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"Es fehlt noch eine Lebensbescheinigung"

57.000 Holocaust-Überlebende haben eine Ghetto-Rente beantragt. Fast die Hälfte der Anträge kommt aus Israel. Ihre Ansprüche erheben sie für Arbeiten im Dritten Reich, für die sie als Juden keine Rentenbeiträge zahlen durften.

Von Sebastian Engelbrecht | 03.04.2011
    Sie wohnt in Kirjat Jam, zehn Kilometer nördlich von Haifa am Mittelmeer. Es ist eine Stadt aus Plattenbauten, aus anonymen Betonquadern. Dieser Ort könnte sich auch irgendwo in Osteuropa befinden, in Litauen, in der Ukraine oder in Rumänien. Bronja Izak, 84 Jahre alt, hat den Rollator losgelassen und mit Mühe auf dem Cord-Sofa Platz genommen. Sie hat kurze rote Haare, trägt eine dunkelblaue Trainingsjacke. Es ist ein kalter, regnerischer Tag. Bronja sieht zum ersten Mal seit 66 Jahren einen Deutschen, und - wie später zu erfahren ist - fragt sie sich in diesem Moment, "ob sie das überlebt". Bronja Izak zieht ein braunstichiges Familienfoto aus den 30er-Jahren aus einem schwarzen Plastiktäschchen:

    "Das ist meine Mutter, und das ist mein Bruder, und das ist mein Bruder, der war in Deutschland auch, und der war in Deutschland, und der war in Deutschland und der und ich - das bin ich."

    Die Mutter und drei Geschwister wurden von den Deutschen während der Shoah ermordet, Bronja Izak überlebte das Ghetto. Mit ihr überlebten zwei Brüder.

    "Dieser gestorben, und der ist gestorben, jetzt bin ich geblieben allein. Einer allein."

    Bronja Izak wünscht sich nichts sehnlicher als einen Menschen, der sie besucht. Eine Pflegerin, die Zeit hat, mit ihr spazieren zu gehen. Drei Mal in der Woche kommt eine Frau, die für sie einkauft und kocht, für jeweils zwei Stunden, vom Staat bezahlt. Aber Bronja Izak will nicht nur versorgt werden. Sie will leben. Wenn die Ghetto-Rente aus Deutschland endlich käme, könnte sie sich die Besuche eines Pflegers leisten. Ohne die Zusatzrente geht es nicht. Die 400 Euro Mindestrente vom Staat Israel und die 290 Euro Rente für Überlebende des Holocaust reichen nur für Miete, Essen und Kleidung. Zweieinhalb Jahre hat Bronja Izak im jüdischen Ghetto Schaulai in Litauen gearbeitet, in den Jahren 1941 bis 43, bevor sie ins Konzentrationslager Stutthof deportiert wurde.

    "Ich habe Kartoffeln ausgelesen, im Torf gearbeitet, wohin man mich schickte. Jeden Tag was anderes. Schnee habe ich geräumt, alles das habe ich gemacht."

    Es war keine Zwangsarbeit, sondern freiwillige Arbeit, gegen Entgelt, in einem vom Deutschen Reich besetzten Land. Für diese Arbeit hat Bronja Izak einen Rentenanspruch, auch wenn sie als Jüdin damals natürlich in keine Rentenkasse einzahlen durfte. Nach dem deutschen "Gesetz zur Zahlbar-Machung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" aus dem Jahr 2002 hat Bronja Izak vor einem Jahr ihre Rente beantragt. Zuständig für Anträge aus Israel ist die Deutsche Rentenversicherung im Rheinland. Im Januar meldete der "Spiegel", immer noch warteten 50.000 Überlebende auf ihre Ghetto-Rente, 9000 Vorgänge seien noch nicht bearbeitet. Die Deutsche Rentenversicherung dementierte sofort. Ihr Direktor Axel Reimann verwahrte sich gegen den Vorwurf einer "bürokratischen Verschleppungstaktik". Auch Andreas Storm, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, hält dagegen:

    "Die Behauptung, es seinen Fälle nicht bearbeitet worden, ist definitiv falsch. Die Rentenversicherungsträger haben hier in den vergangenen Monaten wirklich in sehr beachtlicher Weise gearbeitet. Es geht ja darum, dass es hoch betagte Menschen sind, wo wir wirklich alles unternehmen müssen, dass sie so schnell wie möglich die Leistungen bekommen können, und deshalb ist es in den letzten Monaten gelungen, bei einer sehr, sehr großen Zahl von Menschen auch eine positive Rentenbescheidung vornehmen zu können."

