu haben, den sie mir weggenommen haben. Ich hoffe, dass ich das wieder aufbauen kann.

    Heinemann: Wie werden Sie Weihnachten verbringen?

    Saviano: Ich hoffe, dass ich meine Familie wiedersehen werden, die ich eine ganze Weile nicht gesehen habe. Sicher lässt man mich nicht nach Neapel zurückkehren. Also werde ich das Fest in irgendeiner norditalienischen Stadt verbringen. Zusammen mit den Polizisten, die mich seit zweieinhalb Jahren bewachen und die inzwischen Teil meiner Familie geworden sind.