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Erzählungen über Menschen im Ausnahmezustand

Die große alte Dame der kanadischen Literatur, Alice Munro, ist vor allem im Genre Short Story erfolgreich. In ihrem jüngsten Erzählband "Zu viel Glück", angesiedelt im Milieu der kanadischen Mittelschicht, geht es um Liebe und Hass, um Menschen im Ausnahmezustand.

Von Gabriele Killert | 02.11.2011
    Alice Munro ist als Erzählerin das, was man "sophisticated" nennt. Mag das Leben auch absurd erscheinen, bei ihr geschieht nichts ohne Hintersinn. Da leben zwei Menschen, Rich und Nita in ihrem alltäglichen Ehetrott so dahin, als würden sie ewig leben. Sie wiegen sich in trügerischer Sicherheit.

    "Aber dann geschieht etwas. Und alles geht ganz anders aus."

    Nita erkrankt unheilbar an Krebs, doch nicht sie, sondern der lebenssprühende Rich stirbt plötzlich mit 81, kerngesund, wie ihm der Arzt eben noch bescheinigt hatte. Und während sie noch trauert, wird sie eines Tages in ihrem Haus überfallen. Der Mann verlangt etwas zu essen und dann die Autoschlüssel. Bevor er sich mit dem erbeuteten Fluchtwagen davon macht und tödlich verunglückt, schildert er in allen Einzelheiten die Bluttat, die er gerade begangen hat. Zuerst hat er seine an den Rollstuhl gefesselte, ungeliebte Schwester erschossen und dann die Eltern gleich hinterher, weil der Vater drohte, ihn zu enterben. Er redet wie die schizoiden Typen in amerikanischen Filmen, die alleinstehende Frauen oder Kinder in Einfamilienhäusern terrorisieren. Und wie in diesem beliebten Unterhaltungsgenre schaut auch bei Nita, nachdem das Grauen vorbei ist, ein besorgter Verkehrspolizist vorbei, um zu fragen, ob sie ihr Auto nicht vermisst.

    "Sie haben nicht gewusst, dass es gestohlen wurde? Es folgte eine freundliche, strenge Unterweisung. In Sachen Autoschlüssel, die stecken gelassen werden. In Sachen Frauen, die allein leben. Heutzutage kann man nie wissen. Man kann nie wissen."

    Der gute Polizist weiß natürlich nicht, welches Drama sich in Nitas Küche abgespielt hat. Er weiß nicht, wie falsch er liegt und wie Recht er doch hat mit seiner Ermahnung im Wortsinn: Man kann nie wissen. Zweimal steht der Satz da, ein Beispiel für das, was man sophisticated nennen muss an dieser Erzählerin, eben wegen der double bind-Bedeutung: Sieh dich vor, aber du kannst dich nicht vorsehen, kannst nicht abwenden, was unabwendbar geschehen wird aus einer Richtung, die du gar nicht vermutet hast. Da geht in einer anderen Geschichte eine Ehe in die Brüche, weil der Mann sich in eine andere verliebt hat. Und diese andere ist eine ganz unscheinbare Frau, von der gar keine Gefahr auszugehen schien. Meistens sind es bei Alice Munro Frauen im mittleren Alter, für die plötzlich eine Welt zusammenbricht. Und dann geschieht wieder das Unwahrscheinliche: der Zusammenbruch erweist sich als produktiv, das große Unglück nimmt für die Betroffene am Ende doch noch eine glückliche Wendung.

    Ein besonders eklatantes Beispiel für diese turbulente Gefühlsdialektik, um die bei Munro alles kreist, liefert das Beziehungsdrama zwischen Doree und Lloyd. Auch hier ist die Katastrophe, die über dieses Paar hereinbricht, nicht vorhersehbar. Obwohl zwischen den beiden schon lange nichts mehr stimmt, Lloyd sie auf vielfache Weise drangsaliert, bezeichnet Doree ihre Ehe als "glücklich". Sie unternimmt lange nichts, doch eines Abends läuft sie nach einem Streit weg und verbringt die Nacht bei einer Freundin. Als sie am nächsten Morgen zurückkommt, sind ihre drei kleinen Kinder tot. Erstickt, erwürgt durch den Vater, um, wie er sagt, ihnen Leid zu ersparen.