    Insgesamt, sagt Storm, hätten 57.000 Holocaust-Überlebende die Ghetto-Rente beantragt. Fast die Hälfte der Anträge, nämlich 26.000, kämen aus Israel. Davon, so Storm, seien bereits 20.000 Fälle "abgeschlossen". 10.000 ehemalige Ghetto-Arbeiter, die heute in Israel wohnen, erhielten bereits ihre Rente. Bleiben noch 6000 Anträge allein in Israel ohne Antwort von der Deutschen Rentenversicherung. Die Langsamkeit der deutschen Rentenbürokratie gefiel auch der israelischen Regierung nicht. Nach Informationen des "Spiegel" setzte die israelische Regierung das Thema auf die Tagesordnung bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen am 31. Januar in Jerusalem, um zu protestieren. Aber nach außen hin gibt sich Israel zufrieden. Aharon Mor, zuständiger Regierungsdirektor im Büro von Ministerpräsident Netanjahu, findet freundliche Worte.

    "Der Vizeminister Andreas Storm auf der anderen Seite ist sehr kommunikativ, sehr aktiv, initiiert viel. Unsere Sozialversicherung arbeitet gut mit der deutschen Sozialversicherung zusammen. Das wird immer schneller und effektiver, und es geht gut voran. Gleichzeitig wollen wir aber auch, dass dieses ganze Projekt so schnell wie möglich abgeschlossen wird, weil die Ghettoarbeiter uns schon fast unter den Händen wegsterben, in sehr schneller Folge."

    Die deutsche Bürokratie war nicht von Anfang so kooperativ wie in diesen Monaten. In den ersten Jahren nach Erlass des Ghetto-Renten-Gesetzes von 2002 erhielten 90 Prozent der Antragsteller negative Bescheide. Die Deutsche Rentenversicherung verlangte Belege über die geleistete Arbeit. Belege, die fast kein Mensch erbringen kann, der die Wirren des Weltkriegs - noch dazu im Ghetto - überlebt hat. Zudem sollten nach dem Willen der Behörde nur die Ghetto-Arbeiter Renten bekommen, die über 16 Jahre alt waren. Dabei gehörte Kinderarbeit in den Ghettos zum Alltag. Noach Flug, Vorsitzender des Dachverbandes für Organisationen der Holocaust-Überlebenden, geboren im polnischen Lodz, erinnert sich an das Verhalten der deutschen Rentenbehörden.

    "Es war ein gewisser Unwillen [der deutschen Rentenbehörden] - jedenfalls wurde so argumentiert: Du hast ein ganzes Leben bezahlt, und dann bekommst Du eine Rente. Aber die Leute, die in den Ghettos waren, konnten nicht bezahlen. Und auch die Betriebe haben ihren Anteil nicht bezahlt. Weil das die Nürnberger Gesetze waren, dass die Juden weniger waren als Untermenschen."

    Erst im Jahr 2009, nach einer Welle von Widersprüchen und Klagen, kam die Wende. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts muss das Gesetz nun liberaler ausgelegt werden. Der Direktor der Deutschen Rentenversicherung, Axel Reimann, sicherte Noach Flug vor einem halben Jahr die Bearbeitung der Anträge im Expresstempo zu:

    "Ich hatte ein Treffen mit dem Generaldirektor der deutschen Sozialversicherung, und er hat gesagt, er macht alles, um alle Anträge zu prüfen und hat versprochen, dass man bis Ende 2010 alle Anträge beantworten wird."

    Aber die Wirklichkeit sieht Monate danach für viele immer noch anders aus.

    "Ich hab keine Kraft, ich kann schlecht gehen. Ich brauche ein bisschen Hilfe. Ich kann nicht raus. Ich würde so gern etwas Luft schnappen. Diesen Fuß hab ich mir schon gebrochen, die Hand habe ich mir gebrochen. Ich falle hin."

    Bronja Izak zieht ihren rechten Strumpf aus. Zum Vorschein kommt ein verkrüppelter Fuß - die Folge von Erfrierungen, die sie im KZ Stutthof erlitten hat. Frau Izak braucht endlich einen Begleiter, der mit ihr spazieren geht, den sie von der Ghetto-Rente bezahlen kann. Aber der Weg dahin ist lang. Im August 2010 erhielt sie einen Brief von der Deutschen Rentenversicherung im Rheinland. Es fehlten nur noch eine "Lebensbescheinigung" und die sogenannte "Zahlungserklärung". Dann könne die Rente ausgezahlt werden. Frau Izak schrieb am 23. November 2010 zurück nach Düsseldorf:

    Sehr geehrte Damen und Herren, verzeihen Sie die Störung, aber ich habe an Sie meine Vordrucke im Juli 2010 geschickt und keine Nachricht bekommen. Ich habe Ihnen auch meine aktuelle Lebensbescheinigung geschickt. Ich warte mit Ungeduld auf positive Entscheidung meiner Angelegenheit. Ich danke im Voraus.

