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Erzähler von Format

Die Geschichte des gekündigten Postboten, von der sein 2006 erschienener Roman "Herr Jensen steigt aus" handelt, war wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Im vergangenen Jahr hat er in "Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR" mit den Mythen aufgeräumt, die sich weiterhin um das verschwundene Land ranken. Nun legt der 1971 in Leipzig geborene Jakob Hein mit "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht" einen neuen Roman vor, in dem sich kleine Avancen an den Dichterfürsten aus Weimar finden. Kein Grund zur Sorge: Wer den typischen Jakob Hein-Ton wiederfinden will, wird nicht enttäuscht werden.

Von Michael Opitz | 29.10.2008
    "Warum geht ein Gemüsehändler mit Abitur nur selten ins Kino und ein Krawattenverkäufer ohne Schulabschluss, der genauso viel oder sogar weniger verdient, regelmäßig in die Oper?"
    Diese für den Autor Jakob Hein typische Frage, findet sich in seinem neuen Roman "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht". Der praktizierende Arzt, der an der Berliner Charité als Psychiater arbeitet, gilt als Spezialist für komische Geschichten, die von merkwürdigen Zeitgenossen handeln. Mit Boris Moser steht in "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht" eine Figur im Zentrum, die - darin Herrn Jensen aus dem Bestseller "Herr Jensen steigt aus" vergleichbar - ein wenig neben der Spur läuft. Boris Moser ist nämlich Inhaber einer Agentur für "verworfene Ideen". Fördergelder für eine Ich-AG wären für diese Geschäftsidee sicherlich nicht geflossen. Zu recht, denn der Laden läuft nicht. Boris ist als Geschäftsführer zugleich sein bester Kunde. Er hat genügend seltsame Ideen, allerdings mangelt es an Käufern, die mit verworfenen Ideen etwas anfangen könnten. Denn die Zahl derer, die interessiert, welches Urinierbecken in einer Herrentoilette am häufigsten frequentiert wird und warum, ist entschieden zu gering, um daraus Kapital schlagen zu können.

    Doch über solche und ähnliche Fragestellungen denkt Boris nach. Dass es sich bei diesem Zeitgenossen um einen schrägen Typen handeln muss, ahnt auch die außergewöhnlich hübsche Rebecca Kron, die eines Tages seinen Laden betritt. Boris, der fasziniert von ihrer Erscheinung ist, will diesen glücklichen Augenblick möglichst lange auskosten. Als er merkt, dass sie ihm zuhört, erzählt er ihr von seiner Geschäftsidee. Der Sammler von Ideen, die keine Chance hatten, verwirklicht zu werden, bewahrt alles auf, nur keine Romananfänge, die er für gänzlich wertlos hält.

    "Boris denkt über Romananfänge aus so einer skurrilen Perspektive nach. Seiner Meinung nach kann jeder jeden Tag mehrere Romananfänge erfinden und wenn er anfangen würde, die auch noch mit ins Geschäft zu nehmen, würde der Laden bald aus allen Nähten platzen. Boris vergleicht die Romananfänge für seine Agentur mit Alan Parsons Project für Plattenläden. Weil er sagt: In jedem Gebraucht-Plattenladen auf der Welt wird man immer das Gesamtwerk von Alan Parsons Project finden und genauso wird man in Agenturen wie seiner - obwohl es ja nur seine gibt - immer Romananfänge in Hülle und Fülle finden. Das ist so eine Beobachtung, die ich selbst gemacht habe, dass in einem Plattenladen in Bangkok oder in Berkeley oder in Berlin The Alan Parsons Project "Tales of mystery and imagination" und viele ihrer anderen Platten immer sind - immer im Bestzustand."

