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Erzählerische Kunst

Stewart O'Nan hat sich innerhalb weniger Jahre und mit einigem Fleiß in die vorderste Reihe der amerikanischen Gegenwartsliteraten geschrieben. Mit seinem Förderer Stephen King hat er eine Vorliebe für die Überwindung von Genregrenzen gemein. In seinem neuen Buch "Letzte Nacht" verzichtet O'Nan gänzlich auf Effekte - und stellt sich in die große Tradition amerikanischer Erzähler.

Von Ulrich Rüdenauer | 10.03.2008
    "Der Blick des Mannes schnellt ängstlich zum Rückspiegel. Es ist noch zu früh, und außerdem ist er zu alt, um sich zu bekiffen - gut und gern fünfunddreißig, Doppelkinn, kakaobraune Haut, borstiger Ziegenbart und Koteletten -, aber vielleicht liegt es auch bloß an seiner Krawatte, dass er so seltsam aussieht, als er das Feuerzeug an den stählernen Pfeifenkopf führt. Er könnte Börsenmakler sein oder ein Verkäufer bei Circuit City, der gerade Kaffeepause macht, doch das Namensschild, das aus der offenen Lederjacke hervorlugt, zeigt einen garnierten Hummer über seinem Namen: MANNY. Auf seinem Schoß liegt, schwer wie ein Vorhängeschloss, ein an der Gürtelschlaufe befestigter dicker Schlüsselbund."

    Mit einem der Schlüssel wird Manny DeLeon an diesem Abend zum letzten Mal die Tür seines "Red Lobster"-Restaurants verschließen. Die "Red Lobster"-Kette befindet sich auf Erfolgskurs - für die Filiale in New Britain, Connecticut, gilt das allerdings nicht. Der Standort wird endgültig dicht gemacht. Geschäftsführer Manny ist der Regisseur der letzten Vorstellung "seines" Restaurants, und er ruft noch einmal die treuesten Mitarbeiter zusammen, um diesen Abend in Würde zu überstehen. Es ist kurz vor Weihnachten, ein Schneesturm kündigt sich an, ein Finale der traurigeren Art.

    Stewart O'Nans neuer Roman spielt in einem Diner, in einer einzigen Nacht, irgendwo in der Nähe eines Highways, der verspricht einen wegzubringen - hier könnten amerikanische Träume ihren Ausgangspunkt nehmen. Für O'Nans "ganz alltägliche Leute" ist dieser Ort eher eine Endstation. Ein vermeintlich rettender "Hafen" für Gestrandete, der allerdings von den Schneemassen verschluckt wird.

    Manny ist ein gutmütiger und irgendwie eigenschaftsloser Geschäftsführer: Er hat alles einigermaßen im Griff, auch an diesem Abend, er kümmert sich um sein Personal, versucht die wenigen Gäste zufrieden zu stellen, schluckt kleine Demütigungen und bügelt Pannen aus, ist so akkurat wie man als leitender Angestellter nur akkurat sein kann. In dem peniblen Blick des Geschäftsführers auf die Details offenbart sich aber schon eine melancholische Verkennung: Die registrierten Kleinigkeiten werden sofort ins nostalgische Gedächtnisarchiv verfrachtet.

    "Es dürfte eigentlich keine Überraschung sein, dass sich sein Körper jede Einzelheit im Lobster eingeprägt hat, aber heute wirkt alles fremd und bemerkenswert, kostbar, weil es schon fast verloren ist."

    Noch die alltäglichsten Dinge erfahren einen immensen Bedeutungszugewinn; an ihnen klebt plötzlich die Wehmut. Beinahe lässt Manny sich dazu hinreißen, den dekorativen Schwertfisch von der Wand zu schrauben und nach Hause zu entführen.

    Man kann sich die Szenerie, die Stewart O'Nan aus der Perspektive des einen Ort für immer Verlassenden mit unglaublicher Eindringlichkeit aufbaut, auch als Leser bis ins Detail hinein vorstellen. Das liegt an der sehr unaufdringlichen, erzählerischen Kunst Stewart O'Nans, aber auch an der größten Kunst Amerikas selbst: Bilder zu produzieren, die etwas Allgemeingültiges haben, überall auf der Welt funktionieren, einfach und treffend einen Zustand illustrieren. Man kann machen, was man will - die Bilder von Amerika sind schon da. Amerikanische Kleinstadtidyllen wie bei Frank Capra (oder im Zweifel bei David Lynch), die ganzen filmreifen amerikanischen Verlierer wie bei Nikolas Ray (oder bei Edward Hopper), die Restaurants, die so gar nichts mit alteuropäischer Geselligkeit zu tun haben: professionelle Servicestationen zur Nahrungsaufnahme, ein aufgesetzt freundliches Personal und ein Höchstmaß an Effizienz. Einstudierte Höflichkeit. Das alles ist in diesem Buch, und zugleich ist da eine Verzerrung, die den bekannten Bildern eine Unschärfe verleiht, als würden die Schneeflocken vor der Linse tanzen und die Konturen leicht verwischen oder zumindest durchlässiger machen. Das erzeugt einen gelungenen Effekt: Stewart O'Nan benutzt das Klischee, um es zugleich in seiner Brüchigkeit vorzuführen. Die Figuren, allen voran Manny, sind tatsächlich Gestrandete an diesem Hafen, der geisterhaft erscheint, wenn die Neonlichter ausgeknipst werden.