    Zwei Wochen später landete ein Schreiben der deutschen Renten-Bürokraten im Briefkasten von Bronja Izak, im Plattenbau-Viertel von Kirjat Jam. Es ist datiert auf den 30. November 2010.

    Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind (§ 66 SGB I). Mit Schreiben vom 17.8.2010 haben wir Sie gebeten, die folgenden Unterlagen vollständig ausgefüllt und gegebenenfalls bestätigt bei uns einzureichen: Lebensbescheinigung; Zahlungserklärung. Dieser Bitte sind Sie bisher nicht nachgekommen."

    Ein zweites Mal schickte Bronja Izak den Nachweis nach Düsseldorf, dass sie immer noch lebt, dazu die die "Zahlungserklärung" mit ihrer Kontonummer in Israel. Am 20. Januar schrieb die Düsseldorfer Rentenbehörde zurück, es fehle immer noch eine "Zahlungserklärung". Bronja Izak schickte das Papier zum dritten Mal nach Deutschland. - Jeder Briefwechsel bedeutet für sie eine große Anstrengung. Die "Lebensbescheinigung" musste sie mehrmals mühevoll und persönlich bei der Vertretung des israelischen Innenministeriums in Haifa besorgen. Von Bronja Izaks langwierigem Briefwechsel mit der Deutschen Rentenversicherung zeigte sich selbst Staatssekretär Andreas Storm vom Bundesarbeitsministerium erschüttert.

    "Ein solcher Fall, der darf eigentlich nicht auftreten, deshalb würde ich Sie auch bitten, uns den Vorgang noch mal zu geben."

    Auf einmal ging es ganz schnell. Einen Tag nach dem Interview mit Staatssekretär Storm, am 16. März, bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bronja Izaks Rente.

    Der Mann, der Bronja Izak schon früher hätte helfen könnte, heißt Chaim Kurt Sternschuss. Er ist 80 Jahre alt und arbeitet immer noch, als Angestellter der "Vereinigung für Rentenberechtigte aus der Bundesrepublik Deutschland". Sternschuss wurde in Tschernowitz geboren, das früher in Österreich und heute in der Ukraine liegt. Als 11-Jähriger kam er ins Ghetto, arbeitete auf Zuckerrüben- und Tabakfeldern. Sternschuss selbst bekommt eine Ghetto-Rente. Seit 24 Jahren stellt der frühere Direktor einer Bankfiliale in Israel auch für andere die Anträge auf die verschiedenen Renten für Holocaust-Überlebende - natürlich gegen Honorar. Chaim Kurt Sternschuss weiß alles über Fristen, zuständige Ämter in Deutschland und Israel, über die Voraussetzungen für einen Antrag und welche Belege man erbringen muss.

    "Hier ist ein Antrag, der gestellt wurde Ende 2010, im November. Er wurde im Oktober eingereicht, im November wurden alle Unterlagen nachgesandt, und dabei blieb es. Wir haben bekommen die verschiedenen Formulare, haben sie wieder ausgefüllt zusammen mit dem Antragsteller, und dabei blieb es. Wir hörten nichts über diese Sache. Wir haben viele solche."

    Die monatliche Ghetto-Rente falle ganz unterschiedlich aus, berichtet Sternschuss. Mancher Antragsteller bekomme 45 Euro monatlich, andere 300 Euro im Monat. Die Ghetto-Rente ist das jüngste und vielleicht letzte Kapitel in der Geschichte der Entschädigung der Holocaust-Opfer. Es besteht ein Gewirr der Behörden und Zuständigkeiten für die Entschädigung: von Freiheitsentzug, von Gesundheitsschäden, von Zwangsarbeit - und sogenannter "freiwilliger Arbeit" bei der Ghetto-Rente. In Israel leben heute noch 200.000 Überlebende. 125.000 von ihnen bekommen die unterschiedlichsten Spezial-Renten, zum Teil direkt aus Deutschland, zum Teil über israelische Behörden. In dem Gewirr spielt auch der Staat Israel eine - nicht immer rühmliche - Rolle. Denn nach dem Wiedergutmachungsabkommen von 1953 war für die Entschädigung nicht-deutscher Überlebender Israel zuständig. Die israelischen Behörden zahlen bis heute Entschädigungsrenten - aus Geldern, die sie aus Deutschland erhalten haben. Wer seinen Antrag zu spät stellte oder nach dem Stichdatum Oktober 1953 nach Israel eingewandert war, bekam jahrzehntelang überhaupt keine Entschädigung. Erst vor vier Jahren, im Jahr 2007, reagierte die israelische Regierung auf diesen Missstand. Der Vorwurf stand im Raum, der Staat Israel habe sich auf Kosten der Holocaust-Opfer bereichert.