    Jakob Hein hat ein Buch über Vergänglichkeit und Dauer geschrieben. Boris, der verhindern will, dass Rebecca seinen Laden wieder verlässt, verlegt sich aufs Erzählen, um sie so zum Bleiben zu bewegen. Dabei erweisen sich für die noch ganz am Anfang stehende Beziehung gerade die für überflüssig angesehenen Romananfänge als Schlüssel zum Erfolg. Boris setzt alle erzählerischen Finessen ein und macht Rebecca so auch deutlich, wie leicht es ist, sich Romananfänge auszudenken. Eine Schlüsselstelle aus Goethes "Faust"-Drama, jenes "Verweile doch", wird für den Protagonisten in Jakob Heins Roman zu einer verheißungsvollen Herausforderung. Liebend gern hätte er es, wenn sie verweilen würde. Bereits mit dem Titel des Romans "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht" - einer Zeile aus dem ersten Teil von Goethes Faust-Drama - und mit einer im Mittelteil des Romans erzählten Episode, in der Wolf als Mephisto Auftritt, macht Jakob Hein den "Faust"-Bezug deutlich. Zugleich aber ist er bemüht, die Anlehnung an die Tragödie diskret zu halten. Er belässt es bei Anspielungen und legt andere Geschichten wie ein Schleier um das geheime Zentrum. Die Idee zu dem Roman kam Jakob Hein in der Fremde.

    "Ich war eingeladen in Korea und die Koreaner baten uns, über ein Thema zu sprechen. Da ich weit genug weg war von Deutschland, habe ich mir "Faust" als Thema genommen, weil ich darüber lange nachgedacht habe. Als sich das dann weiter entwickelte, habe ich dann irgendwann den Entschluss gefasst - in aller Vorsicht und mit allem gebotenen Respekt vor dem großen Geheimrat - so einen Versuch zu starten. Das war so eine Art Initialzündung. Im Gegensatz zum Leser, für den sich der Roman von außen nach innen erschließt, bin ich beim Arbeiten eher vom anderen Ende gekommen. Es gibt vielleicht einen Kern in dem Roman, den man vielleicht sogar des Pudels Kern nennen könnte und darum herum gruppieren sich die anderen Hüllen, die eigentlich diesen Kern beschützen und verhüllen sollen."
    Im Mittelteil des Romans erzählt Boris der Besucherin Rebecca drei Romananfänge, die miteinander verwoben sind. Heiner, der sich nichts sehnlicher wünscht, als in Ruhe seiner Arbeit nachgehen zu können, wird von Wolf ins 15. Jahrhundert versetzt, wo er keinen medialen Ablenkungen ausgesetzt ist. Um einen Riss im Zeitkontinuum zu vermeiden, wird deshalb ein gewisser Heinrich aus seiner mittelalterlichen Studierstube in die Jetztzeit versetzt. Diese Geschichte - zweiter Romananfang - bekommt Sophia von einem erblindeten Schriftsteller diktiert, für den sie als Sekretärin arbeitet. Die engelsgleiche Schreibkraft, die zwar Gedanken lesen kann, hat allerdings Schwierigkeiten, den Text in den Computer einzugeben, weil ihr nur eine Tatstatur mit thailändischem Alphabet zur Verfügung steht. Nach einem Unfall - dritter Romanbeginn - erzählt Sophia diese Geschichte im Krankenhaus dem Nachtarzt, der an ihrem Bett wacht. Diese Anfänge ließen sich zu abgeschlossenen Romanen vollenden. Dass Boris keine Mühe hat, sie sich auszudenken, beweist die Richtigkeit seiner These: Romananfänge sind wertlos. Allerdings beeindrucken diese Geschichten Rebecca, weshalb sie ihm am Schluss - ohne zu fragen, ob sie es wagen darf - ihren Arm anbietet. Während er sich bei ihr einhakt, fragt er sich schon, ob es nicht andersherum richtig gewesen wäre. Boris, der ein weites Herz für sonderbare und deshalb verworfene Ideen hat, findet sein Glück, als er im entscheidenden Moment auf etwas zurückgreift, was ihm gänzlich überflüssig erschien. Die Lektion, die ihm dabei erteilt wird, ist überzeugend: Nichts, aber auch gar nichts, sollte man ausschließen, weil gänzlich Unmögliches sehr schnell Wirklichkeit werden kann.