    Vieles geht am letzten Abend, an den Manny wie an ein Schicksals- und Lotterielos glaubt, schief: Noch einmal versucht er eher erfolglos, die Rivalitäten der Belegschaft auszutarieren. Er fällt beim Versuch, den Wagen eines Gastes anzuschieben, wie eine Slapstickfigur in den Schnee. Und die Frontscheibe seines Autos wird mutwillig zerstört. Das aber ist alles nichts gegen die misslingende Hoffnung, mit sich und einer längst noch nicht ausgelöschten Liebe ins Reine zu kommen: Mit Jacquie, einer der Servierinnnen, hatte Manny eine Affäre, zumindest lautet so die offizielle Lesart der beiden. Manny allerdings, der zögerliche, zaudernde Manny hätte sein altes Leben wagemutig für ein neues mit Jacquie eingetauscht.

    "Er kann sich nur noch an Standbilder erinnern - ihr schwarzes Haar nass und schwer vom Duschen, ihre Strümpfe über einen Stuhl gehängt, das Licht vom Fenster in dem Glas Wasser auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefangen -, doch statt mit der Zeit zu verblassen, sind diese Bilder noch kraftvoller geworden und können ihn lähmen, wenn er ihnen zu lange nachhängt."

    "Letzte Nacht" ist ein heruntergebremster Roman; ganz andere Figuren als Speed Queens oder Kings reisen hier durch die Nacht: Sie bewegen sich langsam in eine unsichere Zukunft hinein, die Zeit erfährt keine Beschleunigung, sondern wird gedehnt - so lange sich ein Abschied eben dehnen lässt. Und erzählerisch wunderbar umgesetzt: Das Ende kommt dann doch ganz rasch und unspektakulär. Alle verabschieden sich voneinander, es dauert nur ein paar Minuten, auch Jacquie verschwindet einfach so mit ihrem Freund Rodney. Manny fährt mit seinem demolierten Auto nach Hause, müde wie er ist von der "Dramatik" dieser Stunden - so pathetisch empfindet er das Profane. Die Illusion, dass am nächsten Tag alles so weiterginge wie am vorhergegangenen, nimmt er mit ins Bett.

    Was es für ein Erwachen gibt am nächsten Morgen, muss man sich als Leser selbst erträumen: Manny wird sich arrangieren mit einem neuen Job, mit einer Familie, mit seiner Mittelmäßigkeit. Nur manchmal, wenn er an dem Gebäude vorbeifährt, das einmal das Red Lobster war, wird er sich vielleicht eine kleine Sentimentalität erlauben und zurückdenken an Jacquie und an die letzte Nacht, an ihren Blick, den sie ihm zum Abschied als Ersatz für einen Kuss zugeworfen hat. Ein kleiner Melancholieflash - nicht mehr, nicht weniger.

    "Hier hat sie ihn ein Dutzend Mal geküsst, sich an ihn gedrückt trotz seiner nicht richtig ernst gemeinten Beteuerungen, dass man sie erwischen würde. Einige der staubigeren Dosen haben das wahrscheinlich damals miterlebt - die Maraschinokirschen und die Maiskölbchen vielleicht. Es erscheint ihm nicht richtig, dass sogar diese leicht verderblichen Waren das überdauert haben, was er einmal als immerwährend betrachtete - eigentlich immer noch betrachtet -, aber da stehen sie, als unumstößlicher Beweis."

    Dieser Absatz ist ein wunderbares Beispiel für die Lakonik von O'Nans schmalem Buch, das vom menschlichen Sehnen nach einer den Moment überdauernden Liebe handelt - und von der Wirklichkeit, gegen die diese Sehnsüchte unsanft prallen. "Einmal im Leben war er der Träumer", heißt es von Manny. Vergeblichkeit und Vergänglichkeit stecken in jeder Bewegung, in jedem Gedanken, in jedem Satz - und doch stemmen sich die Helden müde gegen das Eingeständnis, ihre eigenen Träume verpasst zu haben.

    Das Land, das die Shiny Happyness zur Grundform menschlicher Existenz erhoben hat, hat zugleich die melancholischsten, traurigsten, lebensdüstersten Autoren hervorgebracht - zu denen nicht nur Raymond Carver oder Richard Yates gehören, sondern auch Stephen King oder Stewart O'Nan. Die notorische deutsche Schwermut kommt an diese Form der Melancholie und Einsamkeitsangst und Leere nur ganz selten heran, vielleicht weil die amerikanische Spielart nicht so prätentiös ist, sondern auf schlichte Weise wahr.

    Wahrheit, wird man jetzt stöhnend und höhnend hervorstoßen, keine Kategorie des Literarischen. Fürwahr, aber doch der Literatur: Die tiefere Wahrheit entscheidet nämlich über den Geist eines Buches, ist das, was es zusammenhält und was über es hinausweist. In diesem Sinne darf man "Letzte Nacht" ein wahrhaftes Buch nennen. Das Spannende daran und das Neue bei Stewart O'Nan ist, dass eigentlich nichts geschieht: Nur dass einer das Licht ausmacht und sich in sein Leben fügt.


    Stewart O'Nan: Letzte Nacht
    Deutsch von Thomas Gunkel
    Marebuchverlag, Hamburg 2007
    159 Seiten, 18 Euro