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Erzählsalons in der Lausitz
Schmerzliche Erfahrungen mit anderen teilen

Einfach mal reden: In der Lausitz, wo nach der Wende Zehntausende arbeitslos wurden, sind viele schmerzliche Erfahrungen nicht verarbeitet. Helfen sollen sogenannte Erzählsalons, die auch schon mal in einem urigen Gasthaus stattfinden können.

Von Vanja Budde | 12.10.2016
    Ein verfallenes Haus in Haidemühl bei Proschim in Brandebburg
    Ein verfallenes Haus in Haidemühl bei Proschim in Brandebburg (picture alliance / ZB / Jens Kalaene)
    Im urigen "Gasthof Colorado" in der Straße der Jugend in Sedlitz sitzen neun Männer und Frauen um einen großen Tisch im Hinterzimmer. Junge und alte, geborene Sedlitzer und neu hinzugezogene.
    Der Erzählsalon ist kein Stammtisch: Niemand darf unterbrochen werden. Jeder hat zehn Minuten Zeit, um seine Geschichten zu erzählen – darüber, wie das früher war, als alle Arbeit in der Braunkohle hatten. Und was nach der Wende passiert ist, als die Förderbänder angehalten, die Tagebaue geschlossen und von 40.000 stolzen Bergmännern mehr als 30.000 arbeitslos wurden.
    "Selbst in unserer Familie sind Menschen seelisch kaputt gegangen, richtig kaputt gegangen, haben sich nie wieder erholt."
    "Wer seine Geschichte erzählt, wird stark und auch selbstbewusst"
    Das Dorf am Rand eines ausgedienten Tagebaues sei damals wie tot gewesen, erzählt Ortsvorsteher Steffen Philipp. Der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, ja sogar alte Freundschaften zerbrachen, weil jeder nur für sich allein ums Überleben kämpfte. Schlimme Zeiten. Von denen man sich erzählen muss, um sie zu verarbeiten, meint die Salonniere, Katrin Rohnstock:
    "In den Geschichten steckt unsere Identität. Wer seine Geschichte erzählt, wird stark und auch selbstbewusst. Und der Zuhörer erfährt damit den Menschen. Und indem man erzählt, verarbeitet man auch Frust und Trauer und kriegt auch wieder neue Hoffnung, was zu machen. Und das ist das eigentlich Wichtige."
    Katrin Rohnstock betreibt in Berlin eine Firma, die Biografien und Memoiren von ganz normalen Menschen schreibt. Die aus Thüringen stammende Literatur- und Sprachwissenschaftlerin hatte die Idee der Erzählsalons in der gebeutelten Lausitz. Die Biografien der Menschen hier seien nach 1989 diffamiert worden, rügt Rohnstock. Wenn die Dorfbewohner sich gegenseitig diese schmerzlichen Erfahrungen erzählten, seien sie anschließend wieder offen für Neues.
    "Wir wollen ja, dass die Leute ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht darauf warten, dass der liebe Gott kommt und für sie etwas einrichtet."
    Oder die tschechische Holding EPH, die am 30. September die Braunkohlesparte von Vattenfall und damit die vier letzten aktiven Tagebaue in der Lausitz übernommen hat. Davon ist heute Abend nicht die Rede: Sedlitz liegt zwischen längst ausgekohlten Tagebaugruben, die sich mit Wasser gefüllt haben und heute Seen sind.
    Nun soll die Epoche des Tourismus anbrechen
    Ortsvorsteher Philipps hofft auf den Ausbau eines kleinen Hafens, eines Strandes, eines Wohnprojektes am Wasser. Nach Landwirtschaft und Braunkohle soll nun die Epoche des Tourismus anbrechen.
    "Unsere Chance liegt jetzt wirklich darin, dass die Seen so erschlossen werden, dass wir alle noch einen runden Lebensstandard erleben werden hier. Jetzt könnte es explosionsartig nochmal nach vorne gehen hier. Das sind jetzt die nächsten zehn Jahre, die hier wirklich etwas bewegen könnten in unserer Gegend. Und wenn das wirklich so wird, dann haben unsere Kinder hier Bedingungen, paradiesisch. Und dann werden die Kinder auch gerne bleiben, weil sie sich hier verwirklichen können."
    Derzeit verlassen viele junge Leute die Lausitz, um Arbeit zu finden. Der traditionsreiche Sedlitzer Karnevalsverein ist gerade eingegangen und auch der Sportverein tut sich schwer. Doch die hier am Tisch Versammelten wirken hoffnungsfroh. Erzähl-Motto dieses zweistündigen Abends ist denn auch: "Was ich für die Zukunft von Sedlitz tun kann."
    "Ich denke, in Sedlitz steckt viel Potenzial und der Erzählzirkel hat gezeigt, wie viele kreative Köpfe hier bei uns sind."
    "Ich bin in den Erzählsalon gekommen, weil ich neugierig bin, was so manch anderer Sedlitzer von der Zukunft erwartet von Sedlitz."
    "Ich hab' hier viele tolle Sachen erfahren, die im Alltag an einem vorbei gehen weil man die Zeit nicht mehr hat."
    Keine Zeit, mal inne zu halten und sich zuzuhören. Ein Jahr lang wurden die Erzählsalons in sechs Orten der Lausitz in Brandenburg und Sachsen vom Bund gefördert, diese Zeit ist vorbei. Doch es soll weiter gehen: Ehrenamtliche Salonniers werden die Moderation der Treffen übernehmen. Um Lethargie und Frust durch die Macht der Worte in Hoffnung und neuen Zusammenhalt zu verwandeln.