    "Wir erleben also die verschiedensten Protagonisten, die nach allem Sachverstand glücklich sein müssten - ein reicher Schriftsteller mit einem Haus an einem schönen See, eine wunderschöne Frau, die Gedanken lesen kann, der die Leute alles auf die Lippen dichten, was sie nur selbst hören wollen, ein Arzt, der in einem großen Klinikum arbeitet - all diese Menschen, die eigentlich, wenn es sich irgendwie gehören würde, glücklich sein müssten, sind nicht besonders glücklich. Und der einzige, der am Schluss ganz zufrieden mit sich sein kann, ist Boris, der die Suche nach dem Glück für ein eher überzogenes Unterfangen hält. Dieses Element des zufälligen Glücks, des Glücks im Detail, findet sich auch immer wieder. Ich glaube, es gibt schon solche Motive, die ich probiert habe, durch den Roman hindurch zu entwickeln, damit dem Leser klar wird, dass es sich um ein Werk handelt und die Leute nicht denken: Ach, der hat sich da zwei Geschichten ausgedacht, und wusste nicht, wie er die zusammenklatscht, und dann hat er es so gemacht, sondern es ist tatsächlich auch so entstanden."

    Boris findet sein Glück eher zufällig, sodass Jakob Hein nicht nur Goethe, sondern indirekt auch Brecht seine Referenz erweist. Der Augsburger gibt in seinem "Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens" aus "Der Dreigroschenoper" zu bedenken, dass die nach Plan vorgehenden Glückssucher für dieses Leben nicht schlau genug sind. Wer nur den Kopf benutzt und glaubt, alles würde sich planen lassen, liegt häufig nicht nur im Leben, sondern auch beim Schreiben daneben.

    "Es gibt immer ein Moment, beim Entstehen eines Buches - jedenfalls bei mir - den man nicht 100 Prozent erklären kann. Es gibt immer so eine erzählerische Wahrheit, der man sich dann gerne beugt, also wenn irgendeine Geschichte dann selbst übernimmt, der man dann quasi schnell hinterher schreibt. Was dann ziemlich klar war, war, dass ich den Wunsch hatte, diesen Kern zu verpacken, und mich dadurch in aller Freundlichkeit zu distanzieren. Und dann kam mir die Idee, die ich lange hatte, mit dem Schriftsteller und seiner Sekretärin und diese komplexe Konstellation passten mir dann genau da rein. Die beiden waren wie geschaffen dafür, für eine erste Distanzierungsstufe. Dann hatte ich zwei Töne da. Einmal sozusagen wie der Schriftsteller erzählt und dann die Geschichte selbst, die von dem Schriftsteller erzählt wurde. Dann bot sich das schnell an, noch eine dritte Ebene zu finden und so entstand dann das Buch."
    Wie Jakob Hein in diesem Roman ganz verschiedene Geschichten zu erzählen beginnt, um sie schließlich zu einer zusammenzuführen, zeigt, dass er ein Erzähler von Format ist. Geschickt verpackt er mit den Mitteln der Komik den Kern des Romans im Mittelteil, zu dem er den Leser führt, indem er nach und nach die um diesen Kern gelagerten Geschichten wie Schleier lüftet. Ein kurzweiliges und dennoch in die Tiefe gehendes Buch, das voller Anspielungen steckt, die es lohnen, sich auf sie einzulassen.

    "Wir neigen dazu, die Vergänglichkeit von Dingen zu vergessen. Wir glauben, dass alle Informationen immer verfügbar sind. Diese Vergänglichkeit ist etwas, um die es zentral geht."

    Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht. Roman.
    Piper Verlag 2008, 176 Seiten. 16,90 Euro.