    Wir erfahren die Umstände dieses Amoklaufs und seine Folgen peu à peu - wie oft bei Alice Munro - in Rückblenden. Zu Beginn der Geschichte sehen wir die junge Frau im Bus auf dem Weg zur Anstalt, wohin man den Geistesgestörten weggesperrt hat. Von dort schreibt er ihr gefühlvolle Briefe. Er sei wieder gesund. Er habe die Kinder gesehen im Himmel, es gehe ihnen gut, sie seien "glücklich und vergnügt". Und das Erstaunliche geschieht: Sie hält zu ihm. Sein Wahn wird auch für sie zu einer rettenden "Zuflucht".

    "Und wer hatte ihr die gegeben? Lloyd hatte sie ihr gegeben. Lloyd, dieser schreckliche Mensch, dieser isolierte und wahnsinnige Mensch. Wahnsinnig, wenn man es so nennen wollte. Aber war es nicht möglich, dass stimmte, was er sagte? Und wer wollte sagen, dass die Visionen eines Menschen, der so etwas getan und solch eine Reise zurückgelegt hatte, nicht etwas bedeuten konnten? Dieser Gedanke schlängelte sich in ihren Kopf und blieb dort. Fast zwei Jahre lang hatte sie keinerlei Notiz von den Dingen genommen, die Menschen im Allgemeinen glücklich machen, wie schönes Wetter oder blühende Blumen. Sie verspürte immer noch nicht dieses spontane Glücksgefühl, aber doch eine leise Erinnerung daran."

    Alice Munros Erzählen steht erkennbar in der Tradition der conte moralisé. Die Menschen verlangen zu viel vom Leben, vom Glück und tun viel zu wenig dafür. Hier wird ihnen ein bisschen Nachhilfeunterricht erteilt in Fragen der guten und richtigen Lebensführung nach der Methode: Aus Schaden wird man klug. Wenn man ihn erkennt und noch Zeit genug bleibt, es besser zu machen. Denn da gibt es ja auch noch den Tod, das definitive Ende aller Irrtümer und Versäumnisse.

    Alice Munro ist zweifellos eine raffinierte Erzählerin. Sie investiert viel Kunstfertigkeit ins Dramaturgische, in das Setting, die Montage aus Erzählgegenwart und Rückblenden. Die labyrinthische Konstruktion hat natürlich Methode. Die Verwirrung und Desorientiertheit der Figuren, die sich mühsam aus dem Chaos heraus arbeiten, soll auch der Leser nachvollziehen. Aber da liegt leider auch ein Problem. Die erschwerte Navigation absorbiert die Aufmerksamkeit völlig, das innere Drama bleibt dabei auf der Strecke. Man wundert sich, dass einem die Geschichten, diese Stoffe aus dem Schreckensarsenal der "Vermischten Nachrichten" nicht wirklich nahe gehen. Man fühlt sich bisweilen an die einschlägigen Fernsehdokumentationen über Menschen mit so genannter "posttraumatischer Belastungsstörung" erinnert. Die Betroffenen, die nicht erkannt werden wollen, werden als Fallbeispiele vorgeführt. Man sieht sie bei Spaziergängen im Wald, das Gesicht wird von einer Kapuze oder von Blattwerk verdeckt, die Stimme verfremdet. Im Kommentar ist von ihrem "Leidensweg", von gebrochener Seele die Rede, doch der Film verfügt nicht über die künstlerischen Mittel, dieses Leiden wirklich spürbar werden zu lassen.

    Auch Munros Sprache ist zu schwach, es fehlt ihr an Intensität und Imaginationskraft, um der zerstörerischen Macht der Leidenschaft oder der Lauheit, um die es in ihren Geschichten geht, angemessen zu sein. Hier bleibt bei allem Respekt ein großes kritisches Fragezeichen.