    Schließlich reagierte die Regierung auf Protestdemonstrationen bettelarmer Shoah-Überlebender. Die Israelis, die in keine Renten-Kategorie passen, bekommen jetzt eine Entschädigung in Höhe von 200 bis 300 Euro monatlich vom Staat Israel ausbezahlt - zusätzlich zur üblichen Altersrente. Zudem gilt das Urteil der staatlich eingesetzten Kommission um die Richterin Dalia Dorner. Danach muss eine israelische Überlebenden-Zusatzrente mindestens 75 Prozent der entsprechenden deutschen Überlebendenrente betragen. Aharon Mor, zuständiger Regierungsdirektor im Büro von Ministerpräsident Netanjahu sieht die Versäumnisse des Staates:

    "Es wurde also viel getan - gleichwohl sagen manche, das sei nicht genug. Ja, ich glaube, dass mehr getan werden muss, und es ist unser großer Stolz, als Mitarbeiter der Regierung alle Schritte zu unternehmen, um den Überlebenden zu helfen und sie zu unterstützen."

    Dennoch leben immer noch ein Drittel der Shoah-Überlebenden in Israel nach Angaben von Mor unter dem Existenzminimum. Der Staat Israel hat auf diesen Missstand reagiert. Die Betroffenen bekommen die Krankenversorgung und Medikamente mittlerweile fast umsonst, Wasser und Strom zu ermäßigten Preisen. Am Ende treffen wir doch noch einen Mann, dem - wie es scheint - geholfen ist. Er heißt Chaim Bendersky und ist 84 Jahre alt. Er stammt aus der Ukraine und arbeitete im moldawischen Ghetto von Ribnica. Bendersky striegelte Pferde, schleppte Steine und Sand. Seit 20 Jahren lebt er in Israel. Auch er musste fast zwei Jahre warten, bis die Rente aus Deutschland kam. Heute erhält er jeden Monat 331 Euro Ghetto-Rente. Auf die Frage, ob er zufrieden sei, bedankt sich Chaim Bendersky. Ihm stehen die Tränen in den Augen.

    "Danke! Ich bin sehr zufrieden. Ich kann es mir leisten, mich am Toten Meer zu erholen. Ich habe genug Geld für Lebensmittel, Erholung, fürs Theater. Ich bin sehr dankbar, das ist wunderbar."

    Die Rente aus Deutschland bedeutet nicht nur eine materielle Hilfe, sondern auch eine Anerkennung für die geleistete Arbeit. Wie wichtig Anerkennung ist, weiß Noach Flug, der Mann aus Lodz, Sprecher der Überlebenden in Israel.

    "Das war sehr wichtig. Die Entschädigung war sehr wichtig für viele Leute, die überlebt haben. Man hat die beraubt. Die hatten niemanden. Die konnten jahrelang nicht lernen. Die haben sehr gelitten, und die hatten Gesundheits- und [andere] Schwierigkeiten, und für die Leute war es wichtig, dass sie eine Rente bekommen haben. Aber ich glaube, es war auch wichtig für Deutschland, dass man anerkannt hat, dass das ein anderes Deutschland ist als Nazi-Deutschland."

    Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Bronja Izak aus der Plattenbaustadt Kirjat Jam hat zu lange gewartet. Auf die Rente. Auf die Anerkennung ihrer Arbeit im Ghetto Schaulai. Auf die Frau, die mit ihr spazieren geht. Zu lange musste sie klagen:

    "Warum geben sie mir nicht die Geld? Alle geben sie es, allen. Was haben wir gemacht, was nicht gut ist? Warum, soll ich sterben? Es kommt die Zeit zum Sterben, heute, morgen oder übermorgen. Ich bin doch schon 84 Jahre alt."