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"Erzwungene Wege"

Die Absicht ein Zentrum gegen Vertreibungen in Deutschland zu errichten, hatte bei Bekanntwerden in Polen hohe Wellen geschlagen. Von Stillosigkeit, fehlendem Fingerspitzengefühl war die Rede. Inzwischen ist einige Zeit vergangen. Fragen an den Historiker Wilfried Rogasch, der an der Ausstellung "Erzwungene Wege, Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts" mitarbeitet.

31.01.2006
    Michael Köhler: Wilfried Rogasch, sie sind Historiker und Kurator, arbeiten mit an der Ausstellung unter dem Titel "Erzwungene Wege, Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts", was haben sie heute in Berlin vorgestellt?

    Wilfried Rogasch: Die Grundidee ist, dass wir Vertreibungen europäisch erinnern wollen. Das heißt, wir wollen nicht nur auf das Leid von 12 bis 14 Millionen deutschen Vertriebenen hinweisen, sondern wir wollen zeigen, dass es im zurückliegenden 20. Jahrhundert in Europa 30 Völker gab, die von Vertreibungen betroffen sind. Da sind auch Völker dabei, an die man gar nicht denkt, natürlich der Balkan aber auch die Finnen, auch die Italiener zum Beispiel. Italiener, die jahrhunderte lang an der dalmatinischen, istrischen Küste gesiedelt haben, sind 1945 vertrieben worden, weil der italienische Verbündete der Nazis auf dem Balkan natürlich verheerenden Schaden angerichtet hat. Und dann sind diese unschuldigen Familien 1945 sehr brutal aus ihren Heimatgebieten vertrieben worden. Und das wollen wir zeigen. Wir haben uns neun Fallbeispiel herausgesucht.

    Köhler: Das ist glaube ich der entscheidende Punkt. Konnten Sie vielleicht einen Verdacht entkräften, der sich schnell einschleicht, nämlich den der Opferhierarchie?

    Rogasch: Also Ralph Giordano, ein Mitglied unseres Beirates, sagte immer, die Humanitas ist unteilbar. Also, aus der Perspektive des Opfers ist es vollkommen gleichgültig, sage ich jetzt mal etwas provokant, ob eine ostpreußische Frau 1944/45 vergewaltigt und dann ermordet wurde oder ob eine jüdische Frau von Deutschen in das KZ nach Auschwitz gebracht wurde und dann ermordet wurde. Das ist meine Überzeugung, aus der Opferperspektive ist das vollkommen gleichgültig.

    Köhler: Sie werden zustimmen, dass eine Geschichte der Vertreibung nicht zu haben ist, ohne eine Geschichte der Gewaltherrschaft.

    Rogasch: Das zeigen wir auch. Aber interessanterweise zeigen wir auch, dass Vertreibungen nicht immer nur von Diktaturen begangen worden sind, sondern dass sie auch von der zivilisierten Völkergemeinschaft - nämlich vom Völkerbund - als Umsiedlung deklariert, geradezu als Frieden stiftendes Moment verkauft worden sind. In der Zwischenkriegszeit, als die gegenseitige Vertreibung von Griechen und Türken in Kleinasien stattfand, dann ist das nachträglich völkerrechtlich legitimiert worden als Bevölkerungsaustausch. Das ist natürlich vollkommen verharmlosend. Und 90 Jahre später, im Friedensabkommen von Dayton, ist das revidiert worden. Da hat man den Bosniern ihr Heimatrecht, ihr Rückkehrrecht schriftlich verbrieft. Also es ist durchaus nicht so, dass immer nur im Zuge von Kriegshandlungen oder im Zuge von Expansionsdrang der Nationalsozialisten oder der Sowjetunion Vertreibungen in Europa stattgefunden haben, sondern es gibt sie auch in anderen Zusammenhängen. Und diese Zusammenhänge werden wir natürlich historisch aufarbeiten und dann in der Ausstellung präsentieren, damit uns da nicht irgendwie unsauberes Handwerk vorgeworfen werden kann.

    Köhler: Es macht auf mich ein bisschen den Eindruck, dass das heute vielleicht so eine Art Testlauf war. Wir beurteilen Sie nach den genannten Ereignissen - also Regierungswechsel in Deutschland und Polen, die heftigen öffentlichen Reaktionen, die heftige polnische Kritik, aber auch der ausdrückliche Wille im Koalitionsvertrag für ein sichtbares Zeichen, und auch nach der großen Bonner Ausstellung über Fluchtvertreibung und Integration - die Chancen jetzt ein für ein solches Zentrum?

    Rogasch: Ich glaube, dass hinter den Kulissen und auch schon vor den Kulissen die heftigsten Gegner und die heftigsten Befürworter vielleicht ein bisschen erschöpft von dem ersten auch sehr polemischen Schlagabtausch sind. Und dass man jetzt einfach ein bisschen vernünftiger aufeinander zugeht, das ist meine Hoffnung. Und das passiert. Das passiert zwischen CDU und SPD, wobei es ja nie so war, dass alle in der CDU dafür waren und alle in der SPD dagegen, sondern das war sehr, sehr unterschiedlich. Also das gibt es. Und es gibt auch Annäherungen zwischen Polen und Deutschen. Ich selber war in den vergangenen Wochen und Monaten viele, viele Male in Polen. Und auch dort gibt es Museumskollegen, die mir sagen, ja, wir beteiligen uns mit Leihgaben. Wir nehmen euch das ab, dass ihr ernsthaft vorhabt, auch die Vertreibungen von Polen durch die Nationalsozialisten zu dokumentieren.